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Stadt der verschwundenen Frauen
"Selbstbewusstsein." Schülerinnen in Ecatepec.
© Rodrigo Jardón
Rund um Mexiko-Stadt werden seit Jahren immer mehr Frauen ermordet. Fast alle Verbrechen bleiben ungesühnt, weil korrupte Beamte und Drogenkartelle die Aufklärung verhindern. Doch die Bewohner der verarmten Stadtteile wehren sich nun selbst gegen die Gewalt und setzen die Politik unter Druck.
Von Kathrin Zeiske
Irinea Buendía erhielt den Anruf am frühen Morgen. "Deine Tochter hat sich erhängt", sagte ihr Schwiegersohn lapidar. Den Körper ihrer Tochter Mariana fand sie mit blauen Flecken und Schrammen übersät auf dem Bett liegen. Viele weitere Ungereimtheiten am Tatort wiesen auf einen Mord hin. Die Polizei jedoch übernahm die Version des Ehemannes von einem Selbstmord. Dass dieser, ebenfalls ein Polizist, immer wieder geäußert hatte, dass er seine Frau töten werde, interessierte die Beamten nicht. Ebenso wenig, dass Mariana keineswegs depressiv war, sondern kurz vor ihrem Tod angekündigt hatte, die gewalttätige Beziehung zu beenden.
Mariana Lima lächelt von jedem Foto herab, das im verwinkelten Haus ihrer Eltern in Nezahualcóyotl hängt. Nezahualcóyotl ist eine der riesigen Gemeinden, die in den vergangenen Jahrzehnten an den Hügeln rings um Mexiko-Stadt entstanden sind. Vor allem Menschen vom Land zogen hierher, um ein neues Leben zu beginnen. 16 Millionen Einwohner zählt der Bundesstaat Mexiko mittlerweile, der die Hauptstadt mit fast 21 Millionen Bewohnern hufeisenförmig umfasst.
Nezahualcóyotl, Chimalhuacán, Ecatepec, Tlalnepantla, Chalco – dichtbesiedelte Ballungszentren voller Menschen, von denen viele nahe am Existenzminimum leben. Sie kaufen in der Hauptstadt chinesische Billigprodukte wie Babykleidung oder Plastikmöbel ein, um die Waren dann in der Peripherie weiterzuverkaufen: Auch Mariana Limas Eltern haben ihr Leben lang gearbeitet, um ihren Kindern ein Studium zu ermöglichen. Ihr Haus bauten sie in Etappen. Sobald Geld vorhanden war, kam ein weiteres Zimmer hinzu. Kürzlich wurde bei ihnen eingebrochen. Ihren ehemaligen Schwiegersohn sehen sie derweil in der Nachbarschaft patrouillieren.
Einschüchtern lassen sich die beiden dennoch nicht. "Man hat uns eine Abfindung angeboten, um endlich zu schweigen. Als ob meine Tochter einen Preis hätte", sagt Irinea Buendía wütend. "Wir wollen Gerechtigkeit. Wenigstens das." Der Fall Mariana Lima Buendía wäre vermutlich wie viele andere Fälle, bei denen es um Gewalt gegen Frauen geht, zu den Akten gelegt worden. Die Polizisten sagten ihrer Mutter, sie solle bloß keine anderen Instanzen einschalten. Das würde "effektiven Untersuchungen" entgegenwirken. Die resolute Frau hielt sich nicht daran und zog mit Hilfe von Nichtregierungsorganisationen vor den Obersten Gerichtshof. Im März 2015 entschied das Gericht, dass der Fall neu aufgerollt werden müsse.
Eine Verfügung mit weitreichender Bedeutung. Das Gericht machte auch deutlich, dass nun bei allen Gewaltverbrechen gegen Frauen ermittelt werden müsse, ob die Tat aus geschlechtsspezifischen Motiven begangen wurde. "Ein bahnbrechendes Urteil in einem Land, in dem jeden Tag sechs Frauen umgebracht werden", so María de la Luz Estrada, Direktorin des Netzwerks "Observatorio Ciudadano Nacional del Feminicidio". Die zivilgesellschaftliche Beobachtungsstelle dokumentiert sämtliche Frauenmorde im Land – eine Arbeit, die von Regierungsseite nicht geleistet wird. "Hassmorde gegen Frauen werden in Mexiko seit fast einem Vierteljahrhundert nicht sanktioniert", konstatiert Estrada.
Seit Anfang der neunziger Jahre machen die Femizide von Ciudad Juárez weltweit Schlagzeilen. Junge Arbeiterinnen wurden entführt, vergewaltigt und umgebracht. Mütter von Ermordeten organisierten sich und brachten den sogenannten "Fall des Baumwollfeldes" vor den Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof. Dieser verurteilte den mexikanischen Staat wegen Vereitelung der Strafaufklärung. "Doch die Straflosigkeit setzt sich fort und heute geschehen Frauenmorde im ganzen Land", erklärt die Soziologin. "Meistens dort, wo ähnliche Bedingungen wie in der nördlichen Grenzstadt herrschen." Wo Industrialisierung und Verstädterung einen Wandel traditioneller Rollenbilder bringen und wo der daraus folgende soziale Aufstieg von Frauen durch Gewaltakte im öffentlichen wie privaten Raum torpediert wird. Wie im Bundesstaat Mexiko, dessen Femizidzahlen die von Juárez weit übertreffen.
