Amnesty Journal Deutschland 21. Januar 2016

"Es muss viel mehr getan werden"

"Es muss viel mehr getan werden"

"De facto haben alle Nachbarstaaten Syriens ihre Grenzen geschlossen." Amnesty Expertin Khairunissa Dhala

Syriens Nachbarländer bieten Flüchtlingen Schutz. Mangelnde internationale Hilfe verschärft die Bedingungen, sagt Amnesty-Expertin Khairunissa Dhaka.

Interview: Andreas Koob

Auch in den Anrainerstaaten Syriens herrscht gegenwärtig Winter. Sie waren zuletzt in Jordanien. Wie ist die Situation dort?

Die Mehrheit der Flüchtlinge lebt in den Städten, nicht in Flüchtlingslagern, wie meist fälschlicherweise angenommen wird. Das ist wichtig zu betonen: Denn die Flüchtlinge in den Städten erhalten weniger Unterstützung als jene in den Flüchtlingslagern – sie sind weit verstreut und Unterstützung ist für sie meist nicht zugänglich. Für viele ist es ein Überlebenskampf – ohne oder mit wenig humanitärer Hilfe von Seiten der internationalen Gemeinschaft. Auch viele Flüchtlingskinder müssen jetzt arbeiten. Das ist einer von vielen schlechten Bewältigungsmechanismen, die inzwischen gang und gäbe sind.

Seit Jahren fliehen Millionen Menschen in Syriens Nachbarstaaten. Wie hat sich die Situation entwickelt?

Im März geht die Krise in Syrien ins sechste Jahr und die ­Situation in den Hauptaufnahmeländern wird immer schwieriger. Die Türkei, der Libanon und Jordanien haben mehr als vier Millionen Menschen aufgenommen. Viele von ihnen leben in extremer Armut – ohne Zugang zu Gesundheitsversorgung, ­Bildung oder Obdach. Mehr als die Hälfte der schulpflichtigen Kinder geht nicht zur Schule – das ist eine alarmierende Zahl von Kindern, die keine Bildung erhalten. Viele Flüchtlinge, die anfangs auf eigene Rücklagen zurückgriffen, ­haben diese inzwischen aufgebraucht.

Schutzsuchende durften die Grenze zu Jordanien zuletzt nicht mehr überqueren, auch aus der Türkei wurden Menschen ­unmittelbar nach Syrien abgeschoben. Wie sieht die Lage an Syriens Grenzen aus?

De facto haben alle Nachbarstaaten Syriens ihre Grenzen ­geschlossen. Momentan befinden sich 12.000 syrische Flüchtlinge im "Niemandsland" an der syrisch-jordanischen Grenze unter unhaltbaren Bedingungen – ohne Nahrungsmittel, Trinkwasser, Schutz oder medizinische Versorgung. Auch Hochschwangere, kleine Kinder und Alte warten wochenlang darauf, nach Jordanien zu gelangen. Und je mehr sich der Konflikt in ­Syrien zuspitzt, umso mehr wartende Menschen werden hinzukommen.

In den vergangenen Monaten kehrten auch Tausende syrische Flüchtlinge freiwillig aus Jordanien nach Syrien zurück.

Im August und September 2015 berichtete das UNHCR von mehr und mehr syrischen Flüchtlingen, die freiwillig aus Jordanien in ihre Heimat zurückkehrten. Auslöser dafür sind nicht zuletzt die schwindenden Gelder der Staatengemeinschaft für humanitäre Hilfe. Wegen starker Unterfinanzierung kam es zu drastischen Einschnitten beim UNO-Welternährungsprogramm: So standen für syrische Flüchtlinge zeitweise nur noch sieben US-Dollar im Monat zur Verfügung – anstatt 14 US-Dollar. Angesichts von ­Perspektivlosigkeit und Arbeitsverbot entschieden sich einige dafür, ins syrische Konfliktgebiet zurückzukehren.

Wie ernst ist die Lage in Anbetracht der fehlenden Gelder?

Der UNO-Hilfsplan für die Syrienkrise war bis zum Jahres­ende 2015 nur zur Hälfte finanziert. Das zwingt humanitäre ­Organisationen zu schwierigen Entscheidungen bei der Versorgung – dazu zählen auch Einschnitte bei den Essensgutscheinen und bei der Bargeldunterstützung der besonders Schutzbedürftigen. Nicht zuletzt führt es dazu, dass Flüchtlinge ihr Leben riskieren, indem sie entweder nach Syrien zurückkehren oder versuchen, irregulär nach Europa einzureisen.

