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Flüchtlinge zweiter Klasse
Am Bahnhof von Záhony an der ukrainisch-ungarischen Grenze: Die junge Romni Valeria ist mit ihrer kleinen Tochter auf der Flucht vor dem Krieg. (Archivaufnahme von 2022)
© Klaus Petrus
An der Grenze zu Ungarn werden aus der Ukraine flüchtende Rom_nja benachteiligt.
Von Klaus Petrus
Es ist Mitte März, und wer sich dieser Tage an der 137 Kilometer langen ungarisch-ukrainischen Grenze aufhält, kann viele Helfende sehen: Gemeinden, die ihre Turnhallen zu Sammelunterkünften umfunktioniert haben, lokale Organisationen, die an ukrainische Geflüchtete Essen ausgeben, Privatpersonen mit Bussen, die Fahrten nach Budapest oder gar bis nach Deutschland anbieten.
Doch nicht alle Flüchtenden sind willkommen. "Ich brauchte Babynahrung, doch sie haben mich beschimpft und fortgeschickt", sagt Valeria, die ihren richtigen Namen nicht nennen möchte. Als der Krieg ausbrach, ist die 19-jährige Romni aus der westukrainischen Region Transkarpatien in Richtung Ungarn geflohen. Jetzt steht sie auf dem Bahngleis in Záhony, einem kleinen Dorf an der ungarisch-ukrainischen Grenze, hält ihren Säugling in den Armen und wartet auf den Zug nach Budapest. Mit Valeria sind auch ihre Mutter, ihre ältere Schwester und deren drei Kinder geflohen; wo die Männer der Familie sind, möchte sie nicht sagen.
Beschimpft und fortgeschickt
"Wir hatten Glück, sie ließen uns daheim in den Zug steigen." Valeria hat von Rom_nja-Familien aus Lviv und weiteren Städten gehört, die anderen Flüchtenden Platz machen und am Bahnsteig zurückbleiben mussten. Als sie an der ungarischen Grenze ankamen, mussten sie bei der Ausweiskontrolle länger warten als die anderen, erzählt Valeria. Der NGO Chrikli zufolge lebten vor Kriegsbeginn rund 300.000 Rom_nja in der Ukraine – nach Angaben der Regierung sollen es nur 50.000 sein. Rund 40 Prozent von ihnen besitzen zwar eine Geburtsurkunde, aber keinen ukrainischen Pass. Dazu gehören auch Valeria und ihre Familie. "Die Grenzpolizisten glauben nicht, dass wir aus der Ukraine sind, sie sagen, wir hätten unsere Dokumente gefälscht." Nachdem sie registriert wurden, waren Valeria und ihre Familie auf sich selbst gestellt. "Den anderen Flüchtlingen half man mit den Koffern, sie bekamen Suppe, und die Kinder durften im Bahnhofsgebäude spielen. Uns ließ man draußen in der Kälte stehen."
"Was Valeria erlebt hat, ist leider kein Einzelfall", sagt Adrienn Balogh, ebenfalls Romni und Mitbegründerin der ungarischen Rom_nja-Organisation Magyarország Kezdeményezés. Seit sich die Fälle von Diskriminierung der Rom_nja an der ungarisch-ukrainischen Grenze gehäuft haben, ist sie vor Ort und dokumentiert das Geschehen. "Oft sind es verbale Diskriminierungen, Romnja und Roma werden beschimpft und fortgeschickt. Oder man hilft ihnen nicht beim Gepäck, sie haben Mühe, Tickets für die Weiterfahrt zu bekommen, manchmal wird ihnen sogar der Zugang zu medizinischer Versorgung verwehrt", sagt Balogh. Von vergleichbaren Diskriminierungen geflüchteter Rom_nja aus der Ukraine ist inzwischen auch an der Grenze zur Slowakei und zu Rumänien zu hören. Hilfsorganisationen und Gemeinden weisen die Vorwürfe zurück, was Balogh nicht weiter erstaunt: "Die Unterdrückung der Romnja und Roma ist subtil, sie ist schon so normal geworden, dass es den Leuten gar nicht mehr auffällt."
Dokumentiert die Diskriminierung: Adrienn Balogh von der NGO Magyarország Kezdeményezés.
