Amnesty Journal 05. Februar 2018

Prozesse in Grautönen

Zeichnung der türkischen Dozentin Nuriye Gülmen in einem Krankenbett

Fragil: Nuriye Gülmen im Haftkrankenhaus des Sincan-Gefängnisses in Ankara, November 2017

Zeynep Özatalay und den Illustrator Murat Ba¸sol dokumentiert die Verfahren gegen Akademiker und Journalisten in der Türkei.

Von Sabine Küper-Büsch

Eine abgemagerte Gestalt liegt auf einem Bett und lächelt angestrengt. Die Zeichnung zeigt Nuriye Gülmen, eine Literaturdozentin der Universität Konya, die nach dem gescheiterten Putschversuch im Juli 2016 aufgrund eines Dekrets von Präsident Recep Tayyip Erdoğan ihre Arbeit verlor. Am 269. Tag ihres Hungerstreiks wurde die Akademikerin im Dezember wegen Mitgliedschaft in einer Terrororganisation zu sechs Jahren und drei Monaten Haft verurteilt und unter Auflagen aus der Untersuchungshaft entlassen. Sie hatte den Prozess aus dem Gefängniskrankenhaus verfolgen müssen und durfte sich zu den Vorwürfen nur über eine Satellitenschaltung äußern. Es gibt noch mehr Zeichnungen, die Nuriye Gülmen in der Untersuchungshaft zeigen. Sie alle sind blass und schattenhaft, reflektieren die bleierne Atmosphäre im Haftkrankenhaus.

Die Arbeiten der beiden Cartoonisten Zeynep Özatalay und Murat Başol sehen normalerweise ganz anders aus. Zeynep ­Özatalay ist für ihre knallbunten, von Katzen und frechen fröhlichen jungen Frauen belebten fantasievollen Zeichnungen bekannt. Murat Başol ist ein gesuchter Illustrator. Seit Monaten ­begleiten sie nun aber zusammen mit sechs weiteren Zeichnern Prozesse gegen Akademiker und Journalisten. Mehr als tausend haben wegen angeblicher Beziehungen zu Terrororganisationen ihre Arbeit verloren. Mehr als hundert von ihnen stehen nun vor Gericht. "Meine größte Schwierigkeit ist, die grausame Realität, die wir da miterleben, in einer schnell anzufertigenden Skizzenzeichnung einzufangen", sagt Zeyneb Özatalay.

Die Literaturdozentin Nuriye Gülmen und der Grundschullehrer Semih Özakça sind zu Symbolfiguren für die Ungerechtigkeiten des türkischen Justizsystems geworden. Der Lehrer ­arbeitete in einer Schule in Mardin an der syrischen Grenze und verlor seine Arbeit nach dem gescheiterten Militärputsch. Zusammen mit Nuriye Gülmen begann Özakça im November 2016 einen Sitzstreik in der Hauptstadt Ankara. Beide fordern bis heute ihre Wiedereinstellung als Lehrer und als Dozentin. Der Sitzstreik entwickelte sich zum Hungerstreik. Je mehr Gülmen und Özakça physisch an Gewicht verloren, desto mehr wuchs das öffentliche Interesse an den unbeugsamen entlassenen Lehrkräften. Am 9. März 2017, dem 75. Tag des Hungerstreiks, verhafteten Sicherheitskräfte die beiden schließlich wegen des Vorwurfs der Provokation und Propaganda.

Die Entlassung der beiden aus der Haft Ende vergangenen Jahres könnte ein taktischer Schachzug sein, um dem Duo die Aufmerksamkeit zu entziehen, für die auch die Zeichnungen von den Gerichtstagen in den sozialen Medien sorgten. "Der ganze Prozess ist eine Farce", sagt Murat Başol. "Semih Özakça wurde freigesprochen, weil alle gegen ihn angeführten Beweise ganz offensichtlich an den Haaren herbeigezogen waren." Der Angeklagte hatte etwa gegen den Vorwurf, an einem Bombenanschlag in Istanbul beteiligt gewesen zu sein, vorbringen können, dass er zu der Zeit seinen Wehrdienst ableistete. Gülmens Verurteilung sei genauso willkürlich wie Özakças Freispruch, finden die beiden Zeichner. Es existierten keine Beweise für ihre Zugehörigkeit zur Bewegung des islamistischen Predigers Fethullah Gülen. "Der Protest gegen die Entlassung aus dem Hochschuldienst wird jetzt als konspirative Aktivität und Aufwiegelung ­gewertet", sagt Özatalay, "das ist doch absurd". Der Fall Özakça und Gülmen hat für die Zeichner etwas erschütternd Ausweg­loses, sie fühlen sich hilflos. Denn trotz ihrer Haftentlassung und seines Freispruchs geht der Hungerstreik der Dozentin und des Lehrers weiter. Und seit ihrer Verhaftung im vergangenen Mai fastet auch Özakças junge Ehefrau Ezra. Alle drei haben mittlerweile ein lebensbedrohliches Stadium erreicht. Die Unrechtsjustiz treibe sie in den Tod, sagen die beiden Cartoonisten.