Jeder fünfte Mensch, der im Libanon lebt, ist ein syrischer Flüchtling. Wie arrangiert sich die Mehrheitsgesellschaft ­damit?

Der Libanon und die anderen Nachbarstaaten Syriens haben sich in der Vergangenheit unglaublich großzügig verhalten. Gerade zu Beginn des Konflikts, als viele Personen Flüchtlinge aus Syrien bei sich zu Hause aufnahmen. Im Laufe der Zeit und in Anbetracht der knappen Ressourcen nehmen die Spannungen allerdings zu. Die Länder stoßen an die Grenzen ihrer Belastbarkeit. Die internationale Gemeinschaft ist deshalb jetzt in der Pflicht, die Länder bei der Aufnahme der Flüchtlinge zu unterstützen.

Innerhalb der EU scheint sich kein Konsens zu finden, mehr Flüchtlinge adäquat zu verteilen und zu versorgen. Wie bewerten Sie die Rolle Europas?

Die verzweifelte Lage und all die Missstände, denen die Flüchtlinge im Syrienkonflikt ausgesetzt sind – das haben die Verantwortlichen in den reichsten Ländern der Welt wohl noch immer nicht realisiert, das gilt auch für einige europäische ­Länder. Auch wenn es Medien und Politik gegenwärtig anders darstellen: Noch immer leben die meisten Flüchtlinge in den Anrainerstaaten Syriens. Es kann und muss viel mehr getan werden, um sicherzustellen, dass es für syrische Flüchtlinge ­sichere Optionen und legale Wege nach Europa gibt.

Der Diskurs scheint festgefahren. Wie lässt sich Bewegung in die Debatte bringen?

Die Debatte kann sich grundlegend verändern. 2015 gab es sehr inspirierende Geschichten, von aktiven Freiwilligen, die Flüchtlinge willkommen hießen und sie bei ihrer Ankunft in ­Europa unterstützten. Das ist ein wichtiges Moment, wenn ­Menschen – ob in Europa oder anderswo – signalisieren, dass sie bereit sind, Flüchtlinge in ihrem Land aufzunehmen.

Gleichzeitig verschärfte etwa die deutsche Politik das Asylrecht und diskutierte auch darüber, den Nachzug von syrischen Familienangehörigen zu erschweren. Ist das legitim?

Deutschland hat syrische Flüchtlinge großzügig aufgenommen – etwa auch im Rahmen von Aufnahmeprogrammen. Jedoch kann und muss mehr geschehen: Die europäischen Länder müssen die schutzbedürftigsten Flüchtlinge aufnehmen, sichere und legale Routen nach Europa möglich machen und auch Familienangehörige aufnehmen. Gerade eine Einschränkung des Familiennachzugs bei syrischen Flüchtlingen wäre der falsche Weg und gefährdet Menschenleben. Auch andere innenpolitische Asylrechtsverschärfungen, die die Qualität der Asylverfahren mindern, lehnt Amnesty ab.

Während Flüchtlinge aus Syrien in Deutschland als schutzbedürftig gelten, gilt dies für Menschen vom Balkan und auch aus Afghanistan nicht oder kaum mehr. Was halten Sie davon?

Syrien braucht unsere Aufmerksamkeit, allerdings im gleichen Maße wie auch langjährige Flüchtlingskrisen. Menschen, die Asyl suchen, sollten wegen ihrer Nationalität weder diskriminiert noch bevorzugt werden. Wer vor Verfolgung, Gewalt und anderen Menschenrechtsverletzungen flieht, sollte als Asylsuchender anerkannt werden und die gleichen Rechte genießen.

Khairunissa Dhala ist Amnesty-Researcherin für Flucht und Migration. Seit 2013 dokumentiert sie speziell die Lage syrischer Flüchtlinge in den Hauptaufnahmeländern und berichtete wiederholt aus Jordanien, dem Libanon und dem Irak.

Infokasten: Klamme Helfer
2015 veranschlagte das UNHCR für seinen "Regional ­Refugee Response Plan" eine Summe von 4,32 Milliarden US-Dollar, um syrische Flüchtlinge in den Nachbarländern zu unterstützen. Lediglich 58 Prozent dieses Bedarfs waren bis Ende 2015 durch Gelder der internationalen Gemeinschaft und private Spenden gedeckt. Im Sommer 2015 mussten Hilfen des Welternährungsprogramms wegen Geldmangels massiv gekürzt werden. Der größte Beitragszahler waren die USA mit 281 Millionen US-Dollar, gefolgt von Kuwait und Großbritannien. Viele der versprochenen Gelder wurden nie gezahlt. Für Februar 2016 ist eine weitere internationale Geberkonferenz in London geplant.

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