© Klaus Petrus
Auch für Valeria gehören Verunglimpfungen und Hass zum Alltag. "In meiner Heimat, in Transkarpatien, werden wir immer wieder angegriffen." Tatsächlich haben sich nach Angaben der Organisation Roma of Ukraine Ternipe in den vergangenen Jahren Übergriffe auf Rom_nja gehäuft, oft sind rechte Gruppierungen dafür verantwortlich. Sie verbreiten im Netz Hass und Hetze. Auch sind Fälle bekannt, in denen Rom_nja gezielt attackiert und verletzt wurden.
In Ungarn sei das nicht anders, sagt Balogh. Zwar würden die etwa 900.000 Rom_nja knapp neun Prozent der ungarischen Bevölkerung ausmachen und seien damit die größte Minderheit im Land; doch würden sie am schlechtesten behandelt. "Fast die Hälfte der ungarischen Romnja und Roma lebt unter prekären Bedingungen. Wir haben kaum Arbeit, bekommen keine Wohnungen, der Staat lässt uns im Stich", sagt Balogh. Die ungarische Gesellschaft würde den Rom_nja insgesamt keinen Platz zugestehen.
Regierung schürt Vorurteile
Aktivist_innen wie Balogh befürchten, dass Ungarn mit der Diskriminierung der Rom_nja an der Grenze zwei Klassen von Flüchtlingen etabliert. Überraschenderweise hatte die ungarische Regierung kurz nach dem russischen Angriff auf die Ukraine am 24. Februar der schnellen und unkomplizierten Aufnahme ukrainischer Geflüchteter in die EU zugestimmt. Denn eigentlich betreibt Regierungschef Viktor Orbán seit der sogenannten Migrationskrise im Sommer 2015 eine konsequente Abschottungspolitik – erst mit dem Bau eines 175 Kilometer und vier Meter hohen Zauns an der ungarisch-serbischen Grenze, dann mit oft gewaltsamen Rückschiebungen von Geflüchteten. Solche Pushbacks hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zwar für rechtswidrig erklärt, doch Orbán ignorierte das Urteil einfach. Die Menschenrechtsorganisation Hungarian Helsinki Committee registrierte allein im vergangenen Jahr 70.000 Pushbacks an der ungarisch-serbischen Grenze. Betroffen waren vor allem Geflüchtete aus dem Nahen und Mittleren Osten sowie aus den Maghrebstaaten.
Doch dürften Orbáns offene Arme für ukrainische Geflüchtete nichts an der rigiden Migrationspolitik ändern. Das wurde Anfang März bei seinem Besuch im ungarischen Beregsurány an der Grenze zur Ukraine deutlich. Dort sagte er: "Den Geflüchteten werden wir helfen, die Migranten müssen gestoppt werden." Er unterscheidet zwischen Ukrainer_innen, die vor dem Krieg flüchten müssen, und Migrant_innen, die angeblich Europa stürmen wollen.
Ungarischer Staat verurteilt
Ob die Rom_nja aus der Ukraine aus Sicht der ungarischen Regierung ebenfalls Flüchtlinge zweiter Klasse darstellen, wird sich zeigen. Dass sich Orbán an der Hetze gegen Rom_nja beteiligt, ist für Balogh jedenfalls nicht zu übersehen. Sie verweist auf eine Schule in der nordungarischen Stadt Gyöngyöspata, in der Rom_nja -Kinder diskriminiert wurden – so durften sie unter anderem nicht dieselben Toiletten benutzen wie die übrigen Schüler_innen. Ein Gericht verurteilte daraufhin den ungarischen Staat zu Schadenersatz, was Orbán mit der Bemerkung kommentierte, es sei unverständlich, wieso eine ethnische Minderheit so viel Geld bekomme, ohne dafür gearbeitet zu haben.
Wie sehr sich solche Vorurteile in den Köpfen der Menschen festsetzen können, zeigt ein Erlebnis, von dem die flüchtende Valeria berichtet. Als sie mit Gepäck und ihrem Kind auf dem Arm am Bahnsteig in Záhony auf den Zug wartete, kam jemand auf sie zu und meinte, sie würde die jetzige Situation ja nur ausnutzen, um sich von den Hilfsorganisationen Essen und Kleider zu ergattern. "Man glaubt uns nicht, dass auch wir vor dem Krieg flüchten müssen. Am liebsten würde man uns zurückschicken."
Klaus Petrus ist freier Journalist und Fotograf.Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.