Amnesty Report Tschad 28. März 2023

Tschad 2022

Amnesty-Logo: Kerze umschlossen von Stacheldraht.

Berichtszeitraum: 1. Januar 2022 bis 31. Dezember 2022

Die Behörden gingen mit unverhältnismäßiger Gewalt gegen friedlich Demonstrierende vor und verletzten das Recht auf Versammlungsfreiheit. Regierungskritiker*innen wurden weiterhin willkürlich inhaftiert. Zahlreiche Menschen wurden bei Angriffen bewaffneter Gruppen oder bei Gewalt zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen getötet. Vor dem Hintergrund anhaltender Verstöße gegen die Rechte von Frauen und Mädchen wurde eine Beobachtungsstelle zur Förderung der Gleichstellung und Gleichberechtigung der Geschlechter eingerichtet. Mehr als 2 Millionen Menschen waren von Ernährungsunsicherheit betroffen.

Hintergrund

Am 13. März 2022, ein Jahr nach dem Tod von Präsident Idriss Déby und der Einsetzung des militärischen Übergangsrats (Conseil militaire de transition) unter der Leitung seines Sohnes Mahamat Idriss Déby, begannen im katarischen Doha vorbereitende Gespräche zwischen der Regierung des Tschad und mehreren bewaffneten Gruppen. Die Gespräche sollten die Teilnahme der bewaffneten Gruppen an einem nationalen Dialog sicherstellen. Dieser begann im August in der tschadischen Hauptstadt N'Djamena in Form des "Forums des nationalen souveränen inklusiven Dialogs", an dem die Regierung, die Zivilgesellschaft und einige der bewaffneten Gruppen teilnahmen. Im Rahmen dieses Dialogs wurde die Übergangszeit um zwei Jahre verlängert und Mahamat Idriss Déby die Möglichkeit eingeräumt, bei künftigen Präsidentschaftswahlen zu kandidieren.

Recht auf Versammlungsfreiheit

Im Mai 2022 verbot das Sicherheitsministerium mehrere von der oppositionellen Plattform Wakit Tama ("Die Zeit ist gekommen") organisierte Veranstaltungen, mit denen gegen die militärische Übergangsregierung und die Außenpolitik der französischen Regierung im Tschad protestiert werden sollte, wegen möglicher Störung der öffentlichen Ordnung. Ähnliche Demonstrationen von Wakit Tama, die während des nationalen Dialogforums im August und September stattfinden sollten, wurden mit derselben Begründung verboten.

Das Gesetz zur Regelung der Versammlungsfreiheit verstieß nach wie vor gegen internationale Standards, so auch gegen die Leitlinien der Afrikanischen Kommission für Menschenrechte und Rechte der Völker, wonach Proteste nicht im Vorfeld genehmigt werden müssen, sondern allenfalls eine vorherige Anmeldung verlangt werden darf.

Exzessive Gewaltanwendung

Im Januar 2022 fand in der Stadt Abéché eine Demonstration gegen die geplante Ernennung eines neuen Kantonchefs aus der Gemeinschaft der Bani Halba in Abéché statt. Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Convention Tchadienne pour la Défense des Droits de l’Homme wurden innerhalb von zwei Tagen mindestens 13 Demonstrierende getötet und 80 verletzt. Am 25. Januar dementierte ein Regierungssprecher in einer Presseerklärung den Einsatz von Schusswaffen. Am 3. Februar kam eine Regierungsdelegation nach Abéché und räumte den unverhältnismäßigen Einsatz von Gewalt ein. Nach Angaben lokaler Organisationen wurden außerdem mindestens 212 Menschen festgenommen. Einige von ihnen wurden Berichten zufolge in Gewahrsam misshandelt, bevor sie nach fünf Tagen ohne Anklage freikamen.

Die Sicherheitskräfte gingen auch mit exzessiver Gewalt gegen verschiedene Vereinigungen sowie die politische Partei Les Transformateurs vor, die den nationalen Dialog in N'Djamena infrage stellte. Anfang September 2022 umstellten Sicherheitskräfte die Zentrale von Les Transformateurs und schossen mit Tränengas. Menschenrechtsverteidiger*innen und der Vorsitzende von Les Transformateurs berichteten, dass mehrere Demonstrierende verletzt worden seien.

Am 20. Oktober 2022 wandten die Sicherheitskräfte bei einer Demonstration, die von mehreren politischen Parteien und Verbänden organisiert worden war, um gegen die Verlängerung der Übergangszeit zu protestieren, exzessive Gewalt an. Die Regierung gab bekannt, dass mindestens 50 Menschen gestorben und 300 verletzt worden seien. Es wurde eine nationale Untersuchungskommission eingesetzt, und im Dezember leitete ein Ausschuss der Zentralafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft ebenfalls Untersuchungen ein.

Willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen

Im Mai 2022 wurden nach der Auflösung einer Demonstration der Plattform Wakit Tama sechs Sprecher der Plattform in das 300 Kilometer von N'Djamena entfernte Gefängnis von Moussoro überstellt. Nach Ansicht ihrer Rechtsbeistände waren die Gerichte von N'Djamena für das Verfahren gegen sie zuständig. Die Staatsanwaltschaft gab bekannt, dass die sechs Männer wegen "Versammlung mit dem Ziel der Störung der öffentlichen Ordnung, Beschädigung von Eigentum und tätlichen Angriffen" angeklagt worden seien. In einem Prozess in Moussoro wurden sie zu Bewährungsstrafen von je zwölf Monaten verurteilt.

