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Türkei nach Erdbeben: Menschen mit Behinderung bei humanitärer Hilfe vernachlässigt
Menschen mit Behinderung werden bei der internationalen humanitären Hilfe nach den verheerenden Erdbeben in der Türkei im Februar dieses Jahres übersehen. Das belegt ein neuer Bericht von Amnesty International.
Der Bericht "We all need dignity’: The exclusion of persons with disabilities in Türkiye’s earthquake response" dokumentiert, wie Menschen mit Behinderung in Notunterkünften leben, die aufgrund fehlender sanitärer Einrichtungen sowie fachlicher Unterstützung ihre Gesundheit gefährden und ihre Würde untergraben. Türkische Behörden und humanitäre Akteur*innen müssen dringend dafür sorgen, dass die humanitäre Hilfe allen Überlebenden, einschließlich Menschen mit Behinderung, zugutekommt.
+++ Anbei die Übersetzung der englischsprachigen Original-Pressemitteilung +++
Erdbeben in der Türkei: Amnesty kritisiert Vernachlässigung von Menschen mit Behinderung
Anfang Februar erschütterte ein schweres Erdbeben den Südosten der Türkei. Nach Regierungsangaben ist die Zahl der dabei getöteten Menschen in der Türkei auf knapp 51.000 gestiegen. Hunderttausende sind weiterhin obdachlos. Ein aktueller Amnesty-Bericht zeigt nun, dass Menschen mit Behinderung bei den humanitären Maßnahmen vernachlässigt werden. Ihre Gesundheit ist durch mangelnde sanitäre Einrichtungen und spezialisierte Unterstützung besonders gefährdet. Die türkischen Behörden müssen umgehend darauf reagieren und allen Menschen die notwendige humanitäre Hilfe zukommen lassen.
In der Türkei werden nach den verheerenden Erdbeben Menschen mit Behinderung in Notunterkünften von der humanitären Hilfe vernachlässigt. Dies kritisiert Amnesty in dem heute veröffentlichten Bericht mit dem Titel "'We all need dignity’: The exclusion of persons with disabilities in Türkiye’s earthquakes response".
Mehr als 51.000 Menschen wurden offiziellen Angaben zufolge bei den starken Erdbeben im Februar 2023 in der Türkei getötet und über 100.000 Menschen verletzt. Viele von ihnen verloren Gliedmaßen oder erlitten andere lebensverändernde Verletzungen. Schätzungsweise 3,3 Millionen Menschen haben ihr Zuhause verloren und sind nun Binnenvertriebene. Etwa 2,3 Millionen von ihnen leben seit der Katastrophe in Zeltlagern und Containersiedlungen. Laut einer gemeinsamen Einschätzung der türkischen Regierung und der Vereinten Nationen werden bis zu 70 Prozent der verletzten Überlebenden eine Behinderung haben.
"Die immense Notlage, mit der so viele Menschen nach den Erdbeben konfrontiert sind, wird für Menschen mit Behinderung durch die Vernachlässigung in der humanitären Hilfe noch verschärft", sagt Matthew Wells, stellvertretender Direktor für Forschung im Programm für Krisenreaktion bei Amnesty International.
"Die derzeitige Planung von Notunterkünften berücksichtigt nicht die speziellen Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung, um in Würde zu leben. Sie verhindert stattdessen den gleichberechtigten Zugang zu Hilfsmaßnahmen. Die türkische Regierung und humanitäre Akteur*innen, einschließlich internationaler Geber*innen, müssen sofort Maßnahmen ergreifen, um sicherzustellen, dass die humanitäre Hilfe für alle Überlebenden inklusiv ist, einschließlich Menschen mit Behinderung. Ihre Bedürfnisse müssen durch Bereitstellung dringend benötigter spezialisierter Unterstützung adressiert werden."
Ein Rollstuhl in einem Zeltlager in der türkischen Stadt Samandağ, das für die von dem Erdbeben betroffenen Menschen errichtet wurde (1. Februar 2023).
