Amnesty Report Serbien 20. Mai 2017

Serbien (einschließlich Kosovo) 2017

Amnesty Report 2016 / 2017

Regierungsnahe Medien verleumdeten 2016 weiterhin unabhängige Journalisten und Menschenrechtsverteidiger sowie das Amt der Ombudsperson. Die strafrechtliche Verfolgung völkerrechtlicher Verbrechen, die während des bewaffneten Konflikts in den 1990er Jahren verübt worden waren, kam weiterhin nicht voran. In Belgrad gab es mehrere rechtswidrige Zwangsräumungen. Flüchtlinge und Migranten, die sich in Serbien aufhielten, weil sie auf ihrem Weg in die EU nicht weiterkamen, genossen keinen ausreichenden Schutz und hatten keinen Zugang zu Grundversorgungsleistungen.

HINTERGRUND

Bei der vorgezogenen Parlamentswahl im April 2016 konnte das von der Serbischen Fortschrittspartei (SNS) angeführte Wahlbündnis seine Mehrheit im Parlament verteidigen. Aleksandar Vučić blieb Regierungschef.

VÖLKERRECHTLICHE VERBRECHEN

Die strafrechtliche Verfolgung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch die Sonderkammer für Kriegsverbrechen am Bezirksgericht Belgrad kam 2016 weiterhin nicht voran, da das Amt des Chefanklägers das gesamte Jahr über nicht besetzt war. Im März 2016 bestätigte die zuständige Staatsanwaltschaft die Anklageerhebung gegen acht Angehörige einer Spezialeinheit des Innenministeriums der Republika Srpska, der bosnisch-serbischen Kriegspartei im Bosnienkrieg, wegen Kriegsverbrechen an Zivilpersonen in Srebrenica im Jahr 1995.

Der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag sprach im März 2016 den Anführer der Serbischen Radikalen Partei, Vojislav Šešelj, in allen Anklagepunkten frei. Die Anklage lautete auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit in drei Fällen (Verfolgung, Deportation, unmenschliche Handlung [Zwangsumsiedlung]) und Kriegsverbrechen in sechs Fällen (Mord; Folter; grausame Behandlung; willkürliche Zerstörung von Dörfern; Zerstörung oder vorsätzliche Beschädigung von Einrichtungen, die der Religion oder der Erziehung gewidmet sind; Plünderung öffentlichen oder privaten Eigentums). Der Chefankläger des Gerichtshofs legte Berufung gegen den Freispruch ein. Eine Entscheidung stand Ende 2016 noch aus. Nach den Wahlen im April zog Vojislav Šešelj wieder als Abgeordneter ins Parlament ein.

RECHT AUF FREIE MEINUNGSÄUßERUNG

Der Prozess gegen den ehemaligen Geheimdienstchef Radomir Marković und drei weitere ehemalige Geheimdienstmitarbeiter wegen der Ermordung des Journalisten Slavko Čuruvija im April 1999 geriet 2016 ins Stocken, weil der Hauptzeuge nicht vor Gericht erschien.

Unabhängige Journalistenverbände registrierten zahlreiche körperliche Attacken, Morddrohungen und andere Vorfälle, die sich gezielt gegen Journalisten richteten.

RECHT AUF ANGEMESSENES WOHNEN

Im Zentrum von Belgrad wurden seit Beginn der Vorarbeiten für das neue Stadtviertel "Belgrad am Wasser" im Jahr 2015 mehr als 200 Familien Opfer rechtswidriger Zwangsräumungen. Im April 2016 rissen 30 maskierte Männer nachts mit Bulldozern Häuser von Bewohnern ab. Als die Polizei informiert wurde, weigerte sie sich jedoch, einzugreifen. Die Ombudsperson und lokale Aktivisten verurteilten das Vorgehen. Es kam zu mehreren Protestveranstaltungen, bei denen gefordert wurde, die städtischen und regionalen Behörden zur Rechenschaft zu ziehen. Im Anschluss daran verklagte der Innenminister ein Nachrichtenmagazin wegen Verleumdung, weil es den Vorwurf erhoben hatte, er und sein Ministerium seien für die Zerstörungen verantwortlich. Ende November gab ein Gericht dem Kläger recht und verurteilte das Magazin dazu, dem Innenminister 300000 Serbische Dinar (etwa 2400 Euro) Entschädigung zu bezahlen.

Die UN-Sonderberichterstatterin über das Recht auf angemessenes Wohnen wies nach einem Besuch Serbiens darauf hin, dass die Situation der Bewohner informeller Siedlungen, die keinen Zugang zu Grundversorgungsleistungen hatten, darunter viele Roma, beklagenswert sei. Sie forderte, ein Wohnungsgesetz zu verabschieden, das rechtswidrige Zwangsräumungen verbietet und die Diskriminierung beendet. Außerdem betonte die UN-Sonderberichterstatterin, es sei dringend notwendig, das Problem rechtlich ungesicherter Besitzverhältnisse anzugehen und Personen ohne offiziellen Wohnsitz den Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen zu ermöglichen.