Am 30. August 2022 wurde eine Demonstration der Bewegung arbeitsloser Hochschulabsolvent*innen (Diplomés sans emploi), die Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst forderte, ebenfalls von der Polizei aufgelöst. Nach Angaben der Sprecher der Bewegung wurden dabei mehrere Personen verletzt. Mehrere Demonstrierende wurden festgenommen, kamen aber nach wenigen Stunden wieder frei.

Im September 2022 wurden mindestens 140 Personen, die sich vor dem Büro von Les Transformateurs versammelt hatten, festgenommen und noch am selben Tag wieder freigelassen. Sie hatten gegen den nationalen Dialog und die Abriegelung des Gebäudes durch die Sicherheitskräfte protestiert.

Recht auf ein faires Gerichtsverfahren

Im Zuge der Demonstrationen im Oktober 2022 wurden Hunderte Menschen, darunter auch Minderjährige, festgenommen und rechtswidrig in die Ortschaft Koro Toro gebracht, die 500 Kilometer von der Hauptstadt N'Djamena entfernt liegt. Die Gerichtsverfahren gegen sie fanden hinter verschlossenen Türen statt und wurden von ihren Rechtsbeiständen boykottiert. Im Dezember ergingen die Urteile: 262 Personen wurden zu Gefängnisstrafen zwischen zwei und drei Jahren verurteilt, 80 erhielten Bewährungsstrafen zwischen ein und zwei Jahren, und 59 wurden freigesprochen.

Menschenrechtsverstöße bewaffneter Gruppen

Medien und NGOs berichteten, dass die bewaffnete Gruppe Islamischer Staat Provinz Westafrika (Islamic State West Africa Province – ISWAP) in der Tschadsee-Region weiterhin unrechtmäßig Zivilpersonen tötete. Berichten zufolge töteten ISWAP-Kämpfer Anfang August 2022 in dem Dorf Aborom sechs Zivilpersonen und im September in Baltram eine Person. Bei diesem Vorfall sollen auch mehrere Häuser geplündert worden sein. Mutmaßliche ISWAP-Kämpfer töteten im September außerdem fünf Zivilpersonen auf einem Boot in Baga Sola.

Recht auf Leben

Im Laufe des Jahres kam es bei gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen immer wieder zu Tötungen. Im Februar 2022 starben in der Stadt Sandana bei solchen Auseinandersetzungen mindestens zehn Menschen. Im Mai kamen bei Gewalttaten im Bezirk Danamadji sechs Menschen ums Leben. Im September wurden im Bezirk Mangalmé mindestens 17 Menschen getötet. Nach Angaben lokaler NGOs gingen die Auseinandersetzungen auf Spannungen zwischen Hirt*innen und Bäuer*innen über den Zugang zu natürlichen Ressourcen, vor allem Weideland, zurück. In all diesen Fällen kündigten die Behörden Untersuchungen an und riefen lokale Dialoge ins Leben, um die Konflikte zu lösen.

Recht auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung

Im September 2022 forderte Übergangspräsident Mahamat Idriss Déby den Finanzminister schriftlich auf, 10 Mrd. CFA-Francs (etwa 13,5 Mio. Euro) als Beitrag des Staats an den Treuhandfonds zur Entschädigung der Opfer der Regierung des ehemaligen Präsidenten Hissène Habré zu überweisen. Mehr als 7.000 Betroffenen waren 2017 von den Außerordentlichen Afrikanischen Kammern im Prozess gegen Hissène Habré insgesamt 82 Mrd. CFA-Francs (gut 123 Mio. Euro) zugesprochen worden. Bereits 2015 hatten tschadische Gerichte in Verfahren gegen ehemalige Angehörige der Regierung von Hissène Habré die Zahlung von 75 Mrd. CFA-Francs (etwa 113 Mio. Euro) an die Opfer angeordnet. Die Betroffenen hatten jedoch bis Ende 2022 noch keine Entschädigungen erhalten.

Rechte von Frauen und Mädchen

Nach Angaben des UN-Kinderhilfswerks UNICEF wurden 67 Prozent der Mädchen im Tschad vor Erreichen des 18. Lebensjahres und 30 Prozent vor Erreichen des 15. Lebensjahres verheiratet. Damit gehörte der Tschad zu den Ländern mit den meisten Kinderehen weltweit.

Am 19. Juli 2022 rief der Tschad die Beobachtungsstelle zur Förderung der Gleichstellung und Gleichberechtigung der Geschlechter ins Leben. Die Stelle sollte für bessere Maßnahmen zur Geschlechtergleichstellung in der öffentlichen Politik sorgen.

Im August 2022 führte der Oberste Rat für Islamische Angelegenheiten in Mangalmé in der Region Guera eine Geldstrafe für Personen ein, die Heiratsanträge ablehnen. Die Frauenrechtsorganisation Ligue Tchadienne des Droits des Femmes kritisierte diese Maßnahme scharf, da sie der Zwangsverheiratung von Mädchen Vorschub leiste.

Recht auf Nahrung

Nach Angaben des Frühwarnsystems für Hungersnöte verstärkten steigende Preise und Treibstoffknappheit die Ernährungsunsicherheit. Außerdem hatten Konflikte zwischen Bäuer*innen und Hirt*innen erhebliche Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und die saisonale Viehwirtschaft.

Nach Angaben des Amts der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten waren im Juli 2022 etwa 2,1 Millionen Menschen im Tschad von Nahrungsmittelmangel und Ernährungsunsicherheit betroffen.

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