Aktuell Türkei 19. Juni 2025

Proteste in der Türkei: Rechtswidrige Polizeigewalt und Foltervorwürfe müssen untersucht werden

Eine Situation bei Nacht: Schwer bewaffnete Polizisten sprühen Pfefferspray auf Protestierende

Brutaler Polizeieinsatz: Einsatzkräfte der türkischen Polizei gehen in Istanbul mit Pfefferspray gegen Demonstrierende vor (21. März 2025).

Schlagstöcke, Tränengas, Plastik- und Gummigeschosse. Während der Proteste in der Türkei im März 2025 wurden Tausende friedliche Demonstrierende Opfer von unverhältnismäßiger und rechtswidriger Polizeigewalt. Nach neuen Recherchen von Amnesty stellen die dokumentierten Gewalttaten grausame, unmenschliche und erniedrigende Behandlung dar und können in manchen Fällen als Folter eingestuft werden. Die türkischen Behörden müssen diese Menschenrechtsverletzungen unabhängig und transparent untersuchen, um die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.

Pfefferspray brannte in ihren Augen, Menschen schrien: "Ich kann nicht atmen!" Mert* lag am Boden, eingeklemmt unter anderen. Als er sich aufrichten konnte, sprühten Polizist*innen aus nächster Nähe Pfefferspray auf ihn, ein Schlagstock traf ihn in den Magen. Seine Freundin Derya*, die in jener Nacht mit ihm protestierte, versuchte zu fliehen. Sie verlor einen Schuh, rannte um ihr Leben, bis eine Ordnungskraft sie an den Haaren packte und zu Boden warf. Egal, wohin die beiden Jugendlichen an jenem Abend am 23. März 2025 im Istanbuler Park Saraçhane flohen, die Polizei war da – mit Gewalt, Tränengas und Schlagstöcken.  

Mert und Derya sind nicht die einzigen, die bei den Protesten in der Türkei im März 2025 Gewalt und sogar Misshandlungen, bis hin zu Folter, erfahren haben. In einem neuen Bericht hat Amnesty dokumentiert, wie Einsatzkräfte bei den Protesten zwischen dem 19. und 26. März auf friedliche Demonstrierenden einschlugen, sie traten und über den Boden schleppten. 

Viele Protestierende mussten im Krankenhaus behandelt werden

Mit Wasserwerfern, Pfefferspray, Tränengas und Gummigeschossen zielten sie aus nächster Nähe direkt auf Kopf und Oberkörper, was zahlreiche Verletzungen verursachte. Viele Betroffene mussten anschließend im Krankenhaus behandelt werden. Diese Angriffe verletzten nicht nur das Recht auf friedlichen Protest, sondern verstießen in einigen Fällen auch gegen das absolute Verbot von Folter und unmenschlicher Behandlung – eines der grundlegenden Prinzipien der Menschenrechte. 

"Die dokumentierten Fälle von rechtswidriger Gewalt gegen friedlich Demonstrierende durch die türkische Polizei stellen eine grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung dar. In manchen Fällen kommen die Verletzungen womöglich Folter gleich. Die türkischen Behörden müssen sicherstellen, dass alle Vorwürfe vollumfänglich untersucht und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden", sagt Carmen Traute, Expertin für Europa und Zentralasien bei Amnesty International in Deutschland.   

Die Proteste entzündeten sich an der Inhaftierung von Ekrem İmamoğlu. Ekrem İmamoğlu war zu diesem Zeitpunkt Oberbürgermeister von Istanbul und ist Präsidentschaftskandidat der Oppositionspartei CHP in der Türkei. Er wurde am 19. März 2025 festgenommen und kam am 23. März in Untersuchungshaft – genau an dem Tag, als über 15 Millionen Menschen in der Türkei ihn in einer symbolischen Wahl als Kandidat für die nächsten Präsidentschaftswahlen 2028 nominiert hatten. Ekrem İmamoğlu gilt aussichtsreichster politischer Herausforderer des türkischen Präsidenten Erdoğan. 

Viele Menschen mit Protestplakaten

Studierende in Istanbul protestieren am 20. März 2025 gegen die Inhaftierung des Oppositionspolitikers Ekrem İmamoğlu. 