Ende 2016 wurde ein Gesetzentwurf zur Regelung von Zwangsräumungen und Wiederansiedlung verabschiedet.

RECHTE VON FLÜCHTLINGEN UND MIGRANTEN

2016 durchquerten mehr als 120000 Flüchtlinge und Migranten Serbien auf ihrem Weg in die EU. Der drastische Rückgang im Vergleich zu 2015 war teilweise darauf zurückzuführen, dass die Nachbarländer im Süden und Norden ihre Grenzen für Personen ohne offizielle Einreiseerlaubnis geschlossen hatten. Weil Serbien sich weigerte, Unterkünfte für mehr als 6000 Menschen zur Verfügung zu stellen, die weiterreisen wollten, lebten Tausende unter unzumutbaren Bedingungen in behelfsmäßigen Lagern an der Grenze zu Ungarn oder in baufälligen Gebäuden und Parks in Belgrad und andernorts. Freiwillige Helfer und medizinische Hilfsorganisationen berichteten von Infektionen und schweren Erkrankungen unter den Flüchtlingen und Migranten.

Das Ministerium für Arbeit und Soziales, das für die Unterbringung und Betreuung von Flüchtlingen und Migranten zuständig war, wies im November 2016 Unterstützergruppen an, alle Aktivitäten außerhalb der offiziellen Aufnahmezentren einzustellen. Diese Einrichtungen waren überbelegt und weitgehend ungeeignet für eine langfristige Unterbringung. Viele Flüchtlinge und Migranten wurden vertrieben und in den Süden gebracht, wo sie Gefahr liefen, rechtswidrig kollektiv nach Mazedonien oder Bulgarien abgeschoben zu werden.

Serbien betrachtete sich als Transitland für Flüchtlinge auf dem Weg in die EU und bot der Mehrheit der als asylsuchend registrierten Personen kein faires und individuelles Verfahren zur Bestimmung ihres Flüchtlingsstatus bzw. ihrer Asylberechtigung. Die serbischen Behörden erlaubten den meisten Asylsuchenden, in den Aufnahmezentren zu bleiben, während sie darauf warteten, nach Ungarn weiterreisen zu können. Grundlage dafür war eine informelle Warteliste der serbischen und ungarischen Behörden, auf die sich die Asylsuchenden setzen ließen. Einige der vorgeblich offenen Aufnahmezentren schränkten die Bewegungsfreiheit von Asylsuchenden ein und waren damit de facto Orte, an denen Personen willkürlich festgehalten wurden.

Am 22. Juli 2016 begannen an den Grenzen zu Mazedonien und Bulgarien multinationale Polizeipatrouillen. In der Folge ging die Zahl der in Serbien ankommenden Flüchtlinge und Migranten stark zurück. Nach Angaben des Verteidigungsministeriums wurden bis Ende November 2016 mehr als 16000 Personen an der Einreise gehindert. Die Behörden versäumten es jedoch, neben Grenzschützern auch ausgebildetes Zivilpersonal einzusetzen, um sicherzustellen, dass die ankommenden Flüchtlinge entsprechend serbischem und internationalem Recht an der Grenze ihr Asylgesuch vorbringen konnten.

Die serbischen Behörden hielten die Aussetzung des Rückübernahmeabkommens mit Ungarn 2016 aufrecht. Trotz der Aussetzung schob Ungarn jedoch Tausende Menschen nach Serbien ab, die dort ohne regulären Aufenthaltsstatus und ohne Zugang zu Grundversorgungsleistungen strandeten.

2016 wurden mehr als 12000 Asylanträge in Serbien gestellt. Bis Ende Oktober war erst über 74 Fälle entschieden worden. 17 Antragstellern wurde der Flüchtlingsstatus zuerkannt, 17 erhielten subsidiären Schutz, und 40 Asylanträge wurden abgelehnt. Fast die Hälfte aller Antragsteller waren Minderjährige.

KOSOVO

Im April 2016 trat ein Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen zwischen der EU und dem Kosovo in Kraft. Im November traf sich erstmals der Stabilitäts- und Assoziationsrat EU-Kosovo, um weitere Schritte in Richtung EU-Beitritt einzuleiten. Der Kosovo wurde weiterhin de facto von den kosovarischen Behörden in Zusammenarbeit mit der EU-geführten Rechtsstaatsmission im Kosovo (EULEX) verwaltet. Die von der EU moderierten Gespräche zwischen Serbien und dem Kosovo machten 2016 nur geringe Fortschritte.