Schon im Jahr 2010 forderte die Beobachtungsstelle die mexikanische Regierung auf, dort einen "Alarm wegen Gendergewalt" auszurufen, "angesichts von 900 ermordeten Frauen, von unzähligen verschwundenen Mädchen, von hohen Zahlen häuslicher Gewalt und sexueller Übergriffe". María de la Luz Estradas Stimme klingt fest, doch ihre Mimik verrät ihre Betroffenheit. Im Innenhof der Organisation scheint die Sonne auf eine efeuüberrankte Natursteinmauer. Hier im kolonialen Viertel Coyoacán, im Süden von Mexiko-Stadt, scheinen Estradas Erzählungen von ermordeten Mädchen und zerstückelten Frauenleichen, die wie Trophäen ausgestellt werden, wie aus einer anderen Welt zu stammen. Doch keine zwei Fahrtstunden entfernt sind solche Verbrechen Alltag.
Selbstkopierte Suchanzeigen
Mehrspurige Straßen führen aus der Hauptstadt in den Bundesstaat Mexiko, an denen unzählige Werbetafeln zu einem großen Puzzle aus Buchstaben und Farben verschmelzen. Eine Plakatwand zeigt eine glückliche Braut in weißem Kleid. Gleich daneben, an Betonsäulen, die Brückenköpfe tragen, kleben selbstkopierte Suchanzeigen verschwundener Mädchen. Auch sie lächeln. Sie sind 14, 17 oder 21 Jahre alt, haben lange schwarze Haare und ebenmäßige Gesichter. Viele sind in nächster Nachbarschaft verschleppt worden oder in einem der Busse auf dem Weg nach Hause.
Im Jahr 2014 verschwand jeden Tag ein minderjähriges Mädchen im Bundesstaat Mexiko. Die meisten von ihnen werden nie mehr nach Hause kommen. Während schätzungsweise 30 Prozent der Frauenmorde von Partnern und Ex-Partnern begangen werden, sind für Gewaltverbrechen im öffentlichen Raum zumeist Banden und Kartelle verantwortlich. Doch der Drogenhandel ist in Mexiko eng mit den politischen Sphären verknüpft. Der Bundesstaat gilt als Hochburg und Kaderschmiede der Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI). Von großen Infrastrukturprojekten profitiert vor allem eine lokale Elite aus Transport- und Bauunternehmern.
Der amtierende mexikanische Präsident Enrique Peña Nieto schritt während seiner Amtszeit als Gouverneur des Bundesstaates von 2005 bis 2011 nicht gegen die dramatisch zunehmende Zahl verschwundener und ermordeter Frauen ein. Unter seiner Regierung gingen die Behörden hingegen mit aller Härte gegen soziale Bewegungen vor und behandelten dabei besonders Frauen brutal. So vergewaltigten Polizisten in einem Großeinsatz in San Salvador Atenco im Jahr 2006 systematisch Demonstrantinnen. Trotz einer frauenverachtenden Grundhaltung gilt der smarte Peña Nieto als Wahlgewinner, dem vor allem Frauen seine Stimme gaben.
Neben seiner Partei galt das Drogenkartell "La Familia" aus Michoacán lange als informeller Herrscher des Bundesstaates. Heute teilen sich fünf Kartelle die Territorien auf und haben ihre Einkommensquellen diversifiziert. Abgesehen vom Drogenhandel führen sie Erpressungen und Entführungen durch. Junge Frauen, die verschwinden, werden von den Kartellen untergeordneten Banden wie Wegwerfware in den Frauenhandel eingespeist und bald umgebracht. Auch das Kartell "Neue Generation Jalisco" arbeite nun hier, sagen die Leute. Sie sagen "arbeiten", denn das ist es, was das organisierte Verbrechen bringt: Arbeit. Oft die einzige, die es gibt.
Und so verwandeln sich familiengerechte Siedlungen mit Eigentumswohnungen hinter Backstein in Operationszentren der Drogenbanden. Leerstehende Häuser werden zu Drogenhöhlen und Folterstätten, zu Lagerhallen für Koks und Kleinwaffen. Die organisierte Kriminalität ist eine Männerwelt. Von "Lumpenmachismo" sprechen mexikanische Akademiker, wenn sich der Frust und die Gewalterfahrung einer männlichen marginalisierten Bevölkerung in nächster Nähe zum kriminellen Milieu gegen Frauen entladen. Nur wenige können sich in diesem Ambiente behaupten, wie "La Bambi", die in Chicoloapan Geschäftsinhaber entführte, bis sie auf einer Party erschossen wurde. Zumeist gelten Frauen in von Banden beherrschten Zonen als frei verfügbare Sexualobjekte – oder aber als gewinnträchtige Handelsware für Frauen- und Organhandel.
