Country-Musik: Lesbisch mit Cowboyhut
Countrymusik wird diverser. Das neue Album von Julien Baker und Torres ist dafür das beste Beispiel.
Von Thomas Winkler
Die Situation kennen alle, die schon mal einen Countrysong gehört haben: Jemand sitzt im Auto, der Motor läuft, im Haus wartet die Liebste, auf der Straße lockt das große Abenteuer, dazwischen dräut eine existentielle Entscheidung. "Sugar In The Tank" heißt der Song, die Gitarren sind akustisch, im Hintergrund weint die Steelguitar, und der Refrain hebt sanft euphorisch ab – wie ein Chevrolet auf dem sonnendurchfluteten Highway Richtung Horizont. Was dieser Song beschreibt, ist so alt wie die Countrymusik. Nur: Hier ist es eine Frau, die am Steuer sitzt: Es sind Frauen, die zerrissen sind zwischen Freiheit und der Liebe zu einer anderen Frau. Und Frauen, die in einem anderen Song den "Bottom Of A Bottle" ergründen oder in "Downhill Both Ways" über "Tod, Steuern und Benzin" lamentieren.
Julien Baker und Torres sind diese beiden Frauen, die die Countrywelt auf den Kopf stellen. Baker und Mackenzie Ruth Scott, wie Torres eigentlich heißt, stammen beide aus dem US-amerikanischen Süden, wo Nashville niemals weit ist. Bislang waren sie als Singer-Songwriterinnen in der Indieszene erfolgreich, Torres als Solistin und Baker als Teil des Trios Boygenius.
Spiel mit Americana-Elementen
Beider Musik spielte stets mit Elementen des Americana-Genres, das traditionelle Musikstile wie Country, Folk und Blues umfasst, aber die Homosexualität der beiden war bislang kein großes Thema. Nun, da ihr erstes gemeinsames Werk "Send A Prayer My Way" ein nahezu klassisches Countryalbum geworden ist, ein großartiges zudem mit steinerweichenden Melodien und sirenenhaften Harmoniegesängen, fordert ihre sexuelle Identität Erwaltungshaltungen und Rollenklischees heraus, die im Countrygeschäft immer noch verbreitet sind.
In den vergangenen Jahren hat sich im Country einiges getan. Mit Taylor Swift hat das einstige Genre der Traditionshüter aus Nashville der Welt ihren größten lebenden Popstar geschenkt, und auch die Countrycharts werden nicht mehr nur von bärtigen Brummbären in Blue Jeans dominiert. Fünf Jahre nach dem Tod von Charley Pride, einem der wenigen Schwarzen Stars, die Nashville je hervorgebracht hat, sind die Charts so divers wie nie zuvor.
Höhepunkt des Trends
Den Anfang machte Lil Nas X. Der Schwarze Rapper setzte einen Cowboyhut auf, machte aus seinem Schwulsein kein Geheimnis, und als er mit dem Countrysänger Billy Ray Cyrus eine Version seines Songs "Old Town Road" aufnahm, der Country und HipHop verschmolz, wurde ihm dafür ein Country-Music-Award verliehen. Ein ähnliches musikalisches Rezept verfolgte Shaboozey mit seinem Hit "A Bar Song (Tipsy)", und auch der Rapper Post Malone machte auf seinem neuen Album "F-1 Trillion" einen Ausflug in den Country. Höhepunkt dieses Trends ist unbestritten "Cowboy Carter" von Beyoncé: Die Popikone stürmte 2024 mit ihrem Konzeptalbum, das die verschüttete Geschichte der Schwarzen Beiträge zur Countrykultur offenlegen will, sowohl an die Spitze der Pop- wie der Countrycharts. Plötzlich war Country ganz selbstverständlich Schwarz, schwul und sehr weiblich. Nun, mit "Send A Prayer My Way" von Julien Baker & Torres wird Country auch noch lesbisch.
Julien Baker & Torres "Send A Prayer My Way" (Matador/Beggars Group/Indigo)
Thomas Winkler ist freier Journalist. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.
WEITERE MUSIKTIPPS
von Thomas Winkler
Wie klingt der Krieg? Nach explodierenden Granaten, surrenden Drohnen, Klagen und Weinen. Aber der Krieg kann auch irritierend tröten, rhythmisch stolpern, trügerisch harmonisch klingen. 2014, als das ukrainische Ensemble DZ’OB gegründet wurde, begann mit der Annexion der Krim die russische Aggression gegen die Ukraine. In den Folgejahren feierte das Quartett mit seiner Musik zwischen Klassik und elektronischer Avantgarde Erfolge bei renommierten Festivals in der ganzen Welt. Auf ihrem neuen Album "The Playground" versucht die von dem Cellisten und Komponisten Oleksii Badin geleitete Gruppe die Auswirkungen des Kriegs zu verarbeiten, der die Heimat der Musiker*innen seit mehr als drei Jahren verwüstet.
Der Spielplatz, den der Albumtitel meint, ist bevölkert von Kindern. Die falten womöglich wie der Junge auf dem Coverbild Papierflieger, um den Krieg nachzustellen, in dem ihre Väter kämpfen und sterben, während sie einen jener Abzählreime aufsagen, die als Titel für die sechs Kompositionen des Albums dienen. Auf dem Cover ist ein Wandteppich zu sehen, den die ukrainische Künstlerin Maria Mudrak eigens für die Gestaltung dieses Albums geknüpft hat. Er zeigt Motive aus der musikalischen Neubearbeitung von "Sketches of the Soviet City", einem Stummfilm aus dem Jahr 1929 über die damals sowjetische, heute wieder ukrainische und schwer umkämpfte Stadt Charkiw. So überlagern sich die Bedeutungsschichten, verschwimmen die Zeitebenen.
Aber man muss nicht alles verstehen, um mit der Musik zu fühlen, wie dramatisch die Situation in der Ukraine ist. Manchmal kann ein Klang mehr sagen als viele Nachrichtenbilder: "Five Had A Pet Rock That Sang And Cry" beginnt wie eine barocke Komposition, bevor mit atonalen Klängen schnell die Verstörung Raum greift. Dieser Spielplatz ist kein sicherer Ort mehr, das ist auf "The Playground" überdeutlich zu hören.
DZ’OB: "The Playground" (Abyshomzk & Igor Shamych)