Proteste im März 2025: Repression und Haft für Protestierende und Journalist*innen 

Die jüngsten Recherchen von Amnesty legen offen, wie die türkische Polizei systematisch Menschenrechte missachtete und Demonstrationen brutal unterdrückte. Türkische Behörden gingen im ganzen Land mit verschiedenen Maßnahmen gegen Protestierende und auch Medienschaffende vor:  

  • Festnahmen: Zwischen dem 19. und 26. März wurden landesweit 1.879 Personen während oder nach den Protesten festgenommen.
  • Untersuchungshaft: Über 300 Personen, vor allem Studierende aus Städten wie Istanbul, Ankara und Izmir, wurden bis Ende März in Untersuchungshaft genommen.
  • Gerichtliche Kontrollmaßnahmen: Hunderte weitere Personen wurden mit Hausarrest, Auslandsreiseverboten und Meldepflichten belegt.   

X, YouTube und TikTok: Wie türkische Behörden die Informations- und Pressefreiheit einschränkten 

Während der ersten beiden Protesttage gab es laut der Organisation NetBlocks außerdem strikte Beschränkungen für soziale Medien und Messaging-Apps, angeordnet von den Behörden. Plattformen wie X (ehemals Twitter), YouTube, Instagram, Facebook, TikTok sowie Telegram, Signal und WhatsApp waren davon betroffen. Wegen der Einschränkungen war der Zugang zu Nachrichten und Informationen erheblich eingeschränkt.   

Auch Journalist*innen blieben nicht verschont: In Istanbul wurden am 24. März 2025 sieben Medienschaffende in ihren Wohnungen festgenommen. Zusammen mit einem weiteren Journalisten, gegen den ein Haftbefehl bestand, wurden sie wegen angeblicher Verstöße gegen das Gesetz Nr. 2911 (Versammlungs- und Demonstrationsgesetz) angeklagt. Auch mindestens vier Anwält*innen, die an den Kundgebungen in Istanbul teilnahmen, wurden nach Gesetz Nr. 2911 angeklagt.  

Das Gesetz Nr. 2911 regelt die Durchführung von Versammlungen und Demonstrationen. Es wird von den türkischen Behörden jedoch auch eingesetzt, um Versammlungen einzuschränken oder zu verbieten wie zum Beispiel LGBTI-Veranstaltungen. Auch für das Jahr 2025 drohen in der Türkei erneut Einschränkungen für Pride-Veranstaltungen. Amnesty International hat deshalb eine Urgent Action gestartet, um die Durchführung der Veranstaltungen zu fordern.

Amnesty-Posting auf X (ehemals Twitter):

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Systematischer Angriff auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit

"Die Fälle unverhältnismäßiger Gewaltanwendung waren keine Einzelfälle, sondern scheinen ein Muster widerzuspiegeln: Ordnungskräfte gingen systematisch gegen Menschen vor, die friedlich protestierten, zuschauten oder versuchten, sich zu von Demonstrationen zu entfernen", sagt Carmen Traute. "Diese Verstöße sind die jüngsten in einer Reihe von anhaltenden und ungeheuerlichen Repressionen gegen friedliche Meinungsäußerungen."   

Amnesty fordert die türkischen Behörden auf, dafür zu sorgen, dass diese Vorfälle umfassend und unabhängig untersucht werden, die Täter*innen vor Gericht gestellt und die Betroffenen für das ihnen zugefügte Leid entschädigt werden. 

*Name geändert

So hat Amnesty die Gewalt durch türkische Polizeikräfte dokumentiert:

1. Gesammelte Zeug*innenaussagen

Amnesty sammelte 16 Zeuge*innenaussagen von Protestierenden, die bei den Protesten zwischen dem 19. und 26. März rechtswidrige Polizeigewalt erlebten.  

2. Interviews mit Anwält*innen

Amnesty sprach mit mehreren Anwält*innen von Protestierenden, deren Rechte durch die Polizei verletzt wurden.

3. Prüfung gerichtlicher Entscheidungen

Amnesty überprüfte 36 Entscheidungen der Strafgerichtsämter in Istanbul. Dabei schilderten mindestens 32 Protestierende und/oder deren Anwält*innen Misshandlungen durch die Polizei.  

4. Analyse von Videomaterial

Das Evidence Lab von Amnesty International analysierte und verifizierte 53 Videos. Das Material stammt aus Medienberichten und sozialen Medien und zeigt Polizeigewalt bei Protesten in Istanbul, İzmir, Ankara, Aydın, Bursa und weiteren Städten in der Türkei.

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