Amnesty Journal Türkei 10. April 2025

Uigur*innen im Exil: Black Box Xinjiang

Männer tragen einen riesigen umgedrehten Topfdeckel mit Essen darauf durch den Innenhof einer Moschee, wo viele Menschen auf Plastikstühlen beinander sitzen.

Im Exil: Uigur*innen feiern das Ende des Fastenmonats Ramadan (Türkei, Istanbul, 2024)

In Istanbul leben zahlreiche Uigur*innen im Exil. Doch ist es schwierig für sie, Informationen über ihre Verwandten und Bekannten im Nordwesten Chinas zu bekommen.

Aus Istanbul von Mira Schwartz (Text und Fotos)

Im Ostturkestan-Zentrum im Istanbuler Stadtteil Fatih sitzen rund 200 Menschen an Tischen, die im Innenhof des historischen Gebäudekomplexes aufgereiht sind. Helfer schöpfen Hammelfleisch und Reis aus großen Bottichen auf Pappteller – die uigurische Gemeinschaft feiert das Ende des Fastenmonats Ramadan. Sie trifft sich hier zum Essen, aber auch zum gemeinsamen Gebet. In ihrer Heimat, der Region Xinjiang im Nordwesten Chinas, die die Uigur*innen Ostturkestan nennen, wäre das Gebet bereits ein Anlass, um inhaftiert zu werden. 

Die chinesische Regierung hat in ­Xinjiang in den vergangenen zehn Jahren einen Polizeistaat aufgebaut: Bis zu einer Million Menschen befanden sich zeitweise in Umerziehungslagern, es gibt eine flächendeckende Überwachung samt Parteikadern, die bei Familien einquartiert wurden. Der deutsche Anthropologe Adrian Zenz, einer der führenden Expert*innen zum Thema Xinjiang, spricht von einem der größten Menschenrechtsverbrechen seit Jahrzehnten. Amnesty ­International berichtet seit den 1990er Jahren über schwere Menschenrechts­verletzungen in Xinjiang, ­darunter Verbrechen gegen die Menschlichkeit. In mehreren ausführlichen Berichten belegte Amnesty ein System der Internierung.

Polizeieinsatz wegen Kopftuch

Fast alle, die hier in Istanbul feiern, haben Bekannte und Verwandte, die in Xinjiang in Gefängnissen oder Lagern festgehalten werden und Zwangsarbeit leisten müssen. Der Großteil der uigurischen Gemeinschaft in Istanbul praktiziert den islamischen Glauben, so auch die 22-jährige Nefise Oğuz. Sie studiert an der Universität Istanbul Journalistik und besucht regelmäßig die Moschee. "Mein Glaube gibt mir die Kraft, weiterzumachen", sagt sie. Ihr Onkel Alim Abdulkerim wurde 2017 in China willkürlich inhaftiert. "Sein Sohn war gerade erst geboren worden", erzählt Oğuz. "Er wächst jetzt ohne seinen Vater auf." Ihr Onkel wurde zu 17 Jahren Haft verurteilt. Die ­Familie erfuhr lange Zeit nicht, was ihm vorgeworfen wurde. Nefise Oğuz, die ihm nahesteht, machte sich in Online-Netzwerken und bei öffentlichen Veranstaltungen für den heute 35-Jährigen stark. Immer wieder ging sie zum chinesischen Generalkonsulat in Istanbul und verlangte Antworten, doch man hielt sie hin. Schließlich hieß es: "Hör auf zu fragen, es sind jetzt nur noch zehn Jahre übrig", erzählt sie. 

Eine Frau mit Kopftuch steht in einer Moschee, sie trägt einen Mantel und eine Tasche in der rechten Hand.

Nefise Oğuz in einer Moschee (Türkei, Istanbul, 2024)

Erst als uigurische Journalist*innen von Radio Free Asia die Polizei im Heimatort ihres Onkels kontaktierten, gab diese die Verhaftungsgründe preis: Er habe Kontakt zu Uigur*innen im Ausland und zu islamischen Geistlichen gesucht. Und er habe religiöse Vorträge angehört. Das machte ihn in den Augen der chinesischen Behörden zu einem gefährlichen Multiplikator, der andere aufhetzen könnte. "Man geht ganz gezielt gegen die intellektuellen und religiösen Eliten vor", sagt Adrian Zenz.

Die Uigur*innen unterscheiden sich kulturell stark von der Mehrheit der Han-Chines*innen. Wie ihre Nachbar*innen in Kasachstan oder Kirgisistan sprechen sie eine Turksprache und sind Muslim*innen. Die chinesische Staatsführung begegnet den Uigur*innen mit tiefem Misstrauen, denn sie fürchtet, dass eine kulturelle Autonomie der Minderheit die Volksrepublik zersetzen könnte. Die Einheit des Landes ist jedoch Staatsdoktrin. Nachdem es 2009 in der Region Xinjiang zu einem größeren Aufstand kam und in den Folgejahren einige militante Uigu­r*in­nen Attentate verübten, ergriff der Staatsapparat immer repressivere Maßnahmen. 

