Amnesty Report Vietnam 07. April 2021

Vietnam 2020

Menschen mit Plakaten vor einem Zaun

Berichtzeitraum: 01. Januar 2020 bis 31. Dezember 2020

Willkürliche Festnahmen und strafrechliche Verfolgungen von Menschenrechtsverteidiger_innen nahmen erheblich zu. Die Zahl der gewaltlosen politischen Gefangenen erreichte einen Höchststand. Insbesondere Personen, die sich online kritisch über die Regierung äußerten, wurden ins Visier genommen. Demokratie-Verfechter_innen, unabhängige Journalist_innen, Schriftsteller_innen und Verleger_innen waren anhaltenden Schikanen, tätlichen Angriffen, willkürlicher Strafverfolgung sowie Folter und anderen Misshandlungen in Polizeigewahrsam ausgesetzt. Die Behörden verhängten Todesurteile und vollstreckten diese auch. Gewalt gegen Frauen gab nach wie vor großen Anlass zur Sorge. Vietnams Vorgehen bei der Bekämpfung der Coronapandemie erntete aufgrund der effektiven Eindämmung des Virus viel Lob und Anerkennung. Behördliche Strafmaßnahmen für die Verbreitung von "Falschinformationen" über die Pandemie liefen jedoch oft auf willkürliche Einschränkungen des Rechts auf freie Meinungsäußerung hinaus.

Hintergrund

Im Vorfeld des 13. Nationalen Parteitags der Kommunistischen Partei Vietnams (KPV), der im Januar 2021 stattfinden soll, ging die Regierung gegen alle von der vorherrschenden Staatsdoktrin abweichenden Meinungen vor, während rivalisierende Politiker_innen und Fraktionen innerhalb der KPV um Machtpositionen konkurrierten. Vietnam ratifizierte im Juni 2020 das zwischen der EU und Vietnam abgeschlossene Freihandelsabkommen, das Verpflichtungen zur Einhaltung internationaler Menschenrechts- und Arbeitsstandards enthält.

Recht auf freie Meinungsäußerung

Die Behörden gingen auf breiter Front gegen das Recht auf freie Meinungsäußerung vor und nahmen dabei insbesondere Personen ins Visier, die sich online kritisch äußerten. Es gab einen merklichen Anstieg bei der Zensur von Online-Meinungsäußerungen sowie eine starke Zunahme von willkürlichen Festnahmen, Inhaftierungen und strafrechtlichen Verfolgungen von Personen im Zusammenhang mit ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung, sowohl online als auch offline. Journalist_innen und Schriftsteller_innen wurden gleichfalls ins Visier genommen. So kam es zu einer Reihe von Festnahmen und strafrechtlichen Verfolgungen, die das Liberale Verlagshaus (Liberal Publishing House) und die Unabhängige Journalist_innenvereinigung Vietnams (Independent Journalists Association) betrafen. Zwei Mitarbeiter_innen des lokalen und unabhängigen Liberalen Verlagshauses, das Bücher publiziert, die von der Regierung als politisch brisant eingestuft werden, wurden in Polizeigewahrsam in Ho-Chi-Minh-Stadt gefoltert.

Im April 2020 gab Facebook seine Entscheidung bekannt, den Forderungen der Behörden nach einer Zensur sogenannter "staatsfeindlicher" Inhalte auf seiner Plattform erheblich stärker nachzukommen. Dies bedeutete häufig, dass legitime Meinungsbekundungen unter Verletzung der internationalen Menschenrechtsnormen der Zensur zum Opfer fielen. Die Entscheidung von Facebook soll gefallen sein, nachdem die Behörden durch Drosselung von Facebook-Servern im Land Druck auf das Unternehmen ausgeübt hatten.

Menschenrechtsverteidiger_innen und andere Aktivist_innen zeigten sich alarmiert angesichts der inhaltlichen Einschränkungen, mit denen sie auf Anordnung der Behörden sowohl bei Facebook als auch bei Youtube konfrontiert waren. Dazu gehörten weitgehendes Geoblocking (regionale Sperrung politisch sensibler Inhalte), Profilblocking (Profilsperren für Nutzer_innen) sowie Kontensperrungen. Diese Maßnahmen reduzierten den Freiraum für kritische Meinungsäußerungen in Vietnam erheblich.

Am 3. Februar 2020 führten die Behörden Dekret 15/2020/ND-CP über Strafen bei administrativen Verstößen gegen die Vorschriften über Postdienste, Telekommunikation, Funkfrequenzen, Informationstechnologie und elektronische Transaktionen ein. Das "Dekret 15" ergänzte einen Rechtsrahmen, der das Recht auf freie Meinungsäußerung in hohem Maße untergrub. Das Dekret listet ein breites Spektrum von Ordnungswidrigkeiten sowohl für Internetbenutzer_innen als auch für Netzbetreiberunternehmen auf und sieht eine Reihe schwerer Strafen vor, die das Recht auf freie Meinungsäußerung und den freien Zugang zu Informationen bedrohen. Technologieunternehmen, die gegen das Dekret verstoßen, können mit der Aussetzung ihrer Betriebsgenehmigungen für bis zu zwei Jahre bestraft werden. Dekret 15 führte auch Strafen für Personen ein, die "Falschinformationen" in sozialen Netzwerken posten oder teilen. Diese Strafen können zusätzlich zu zivil- oder strafrechtlichen Sanktionen verhängt werden.

