Amnesty Journal 18. Mai 2020

Mehr Haft- als Lebenszeit

Ein Porträt der türkischen Menschenrechtsanwältin Eren Keskin liegt auf dem Boden neben einem Amnesty-International-Aktionsschild mit der Aufschrift "We stand with you".

Wegen ihrer Unterstützung für die prokurdische Zeitung "Özgür Gündem" drohen Eren Keskin lange Haftstrafen. Aus Solidarität hatte sie von 2013 bis Anfang 2016 symbolisch die Funktion der Chefredakteurin übernommen. Obwohl sie keinen Einfluss auf redaktionelle Entscheidungen hatte, haben die Behörden gegen sie über 140 Gerichtsverfahren eingeleitet.

International wurde die Menschenrechtsanwältin Eren Keskin mehrmals wegen ihres Engagements ausgezeichnet. In der Türkei liefen über 140 Gerichtsverfahren gegen sie.

Von Sabine Küper

Ein altes Pressefoto zeigt eine junge Frau vor einem ausgebombten Verlagshaus. In der Hand hält sie die Frontseite der dazugehörigen Tageszeitung Özgür Ülke – der Name bedeutet "Freies Land". Auf der Titelseite wird über die Verurteilung kurdischer Abgeordneter zu lebenslangen Haftstrafen berichtet. Das Foto wurde im Dezember 1994 im Istanbuler Stadtviertel Çağaloğlu aufgenommen, in dem damals mehrere Zeitungsverlage ihren Sitz hatten. Unbekannte hatten Bombenanschläge auf die prokurdische Tageszeitung Özgür Ülke und Parteigebäude der prokurdischen Demokratiepartei (DEP) verübt.

Eren Keskin kritisierte damals als junge Anwältin die Repression gegen die kurdische Minderheit. Im September 1994 wurde sie zum ersten Mal zu zwei Jahren Haft verurteilt, weil sie in einem Brief das Schweigen der internationalen Öffentlichkeit zu Menschenrechtsverletzungen an Kurden kritisiert und dabei das Wort "Kurdistan" benutzt hatte. Özgür Ülke wurde später verboten. Nachfolgepublikationen wie Ülke, Gündem und andere ereilte das gleiche Schicksal. Heute wie damals werden Journalisten eingeschüchtert, verhaftet, verurteilt und eingesperrt. Aus Solidarität mit der Zeitung Özgür Gündem, die im Oktober 2016 verboten wurde, hatte Keskin von 2013 bis Anfang 2016 symbolisch die Funktion der Chefredakteurin übernommen. Andere prominente Intellektuelle wie die Schriftstellerin Aslı Erdoğan publizierten dort zu Menschenrechtsthemen.

Mehr als 140 Gerichtsverfahren

Obwohl Keskin keinen Einfluss auf redaktionelle Entscheidungen nahm, leiteten die Behörden mehr als 140 Gerichtsverfahren gegen sie ein, zumeist wegen einzelner Artikel, die während ihrer Zeit als Chefredakteurin erschienen waren. Weitere Verfahren zu politischen Meinungsäußerungen werfen ihr Volksverhetzung, Unterstützung und Gründung von Terrororganisationen, Beleidigung des Staates, der Streitkräfte, des Präsidenten und der Werte des Volkes vor – die Liste ist lang.

Sollte die 60-jährige Rechtsanwältin verurteilt werden, würde ihre Lebenszeit nicht ausreichen, all die Haftstrafen zu verbüßen. In einigen Verfahren sind bereits in erster Instanz Urteile ergangen. Die dabei verhängten Strafen beliefen sich bis März 2020 bereits auf insgesamt 17 Jahre und zwei Monate Haft sowie auf 60.000 Euro Geldstrafen.
Keskin ist mehrfach für ihr menschenrechtliches Engagement ausgezeichnet worden: 2018 bekam sie den Helsinki Civil Society Award, 2017 den Hrant-Dink-Menschenrechtspreis und 2001 den Menschenrechtspreis von Amnesty International in Deutschland. Sie ist seit 1986 Mitglied des türkischen Menschenrechtsvereins IHD. 1997 gründete sie ein Rechtshilfeprojekt für Frauen, die von staatlichen Sicherheitskräften vergewaltigt oder auf andere Weise sexuell misshandelt wurden.

Verhört, beschimpft, verprügelt

Ihr Schwerpunkt liegt auf Minderheiten- und Frauenrechten. Sie wurde unzählige Male festgenommen, verhört, auf Demonstrationen verprügelt, als Terroristin beschimpft, ihre Wohnungen wurden durchsucht und verwüstet. Sie überlebte einen Attentatsversuch und war trotz Todesdrohungen nie versucht, die Türkei zu verlassen. Als Juristin gelang es ihr bislang immer, ­relativ geringe Haftzeiten durchzusetzen, und Berufsverbote ­sowie Ausschlüsse aus der Anwaltskammer zu überstehen.

Das liege vor allem daran, dass sie sich nie von Ideologien oder Parteien habe vereinnahmen lassen, meint sie selbst. "Ich bin Menschenrechtlerin, ich kann niemals Politikerin sein", betonte sie in einem Interview mit dem oppositionellen Online-Fernsehsender ARTI im Dezember. "Ich kann freier agieren, wenn ich mich als Individuum außerhalb jeglicher Machtstrukturen bewege."

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