Nefise Oğuz erinnert sich an einen Vorfall im Jahr 2014, als sie elf Jahre alt war und noch in Xinjiang lebte. In der Schule war es bereits damals verboten, ein Kopftuch zu tragen. Sie zog es normalerweise an der Bushaltestelle aus, aber einmal vergaß sie, es abzunehmen. "Plötzlich kamen mehrere bewaffnete ­Polizisten auf mich zu", erzählt sie. "Ich war schockiert: Bin ich eine Terroristin?" Nach dem Vorfall wurde sie vor der ganzen Klasse bloßgestellt. "Ich schämte mich sehr." Das Erlebnis war einer der Auslöser, weshalb ihre Familie 2015 in 
die Türkei ging. 

Ein Mann in Hemd und Jeanss steht auf einer abschüssigen Straße vor einer Moschee.

Memet Tohtis Mutter ist in Xinjiang interniert (Türkei, Istanbul, 2024)

Ich fühlte mich so hilflos, weil ich aus der Ferne nichts tun konnte.

Memet Tohti über inhaftierte Verwandte

Dort lebt seit 2016 auch Memet Tohti. Der 35-Jährige ist als freier Autor und Übersetzer tätig. Er arbeitete bereits in seiner Heimat für Onlinepublikationen und schrieb über damals noch unverfängliche Themen wie uigurische Bräuche. Heute würde ihn selbst das ins Gefängnis bringen. Die Grenze dessen, was erlaubt ist, hat sich immer weiter verschoben. Manche Menschen wurden im Nachhinein für "Vergehen" inhaftiert, die vormals noch erlaubt waren, wie regelmäßige Moscheebesuche oder das ­Unterrichten der uigurischen Sprache. Chinesische Behörden formulieren die Grenze des Erlaubten bewusst vage, um die Bevölkerung zu verunsichern und zu kontrollieren. Besonders viel Misstrauen ziehen Familien auf sich, die Angehörige im Ausland haben. 

Im ersten Jahr seines Exils telefonierte Memet Tohti so oft es ging mit seiner Familie in Xinjiang. "Ich wusste, dass der Kontakt jederzeit abbrechen kann", sagt er. Am Telefon sei man sehr vorsichtig und frage nur: "Wie geht es dir? Was machen die Nachbarn? Die und der haben geheiratet oder die Schule abgeschlossen." Im Jahr 2017 verlangten die chinesischen Behörden, dass er zurückkehren solle. Tohti war sich der Gefahr bewusst und blieb in Istanbul. Kurz darauf internierten die Behörden zuerst seinen jüngeren Bruder, dann auch seinen älteren. Tohtis Familie lebt auf dem Land und züchtet Tomaten. Er kann sich nicht erklären, was seine Brüder verbrochen haben sollen. "Die Regierung sieht junge Uiguren als Gefahr", sagt er. 

Uigur*innen in vielen Ländern unter Druck

Nicht nur in der Türkei wurden damals viele Uigur*innen von den chinesischen Behörden zur Rückkehr aufgefordert, sondern auch in anderen Ländern wie Ägypten. Die ägyptischen Behörden schoben sogar uigurische Studierende nach China ab. Manche flohen daraufhin aus Ägypten in die Türkei. Dort fühlen sie sich sicherer, denn zwischen den beiden Turkvölkern gibt es eine enge kulturelle Verbindung. Die große Exilgemeinschaft in Istanbul hat Bibliotheken, Kulturzentren und Abendschulen gegründet. In Stadtteilen, die bei Uigur*innen besonders beliebt sind, gibt es zahlreiche uigurische Restaurants und Geschäfte. 

Die Türkei möchte den wichtigen Handelspartner China jedoch nicht verprellen. Zwischen 2020 und 2022 löste die Polizei dort immer wieder Demonstrationen von Uigur*innen auf, die eine Freilassung ihrer Angehörigen gefordert hatten. 2024 besuchte der türkische Außenminister Hakan Fidan die Region Xinjiang und bezeichnete sie diplomatisch "als Brücke zwischen China und der Türkei". 

Der Grund, warum die Repression in Xinjiang ab 2016 massiv zunahm, war ein neuer Parteisekretär, der die Aufsicht dort übernahm. Chen Quanguo hatte zuvor fünf Jahre lang in der Autonomen Region Tibet gedient und dort bereits mit Repressionsmaßnahmen der ebenfalls auf Eigenständigkeit bedachten Tibe­ter*in­nen Erfahrungen gesammelt. So errichtete er in der tibetischen Hauptstadt Lhasa 156 Polizeiposten und ein System, bei dem sich Nachbar*innen gegenseitig überwachen sollten. In Xinjiang etablierte er umgehend Umerziehungslager. Nach Schätzungen von Expert*innen waren zeitweise eine Million Uigur*innen dort interniert. "Damit sollte der Widerstand nachhaltig gebrochen werden", sagt Adrian Zenz. Erst 2017 erfuhr die Weltöffentlichkeit von den Lagern. Amnesty erwähnte bereits im Jahresbericht 2017/2018, dass dort "zahlreiche Haft­einrichtungen geschaffen wurden" und Menschen willkürlich in Gewahrsam ­gehalten würden. 