Von der Regierung geförderte "Cyber-Truppen" und "Meinungsmacher" gingen mit Online-Belästigung, Schikane, Trolling und massenhafter Verwendung der von sozialen Netzwerken angebotenen Funktion "Missbrauch melden" gegen Regierungskritiker_innen vor. Letzteres führte häufig zu Einschränkungen bezüglich Benutzung und Inhalt der Konten von Menschenrechtsverteidiger_innen. Menschenrechtsverteidiger_innen waren wegen ihrer Online-Aktivitäten zudem tätlichen Angriffen und anderen Formen von Bedrohung und Gewalt ausgesetzt.

Todesstrafe

Die Gerichte verhängten 2020 weiterhin Todesurteile, und im Laufe des Jahres fanden auch Hinrichtungen statt. Die Regierung setzte ihre Politik fort, Informationen im Zusammenhang mit der Todesstrafe als Staatsgeheimnis zu behandeln. Einzelheiten über zum Tode verurteilte Personen wie Geschlecht, Alter, ethnische Zugehörigkeit und Art der Straftat, die zum Todesurteil geführt hatte, waren nach wie vor nicht verfügbar. Im Dezember 2020 enthielt sich Vietnam bei einer Abstimmung in der UN-Generalversammlung über eine Resolution, die ein Moratorium für die Anwendung der Todesstrafe fordert.

Frauenrechte

Gewalt gegen Frauen blieb ein weitverbreitetes und anhaltendes Problem. Eine gemeinsam von der Regierung und den Vereinten Nationen durchgeführte Studie zeigte, dass fast zwei Drittel der verheirateten Frauen in ihrem Leben körperliche, sexualisierte oder emotionale Gewalt sowie wirtschaftliche Drohungen und kontrollierendes Verhalten durch ihre Ehemänner erfahren. Fast ein Drittel der Frauen berichtete, in den vorangegangenen zwölf Monaten einem derartigen Übergriff ausgesetzt gewesen zu sein. Die Zahl der wegen häuslicher Gewalt oder Misshandlung erstatteten Anzeigen war weiterhin extrem niedrig. Nur sehr wenige Frauen suchten Hilfe bei Behörden oder Beratungs- und Unterstützungsstellen.

Menschenrechtsverteidigerinnen waren weiterhin mit Schikanen, Diskriminierung und geschlechtsspezifischer Gewalt konfrontiert. Pham Doan Trang, eine bekannte Schriftstellerin und Menschenrechtsverteidigerin, wurde am 6. Oktober 2020 willkürlich festgenommen und auf Grundlage von Paragraf 117 des Strafgesetzbuchs angeklagt. Amnesty International betrachtet sie als gewaltlose politische Gefangene. Im Fall eines Schuldspruchs drohen ihr bis zu 20 Jahre Freiheitsentzug.

Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte

Regierungsstatistiken zufolge ist der Anteil an Haushalten unterhalb der Armutsgrenze an der Gesamtbevölkerung von 9,88 Prozent im Jahr 2015 auf 2,75 Prozent im Jahr 2020 gesunken. Der deutliche Rückgang zeigt, dass ein steigender Anteil der Bevölkerung das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard verwirklichen konnte. Eine zunehmende wirtschaftliche Ungleichheit bedrohte jedoch die nachhaltige Entwicklung des Landes.

Recht auf Gesundheit

Am 23. Januar 2020 meldete Vietnam seinen ersten Coronafall, woraufhin die Behörden strenge Maßnahmen ergriffen, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen. Zum Jahresende meldeten sie insgesamt 1.465 Covid-Erkrankungen und 35 Todesfälle. Während sich einige Maßnahmen zur Bekämpfung des Virus als weitgehend erfolgreich zum Schutz des Rechts auf Gesundheit erwiesen, gab es auch zahlreiche Fälle, in denen die Behörden im Rahmen ihrer Maßnahmen zur Eindämmung des Virus das Recht auf freie Meinungsäußerung unterdrückten. Mindestens zwei Frauen – Dinh Thi Thu Thuy und Ma Phung Ngoc Phu – wurden willkürlich festgenommen und angeklagt, weil sie sich öffentlich kritisch über den Umgang der Regierung mit dem Coronavirus geäußert hatten. Hunderte weitere Menschen wurden zu Geldstrafen verurteilt, weil sie in den sozialen Medien Kritik an der Reaktion der Regierung auf die Coronapandemie geübt hatten.

 

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