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Das Recht zu wissen
Maya-Rapper Lucio Yaxon
© Uli Stelzner
Ein Polizeiarchiv kann Licht in Guatemalas dunkle Vergangenheit bringen.
Von Jorun Poettering
Wenn Lucio Yaxon loslegt, dann geht es um mehr als harte Beats und schnelle Worte. Der 27-jährige Rapper ist Maya, und wenn er in Guatemala auftritt, dann singt er von den vielen Demütigungen, die seinen Landsleuten angetan wurden: von den Massakern der Kolonisatoren, von der Brutalität der weißen Herrscher und vom Leiden im Bürgerkrieg, der 36 Jahre lang zwischen der Guerilla und dem Militär in seinem Land tobte.
Seine Songs rappt er im indigenen Maya-Kakchiquel und in spanischer Sprache. In seinen Texten mischen sich alltägliche Gewalt und Hoffnung auf ein besseres Leben: "Hab’ keine Angst, unsere Zeit ist gekommen." Seine Familie ist, wie die von so vielen Guatemalteken, geprägt von den Kämpfen und politischen Morden, die zwischen 1960 und 1996 rund 200.000 Menschen das Leben kosteten. Yaxons Vater wurde ermordet, drei seiner Onkel sind verschwunden.
Was ist mit seinen Angehörigen genau geschehen? Das wollte Lucio Yaxon wissen.
Mit 17 Jahren zog er vom Land nach Guatemala-Stadt und schloss sich der Bewegung an, die für die Aufklärung der Verbrechen kämpft. Lange Zeit schien es beinahe unmöglich, die Verantwortlichen ausfindig zu machen und sie vor Gericht zu stellen. Es fehlten die Beweise. Doch im Juni 2005 passierte etwas, das der Arbeit dieser Organisationen eine neue Grundlage und auch dem jungen Rapper wieder Hoffnung gab.
Bei der Inspektion eines Polizeigeländes entdeckten Mitarbeiter der staatlichen Ombudsstelle für Menschenrechte zufällig riesige Papierstapel. Die Akten, die da zwischen abgewrackten Autos und alter Munition versteckt waren, entpuppten sich als das Archiv der ehemaligen Nationalpolizei. Es handelte sich um äußerst brisante Dokumente, die Auskunft über Opfer und Täter des bewaffneten Konflikts geben können.
Die Existenz eines solchen Archivs war bis dahin geleugnet worden, sowohl gegenüber der Wahrheitskommission, die 1999 einen Bericht über die Gewalttaten der Vergangenheit veröffentlichte, als auch gegenüber Anwälten, die Beweismaterial für die Aufklärung von Menschenrechtsverbrechen suchten. Das Archiv umfasst insgesamt 80 Millionen Dokumente – acht Regalkilometer –, die das Handeln der Nationalpolizei von 1882 bis zur Unterzeichnung der Friedensabkommen zwischen der Guerilla und dem Staat 1996 dokumentieren. 115 Jahre in Akten. Damit beherbergt das Archiv einen der weltweit größten Dokumentenbestände, der Ermittlern von Menschenrechtsverbrechen je zur Verfügung gestanden hat.
Viele der Akten, die über Jahre dem Regen, dem Schimmel und den Fledermäusen ausgesetzt waren, fanden die Menschenrechtsverteidiger stark zerstört vor. Doch nach der Entdeckung begannen die Arbeiten zu ihrer Konservierung. Seither werden die Papiere gesäubert und stabilisiert, gescannt, kopiert und klassifiziert. 9,5 Millionen Dokumente aus dem Zeitraum zwischen 1975 und 1985 – in diesem Zeitraum wurden die meisten Menschenrechtsverletzungen verübt – sind bereits digitalisiert.
Damit niemand Akten entwenden kann, ist das Archiv gut geschützt. Vor dem Betreten müssen die Mitarbeiter durch mit Stacheldraht umgebene Tore gehen, vorbei an bewaffneten Polizeibeamten mit scharfen Hunden. Die Fenster sind vergittert, es gibt schwere Metalltüren und Überwachungskameras. 24 Stunden am Tag sind Sicherheitsdienste auch innerhalb des Archivgebäudes eingesetzt.
Rund 160 Männer und Frauen arbeiten seit 2006 auf dem Gelände. Viele von ihnen haben ein persönliches Interesse am Erhalt und der Auswertung der Unterlagen. Auch Lucio Yaxon hat mitgeholfen, die Akten vom Staub zu befreien und elektronisch zu archivieren. Vier Jahre lang war er im Archiv beschäftigt und nie hat er die Hoffnung aufgegeben, Informationen über seine Angehörigen zu bekommen. Die Arbeit sei eine doppelte Herausforderung gewesen, erklärt der junge Mann.