Die Bilder Özatalays und Başols stellen die politischen Prozesse in der Türkei als kafkaeske Szenen dar. Die Angeklagten sind die markanten Mittelpunkte jeder Zeichnung. Die wachhabenden Soldaten, die Richter, die Staatsanwälte dagegen wirken wie marionettenhafte Umrisse im Gerichtssaal. Zeichnungen wie die, die den Journalisten und Fotografen Ahmet Şık bei seiner mutigen Verteidigungsrede zeigen, dienen auch auf internationaler Ebene mittlerweile als Symbolbilder für die Abgründe der Verfolgung von Kritikern in der Türkei. Şık wurde in den ­vergangenen Jahren immer wieder angeklagt, Unterstützer von Terrororganisationen zu sein, über die er kritisch publiziert hatte. Als Zeuge im Prozess gegen Journalisten und Angestellte der oppositionellen Tageszeitung Cumhuriyet, für die auch Şık tätig war, sagte er, dass die eigentlichen Täter längst in einer Robe unter dem Dach der Justizpaläste säßen.

"Ahmet wird in Aktivistenpose mit aufrechtem Haupt und redend gezeichnet", erläutert Murat Başol. Beide Zeichner haben eine Beziehung zu den Angeklagten, ihren Angehörigen und Anwälten aufgebaut. Ihre Zeichnungen werden stets persönlich kommentiert. "Semih verteidigt sich" – "Hungerstreik wird fortgeführt" – "Haftentlassung verweigert". Diese Infos stehen als gekritzelte Kommentare am Rand der Zeichnungen. Sie schaffen eine Verbindung zwischen den Cartoonisten und den Angeklagten. Oft skizzieren die Zeichner sich auch gegenseitig als Teil des Geschehens im Gerichtssaal. Es geht ihnen nicht nur darum, den Prozess zu dokumentieren, sondern vor allem auch darum, die Angeklagten teilnehmend zu begleiten.

Seit den Gezi-Park-Protesten im Jahr 2013 sind die türkischen Medien weitestgehend gleichgeschaltet und stehen unter starker Kontrolle. Nun dienen Zeichnungen wie die der Gruppe um Özatalay und Başol zum Informationsaustausch und zur politischen Mobilisierung. Allerdings hat dies die Kunstszene vermehrt in den Fokus der Strafverfolgung gebracht. Dafür steht auch die Festnahme des Geschäftsmannes Osman Kavala im vergangenen Oktober. Kavala fördert die unabhängige Kulturszene in der Stadt am Bosporus, im südostanatolischen Diyarbakır und in anderen Teilen der Türkei. Seine gemeinnützige Firma Anadolu Kültür stärkt die Zivilgesellschaft und unterstützt Projekte von Frauen und Minderheiten sowie internationale ­Kooperationen. Kavala sitzt unter anderem im Vorstand der türkischen Niederlassung der Stiftung Open Society des amerikanischen Milliardärs George Soros. Die regierungsnahen Medien überboten sich nach Kavalas Festnahme mit Verschwörungs­theorien darüber, wie der Unternehmer als Soros-Agent den Putschversuch 2016 gefördert habe, den der amerikanische ­Geheimdienst, die pro-israelische Lobby und Erdoğans Erzfeind ­Fethullah Gülen angezettelt haben sollen. Die Tageszeitung Yeni Şafak titelte "Die Schlüsselperson des Terror-Fonds".

Die verstörende Diffamierungskampagne gegen eine der zentralen Figuren der unabhängigen Kulturszene verheiße nichts Gutes, sagt Özatalay. Aufgeben wollen sie und Başol aber nicht. "Wenn Unschuldige sich zu Tode hungern, um ein Zeichen zu setzen, nehme ich das Risiko einer Strafverfolgung in Kauf." Also werden sie weiterzeichnen. 

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