© Amnesty International
Amnesty International erkennt das Ausmaß und die Schwere der humanitären Krise infolge der Erdbeben an. Unabhängig von der Größe des Notfalls müssen die Rechte von Menschen mit Behinderung allerdings vollständig respektiert werden.
Der Amnesty-Bericht basiert in erster Linie auf Besuchen in den südlichen Provinzen der Türkei, darunter Adıyaman, Gaziantep, Hatay und Kahramanmaraş. Insgesamt wurden im März und April 2023 von Amnesty International 131 Interviews mit Überlebenden der Erdbeben durchgeführt, darunter 34 Menschen mit Behinderung. Die Interviewpartner*innen umfassten 19 Menschen mit verschiedenen Arten von Behinderungen, 26 Angehörige von Menschen mit Behinderung und 13 Helfer*innen, die an der humanitären Hilfe beteiligt waren.
Unzureichende Bedingungen in Notunterkünften
In allen 21 von Amnesty International besuchten Orten waren die gemeinschaftlichen Sanitäranlagen für Menschen mit eingeschränkter oder keiner Mobilität unzugänglich – ein weit verbreitetes Muster, das von Helfer*innen bestätigt wurde. Durch diesen Missstand sind viele auf Pflegekräfte und Hilfsmittel wie Windeln für Erwachsene angewiesen. Betroffene Personen berichteten von Schwierigkeiten, Privatsphäre und Würde unter diesen Umständen zu wahren.
Eine 48-jährige syrische Geflüchtete, der aufgrund von Diabetes das linke Bein und ein Teil des rechten Fußes amputiert wurde, berichtete: "Es gelingt mir nicht, die gemeinsamen Toiletten zu nutzen. Meine Angehörigen müssen mir helfen, von meinem Rollstuhl auf den Toilettensitz zu wechseln und danach die Toilette jedes Mal zu entleeren und zu reinigen... Wir alle brauchen ein bisschen Privatsphäre und Würde, aber das ist unter diesen Umständen sehr schwierig."
Nurcan, eine 32-jährige Frau mit körperlicher Behinderung, die von ihrer Familie zu den Einrichtungen im Lager getragen wird, sagte: "Ich kann die Toilette nicht benutzen. Ich kann nicht duschen... Ich kann nicht gut essen. Ich habe Angst, dass ich hier genauso esse wie vorher und dann zur Toilette [getragen werden] muss."
Amnesty sprach mit einem 13-jährigen Mädchen, dessen Mutter bei einem Erdbeben ums Leben kam. Die 13-Jährige verlor ihr rechtes Bein. Auch sie berichtete Amnesty von ihren Erfahrungen: Sie ist gezwungen, Windeln zu tragen und ist auf ihre 18-jährige Schwester angewiesen, um sie zu versorgen und zu reinigen. Ihre Schwester sagte: "Sie kann die Toilette nicht benutzen, weil sie zu instabil ist und ein Sturz für ihre Amputationswunde sehr gefährlich wäre."
Diese Notfallmaßnahmen erfüllen nicht die menschenrechtlichen Verpflichtungen sowie die humanitären Prinzipien der Inklusion und Nichtdiskriminierung. Fast alle Menschen mit Behinderung, die von Amnesty International interviewt wurden – einschließlich ältere Menschen mit eingeschränkter Mobilität – waren darauf angewiesen, dass ihre Angehörigen Lebensmittel und andere Hilfsgüter wie Hygieneartikel von Verteilungspunkten abholten.
Dringender Bedarf an spezialisierter Gesundheitsversorgung
Amnesty International dokumentierte das Fehlen geeigneter Hilfsmittel, zum Beispiel Rollstühle, und die Unterbrechung von spezialisierter Versorgung. Bahir Ghazi, 58, der in einem Lager für Vertriebene im Zentrum von Antakya lebt, berichtete, dass seine beiden Töchter mit körperlichen Behinderungen im Alter von 22 und 32 Jahren zweimal pro Woche ein Rehabilitationszentrum besuchten. Das Zentrum ist jedoch während des Erdbebens eingestürzt. Es wurde noch keine Alternative bereitgestellt.