"Einerseits geht es darum, die Repressionsmechanismen der Polizei und ihre Rolle bei der Verfolgung und dem 'Verschwindenlassen' tausender Personen zu untersuchen. Andererseits geht es um die Suche nach Informationen, die einen ganz persönlich berühren." Yaxon hat die Namen einiger Menschen gefunden, die in seinem Leben eine wichtige Rolle spielten. Genügend Material für eine Anklage hat er aber nicht zusammenbekommen.
Erfolgreicher waren die Angehörigen von Edgar Fernando García. Er ist eines der insgesamt 40.000 Opfer staatlich angeordneten "Verschwindenlassens". Der 27-jährige Student und Gewerkschafter verließ am 18. Februar 1984 wie gewohnt sein Haus und ging zur Arbeit. Als er mit einem Bekannten an einer Polizeiwache vorbeikam, wurden die beiden aufgefordert, stehen zu bleiben. Doch sie versuchten zu flüchten. Die Polizei schoss, beide wurden verletzt und in Polizeikrankenhäuser gebracht. Noch am selben Abend kamen zwei Männer in Zivilkleidung zu seiner Frau und teilten ihr mit, dass García drei Tage später wieder nach Hause kommen würde.
Sie nahmen einige seiner persönlichen Gegenstände mit und fuhren in Autos ohne Nummernschilder weg. García wurde nie wieder gesehen. In diesen Fall haben die Dokumente des Polizeiarchivs geholfen. Über 20 Jahre nach dem Verschwinden des Mannes fand man dort Informationen zu dessen Entführung, die zur Verhaftung zweier mutmaßlicher Täter führten. Die beiden warten noch auf ihren Prozess.
Doch das Archiv trägt nicht nur zur Wahrheitsfindung für die Zeit des bewaffneten Konflikts bei. Es wirft auch Licht auf andere Abschnitte der guatemaltekischen Geschichte des 20. Jahrhunderts, aus denen sich die späteren grausamen Entwicklungen zum Teil erklären lassen. Vor rund einem Jahr wurde es für Opfer, Familienangehörige, Forscher und Journalisten geöffnet. Gleichzeitig veröffentlichte die Ombudsstelle für Menschenrechte einen ersten Bericht mit den Ergebnissen der seit 2006 unternommenen Untersuchungen. Er trägt den Titel "Das Recht zu Wissen" und zeigt, wie die Polizei in eine repressive Überwachungsinstitution umgewandelt wurde und in die Aufstandsbekämpfungsstrategie des Militärs eingebunden war.
Die umfangreichen Dokumente sind ein Pulverfass, und so werden sie schnell zum Spielball verschiedener politischer Akteure, die im Bürgerkrieg eine Rolle gespielt haben: das Militär, die Regierung und ehemalige Mitglieder der Guerilla. Doch zugleich helfen sie jungen Guatemalteken, sich mit der qualvollen Vergangenheit ihres Landes auseinanderzusetzen und daraus ihre Vorstellungen für eine bessere Zukunft zu entwickeln. Menschen wie Lucio Yaxon, die das Wissen aus dem Archiv in die Bevölkerung tragen, spielen dabei eine wichtige Rolle.
"Wir haben die Lieder geschrieben, damit alle erfahren, was wirklich in Guatemala passiert ist, und um zu helfen, die Erinnerung an das Geschehene zu bewahren", erklärt er. Der Rap ist für ihn aber auch ein Werkzeug, "um der Gesellschaft vor Augen zu führen, dass sich unser Land nach wie vor im Krieg befindet, dass wir in Guatemala noch lange nicht von einer Demokratie sprechen können". Im vergangenen Jahr verlor Lucio erneut zwei nahe Verwandte durch Gewalttaten. Auch er selbst fühlt sich bedroht.
Die Autorin ist Mitglied der Guatemala-Ländergruppe der deutschen Sektion von Amnesty International.
Dass die Polizei in Guatemala auch heute noch für Gewalttaten verantwortlich ist, zeigt der jüngste Bericht von Amnesty International zu dem Land. Er schildert die Beteiligung von Polizisten an Morden, die oft als "soziale Säuberungen" bezeichnet werden. Mehr Informationen auf www.casa-amnesty.de