STRAFRECHTLICHE VERFOLGUNG VON MENSCHENRECHTSVERLETZUNGEN

Der Beratende Menschenrechtsausschuss der UN-Übergangsverwaltung im Kosovo (UNMIK) veröffentlichte im Juni 2016 seinen Abschlussbericht, in dem er der UNMIK ein vernichtendes Zeugnis ausstellte. So habe sie u. a. bei der Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen, die während ihres Mandats verübt wurden, vollständig versagt und keine der Empfehlungen des Beratenden Menschenrechtsausschusses umgesetzt.

VÖLKERRECHTLICHE VERBRECHEN

Das Mandat der EULEX wurde bis Juni 2018 verlängert. Die Rechtsstaatsmission kündigte jedoch an, sie werde keine neuen Ermittlungen zu völkerrechtlichen Verbrechen einleiten. Ende 2016 sollten Hunderte unaufgeklärter Fälle an die kosovarischen Behörden übergeben werden, obwohl die Europäische Kommission zu der Einschätzung gelangt war, die Justiz des Kosovo sei "langsam" und "empfänglich für unzulässige politische Einmischung".

Die Sonderstaatsanwaltschaft des Kosovo litt unter Personalmangel und hatte Mühe, ausreichend qualifizierte und erfahrene Staatsanwälte zu finden, um völkerrechtliche Verbrechen zu untersuchen, strafrechtlich zu verfolgen und neue Ermittlungen einzuleiten.

2016 wurden die Kosovo-Sonderkammern (Kosovo Specialist Chambers) in Den Haag eingerichtet. Das ausgelagerte Sondergericht für völkerrechtliche Verbrechen soll ehemalige Mitglieder der Befreiungsarmee des Kosovo (UÇK) zur Verantwortung ziehen. Ende 2016 hatte der Chefankläger noch keine Anklagen erhoben. Der Rat der Europäischen Union bewilligte 29 Mio. Euro, um die Einrichtung und die Arbeit des Gerichts im Zeitraum April 2016 bis Juni 2017 zu unterstützen.

Im Januar 2016 verurteilte ein international besetztes Gericht in Mitrovica/Mitrovicë den kosovo-serbischen Politiker Oliver Ivanović zu neun Jahren Haft, weil er im April 1999 die Ermordung von ethnischen Albanern angeordnet hatte. Ende 2016 stand er unter Hausarrest; über sein beim Berufungsgericht Pristina/Pristinë eingelegtes Rechtsmittel war noch keine Entscheidung gefallen.

VERSCHWINDENLASSEN

2016 gab es noch 1600 Personen, die seit dem bewaffneten Konflikt vermisst wurden. Obwohl Grabungen an Orten vorgenommen wurden, an denen man Massengräber vermutete, wurden weder in Serbien noch im Kosovo weitere Gräber gefunden. Vereinbarungen über eine Zusammenarbeit beider Seiten wurden weiterhin nicht umgesetzt.

DISKRIMINIERUNG – ROMA, ASCHKALI UND BALKAN-ÄGYPTER

Roma, Aschkali und Balkan-Ägypter litten weiterhin unter institutioneller Diskriminierung, vor allem in Bezug auf angemessenes Wohnen und Arbeitsplätze. Besonders betroffen waren die Binnenvertriebenen unter ihnen, die weiterhin in überbelegten Unterkünften in informellen Siedlungen lebten, ohne ausreichenden Zugang zu sauberem Wasser und anderen Grundversorgungsleistungen.

Im Februar 2016 veröffentlichte der Beratende Menschenrechtsausschuss seine Stellungnahme zu einer Beschwerde, die Roma, Aschkali und Balkan-Ägypter eingereicht hatten, die in einem UN-Lager für Binnenvertriebene in Mitrovica/Mitrovicë Bleivergiftungen erlitten hatten. Der Ausschuss befand, die UNMIK habe die betroffenen Familien unmenschlicher und erniedrigender Behandlung ausgesetzt, ihre Rechte auf Gesundheit, Privat- und Familienleben missachtet und sie wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit diskriminiert. Das Vorgehen der UNMIK habe sich vor allem auf Frauen und Minderjährige schädlich ausgewirkt, da diese von mehrfacher Diskriminierung betroffen gewesen seien. Der Ausschuss forderte von der UNMIK u. a., öffentlich anzuerkennen, dass sie Menschenrechtsnormen verletzt habe, und den Familien angemessene Entschädigungen zu zahlen. Bis zum Jahresende hatte die UNMIK die Empfehlungen des Beratenden Menschenrechtsausschusses noch nicht umgesetzt.

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