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Die Seite der Menschenrechte
Julia Duchrow, Generalsekretärin der deutschen Amnesty-Sektion
© Amnesty | Silke Weinsheimer
Angesichts der Eskalation der Gewalt in Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten ist es wichtiger denn je, sich auf die Seite der Menschenrechte zu stellen. Kolumne von Julia Duchrow, Generalsekretärin der deutschen Amnesty-Sektion.
Von Julia Duchrow
Auf welcher Seite stehst Du? Diese Frage schwingt stets mit, wenn über die Eskalation der Gewalt in Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten gesprochen wird. Ein Bekenntnis für die eine oder andere Seite ersetzt Empathie und Verstehen. Dabei blenden viele aus oder wehren ab, was die eigene Erzählung stört. "Universalistische Empathie erscheint gerade manchen so schwer wie jenes Verstehen, das Mühe macht (…), weil es genau sein will", schreibt die Philosophin und Autorin Carolin Emcke in ihrem aktuellen Essay "Was wahr ist".
Ich wollte es genau wissen und besuchte im Februar Israel und das Westjordanland. Ich traf freigelassene Geiseln, die die Hamas am 7. Oktober verschleppt hatte. Ich sprach mit Angehörigen von Entführten, die in Geiselhaft ausharren. Ich hörte Mitgliedern der israelischen Zivilgesellschaft und Menschenrechtsaktivist*innen in den besetzten palästinensischen Gebieten zu. Vielleicht ist das nicht repräsentativ, aber die allermeisten kritisierten die israelische Regierung und forderten einen Waffenstillstand.
Palästinenser*innen aus dem Westjordanland berichteten, an den Checkpoints noch stärker als früher Einschüchterungen und Gewalt ausgesetzt zu sein. Handys würden überprüft, häufig komme es zu willkürlichen Festnahmen, weil jemand sich auf Social Media kritisch zu den militärischen Angriffen Israels im Gazastreifen geäußert habe. Tatsächlich ist die Zahl der palästinensischen Gefangenen, die ohne Anklage in Administrativhaft sitzen, stark gestiegen. Die Menschen fühlen sich von der internationalen Gemeinschaft und insbesondere von Deutschland allein gelassen.
Das äußerten auch Aktivist*innen israelischer Menschenrechtsorganisationen. Sie berichteten von verschärfter Diffamierung und Repression, die ihre Arbeit unmöglich machten. Betroffen sind auch palästinensische Organisationen, vor allem jene sechs, die die israelische Regierung seit einigen Jahren als terroristisch einstuft. An dieser Einstufung gibt es große Zweifel, bislang auch vonseiten der Bundesregierung. Doch seit dem 7. Oktober scheint die Förderung wichtiger humanitärer und menschenrechtlicher Projekte dieser NGOs in weite Ferne gerückt.
All diese Realitäten spielen im politischen Diskurs in Deutschland, wenn überhaupt, eine kleine Rolle. Warum?
Mit ihrem brutalen Überfall haben die Hamas und andere bewaffnete Gruppen beispiellose Kriegsverbrechen begangen. Das Leid der Opfer dieses Angriffs ist durch nichts zu relativieren. Doch dasselbe gilt für den Horror, den seit einem halben Jahr die mehr als zwei Millionen Bewohner*innen des Gazastreifens erleiden. Am 26. Januar stellte der Internationale Gerichtshof fest, dass für sie eine reale und unmittelbare Gefahr des Völkermords besteht. Die Bundesregierung hält sich trotzdem mit öffentlicher Kritik an der israelischen Regierung zurück und unterstützt deren Vorgehen politisch und durch massiv intensivierte Waffenlieferungen auch militärisch.
Das Problem hat der deutsch-israelische Philosoph und diesjährige Leipziger Buchpreisträger Omri Boehm benannt: Politik wird heute zu oft im Namen einer Wir-Gruppe formuliert – wir Deutschen, wir Israelis, wir Palästinenser*innen. Das macht taub und blind für die Perspektiven der anderen. Boehm spricht sich für einen Universalismus aus, der sich dem Menschen an sich und damit der gesamten Menschheit verpflichtet fühlt.
Eine solche Haltung widersetzt sich Opferkonkurrenz und Identitätspolitik. Solidarität mit Israel darf nicht blind machen für Kriegsverbrechen der israelischen Armee. Für die Gewalt von Siedler*innen im Westjordanland. Für die Hasspropaganda, die Teile der israelischen Regierung verbreiten. Und für das Sterben und Leid Zehntausender Zivilist*innen in Gaza.
Wenn mich jemand fragt, auf welcher Seite ich stehe, dann antworte ich: auf der Seite der Menschenrechte.
Julia Duchrow ist Generalsekretärin von Amnesty International in Deutschland.