Die Erdbeben führten zu massiven Unterbrechungen von Gesundheitsdiensten, einschließlich solcher für Menschen mit Behinderung. Auch medizinische Einrichtungen und Gebäude stürzten ein oder trugen schwere Schäden davon. Medizinisches Personal wurde getötet, verletzt oder wurde durch die Katastrophe zur Flucht gezwungen.
Amnesty International stellte auch fest, dass ein dringender Bedarf besteht, psychische Gesundheits- und psychosoziale Unterstützungsdienste auszuweiten, um bestehenden und sich entwickelnden Bedürfnissen gerecht zu werden.
Fadime Cetin, 51, ist eine Krebspatientin, die ihren Ehemann mit Alzheimer-Krankheit und zwei Kindern mit Behinderung unterstützt. Sie erzählte Amnesty International, wie ihre Familie fünf Tage nach dem Einsturz ihres dreistöckigen Gebäudes in der Stadt Kahramanmaraş unter den Trümmern hervorgezogen wurde, wobei mehrere Familienmitglieder ums Leben kamen.
Fadime sagte, dass die Sicherheit ihres 17-jährigen Sohnes, der an einer psychischen Erkrankung leidet, besorgniserregend ist. Sie sagte: "Manchmal greift er nach den Kopftüchern von Frauen... Wenn er solche Dinge tut, schlagen ihn [Leute] und beleidigen ihn." Außerdem berichtete die Mutter, dass ihr Sohn manchmal in der Nähe ihres provisorischen Lagerplatzes auf der Straße umherwandert und sich mitten im Verkehr hinsetzt. Als Ergebnis fühlt sie sich gezwungen, einen Fuß des Jungen tagsüber an eine Holzpalette vor ihrem Zelt zu binden, um seine Bewegungen einzuschränken. Sie fügte hinzu: "In unserem Haus haben wir ihn früher nicht festgebunden. Er war zuhause frei."
Melek, 35, lebt derzeit mit ihren drei Kindern und Schwiegereltern in einem Zeltlager in Narli außerhalb der Stadt Kahramanmaraş. Sie beschrieb, wie ihre fünfjährige Tochter seit dem Erdbeben Anzeichen von Stress zeigt, einschließlich des Sprechens im Schlaf. Melek sagte: "Manchmal, wenn ich sie aufwecke, um auf die Toilette zu gehen, fragt sie mich als Erstes: 'Gab es ein Erdbeben?'"
Inklusive humanitäre Hilfe erforderlich
Als Vertragsstaat des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderung ist die türkische Regierung verpflichtet, Maßnahmen zur Förderung, zum Schutz und zur Gewährleistung des vollen und gleichberechtigten Genusses aller Menschenrechte und Grundfreiheiten durch alle Menschen mit Behinderung zu ergreifen.
Die türkische Regierung und die Akteur*innen der humanitären Hilfe müssen dafür sorgen, dass Menschen mit Behinderung und ihre Betreuer*innen angemessen unterstützt werden. Es müssen unter anderem sanitäre Einrichtungen zugänglich gemacht und die Bereitstellung von Hilfsgütern verbessert werden. Dazu gehört auch die systematische Erhebung und Analyse von nach Alter, Geschlecht und Behinderung aufgeschlüsselten Daten, die den an der Nothilfe beteiligten humanitären Akteur*innen zur Verfügung gestellt werden sollten. Nur so kann eine angemessene und effiziente bedarfsgerechte Versorgung gewährleistet werden.
"Es gibt eindeutig grundlegende Mängel bei der Unterstützung von Menschen mit Behinderung nach den Erdbeben. Die Auswirkungen dieser humanitären Katastrophe werden über Generationen hinweg zu spüren sein. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass Menschen mit Behinderung gleichberechtigten Zugang zu Einrichtungen und Dienstleistungen haben", sagte Nils Muižnieks, Direktor des Regionalbüros Europa von Amnesty International.
"Internationale Geber*innen müssen mehr tun, um die humanitäre Hilfe in der Türkei während dieser beispiellosen Krise zu unterstützen und die technische und finanzielle Hilfe aufzustocken, auch um die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung sofort zu erfüllen."