Gewalt beginnt im Alltäglichen
Lucía wird den Tag nie vergessen, als man die zerstückelte Leiche ihrer besten Freundin fand. Beide Mädchen waren 14 Jahre alt, gingen zur selben Schule und wohnten in derselben Straße in der Gemeinde Ecatepec, am Rande des gigantischen, weitgehend ausgetrockneten Texcocosees, der Mexiko-Stadt als Grundwasserreservoir dient – bis Rosario verschwand und sich Lucía aktiv an ihrer Suche beteiligte. Als Rosario gefunden wurde, war sie tot und ein Zettel klebte auf ihrem aufgeschnittenen Bauch: "Danke für die Organe" stand darauf. Eine Botschaft der Kartelle, die Gewalt in Terror verwandelt und neben aller Brutalität menschenverachtenden Zynismus offenbart.
Lucía sagt, von diesem Tag an sei sie eine andere gewesen. In sich zusammengesunken und die Augen stets auf den Boden gerichtet. Erst ein engagierter Lehrer nahm ihr das anhaltende Gefühl, nicht frei atmen zu können. Manuel Amador unterrichtet an der Oberstufenschule Francisco Villa in Ecatepec. Neben dem herkömmlichen Stundenplan hat er eine Schülerinnengruppe gegründet, die sich selbst und anderen Mut macht. Seitdem ist der kleine Verschlag hinter dem Hauptgebäude, der voller selbstgemalter Gemälde hängt, Zufluchtsort und Ideenschmiede zugleich. Eine Hexenküche sagen die Mädchen und lachen.
Die Teenager hocken auf zwei ausrangierten Kinosesselreihen, während sie erzählen. Von der täglichen Angst, auf die Straße zu gehen. Dass es bereits direkt vor der Schule Entführungsversuche gegeben habe. Dass die Polizei bei der Aufnahme einer Vermisstenanzeige generell erklärt, das Mädchen sei mit dem Freund durchgebrannt. Dass ihnen Polizisten aus dem Streifenwagen heraus hinterherpfeifen. "Es ist bedrückend, hier zu leben", berichtet Sonja. "Aber wir wollen uns nicht als Opfer sehen. Wir versuchen, die Welt um uns herum zu verändern."
Sie organisieren deshalb unter anderem Kunstperformances. Momentan ist eine Fotoausstellung von ihnen in einer U-Bahn-Station in Mexiko-Stadt zu sehen. Die Performances würden ihnen "eine gehörige Portion Selbstbewusstsein" geben, sagen die Mädchen. Dabei gehen sie in ihren Debütantinnenkleidern auf die Straße – Prinzessinnengewändern à la Disney, die in Mexiko jedes Mädchen trägt, wenn es an seinem 15. Geburtstag offiziell in die Gesellschaft eingeführt wird. Um dieses antiquierte Frauenbild zu konterkarieren, haben sich die Schülerinnen Blutgerinnsel und blaue Flecken ins Gesicht geschminkt.
Die Gewalt beginne im Alltäglichen, erzählt Karin. "All die Anmache auf der Straße; Männer, die uns begrapschen. Nie wissen wir, wie weit sie gehen würden. Wir versuchen das unseren Familien und Nachbarn klarzumachen. Oft sagen die: Ihr seid aufmüpfig, lernt lieber für die Schule."
Während im Bundesstaat Mexiko zivilgesellschaftliche Initiativen, die Frauenmorde zum Thema machen, rar sind, gibt es in Mexiko-Stadt eine ganze Reihe von Gruppen und Bewegungen, die Öffentlichkeit schaffen. Feministische Initiativen, die mit Linoldrucken (#vivasnosqueremos) und stilisierten Suchplakaten (#hastaencontrarlas) öffentliche Räume wie soziale Netzwerke mit künstlerischen Grafiken fluten, haben Erfolg. Denn die Sichtbarmachung der mörderischen Gewalt gegen Frauen setzt die Politik unter Druck.
Noch im Vorjahr hatte Gouverneur Eruviel Ávila für Empörung gesorgt, als er verlauten ließ, "der Bundesstaat hat andere Probleme", als sich um Frauenmorde zu kümmern. Anfang Juli sah er sich gezwungen, den seit fünf Jahren geforderten "Alarm wegen Gendergewalt" in elf Landkreisen umzusetzen. Erst wenige Wochen zuvor hatten Amnesty International Mexiko und andere Nichtregierungsorganisationen diesen erneut eingefordert. Nun sind Politik und Polizei aufgerufen, besondere Maßnahmen einzuleiten, um Frauen zu schützen.
Die Autorin ist Korrespondentin und lebt in Mexiko.
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