Neuer Parteisekretär baute Lager

2022 bekam Zenz geleakte Dokumente zugespielt, die das Ausmaß der Internierungen verdeutlichen. Die Dokumente wurden als "Xinjiang Police Files" ­bekannt. 2021 hatte Amnesty International bereits einen ausführlichen Report über die Indoktrination und Folter in den ­Lagern veröffentlicht. Der Bericht stützte sich auf zahlreiche Aussagen von Zeug*in­nen. 

Nachdem seine Brüder 2017 inhaftiert worden waren, weinte Memet Tohtis Mutter jedes Mal am Telefon. Tohti schrieb damals an seiner Masterarbeit. "Es war schwer zu ertragen. Nach diesen Telefonaten konnte ich vier, fünf Tage nicht weiterarbeiten", sagt er. "Ich fühlte mich so hilflos, weil ich aus der Ferne nichts tun konnte." 2018 verschwand auch Tohtis Mutter, Baishihan Hushur, in einem Lager. "Das hat einen unbeschreiblichen Schmerz bei mir ausgelöst", sagt Tohti. Bei seinen Brüdern hatte er noch stillgehalten und gehofft, das würde ihnen helfen. Nun entschied er sich, an die Öffentlichkeit zu gehen. Bei Pressekonferenzen der Exiluigur*innen sitzt er seither mit dem Foto seiner Mutter in der Hand oft in den vorderen Reihen. 

Eine Frau mittleren Alter mit Kopftuch, Brille, in Mantel und Hose hält ein gerahmtes Foto ihrer Schwester in den Händen, sie steht auf dem Rasen im Garten einer Moschee.

Medine Nazimi mit einem Foto ihrer internierten Schwester (Türkei, Istanbul, 2024)

Dort sitzt häufig auch Medine Nazimi und hält ein Bild ihrer Schwester Mevlüde Hilal in die Kameras, die 2017 in einem Lager verschwand. Sie und andere haben sich auch an Amnesty International gewandt, Amnesty setzt sich seit 2021 für ihre Freilassung ein. Mevlüde Hilal hatte in der Türkei studiert, war jedoch nach Xinjiang zurückgegangen, als ihre Mutter krank wurde. Sie wollte sich um sie kümmern und anschließend in die Türkei zurückkehren, doch dann durften Uigur*innen gar nicht mehr ausreisen. 

Auch Medine Nazimi ging immer wieder zum chinesischen Generalkonsulat in Istanbul, um etwas über das Schicksal ­ihrer Schwester in Erfahrung zu bringen. Sie wandte sich auch an die türkischen Behörden, denn ihre Schwester hatte die türkische Staatsbürgerschaft angenommen. Medine Nazimi und andere Betroffenen organisierten Protestveranstaltungen, überreichten Petitionen und organisierten sogar eine Tour durch alle Provinzen der Türkei, um auf die Lage ihrer Verwandten aufmerksam zu machen. In Ankara wurden sie von Politiker*innen empfangen, aber selbst die türkischen Behörden konnten nichts ausrichten. 

Staatliche Zwangsarbeit

Alles, was die Angehörigen wissen, ­erfuhren sie aus spärlichen Telefonaten nach Xinjiang sowie von Freund*innen, Verwandten und Nachbar*innen. Die Informationslage bleibt dürftig. So erfuhr Medine Nazimi erst 2019, dass ihre Schwester aus der Lagerhaft entlassen, kurz darauf aber erneut inhaftiert worden war. 

Xinjiang gleicht einer Black Box. Nur ­wenige Informationen gelangen nach draußen. Einige Lager wurden inzwischen umbenannt. Die Führung habe befürchtet, mit allzu rigiden Maßnahmen die Wirtschaft der Provinz zu ersticken – und das in einer Zeit, in der sich das Wachstum in China ohnehin verlangsame, sagt Adrian Zenz. Nun solle mehr darauf geachtet werden, dass die staatliche Kontrolle der regionalen Wirtschaft nicht ­allzu stark schade.

"Form staaticher Zwangsarbeit"

Viele Insassen der Lager wurden in ­reguläre Gefängnisse verlegt, andere verschwanden spurlos. Im Rahmen eines Programms zur Armutsbekämpfung in der Region werden Uigur*innen systematisch zur Arbeit gezwungen und dafür auch in andere Provinzen geschickt, berichtet Zenz. Zwar würden die Arbei­ter*in­nen bezahlt, doch handle es sich um "eine Form von staatlicher Zwangs­arbeit". Ausländische Firmen machten sich mitschuldig, wenn sie diese Menschen beschäftigten oder Produkte chinesischer Firmen bezögen. Selbst Lieferkettenkontrollen brächten nichts. "Mit den heute gängigen Maßnahmen ist es nicht möglich, diese Form staatlicher Zwangsarbeit auszuschließen." Die einzige Lösung sieht Zenz darin, sich aus China ­zurückzuziehen. 

Die chinesischen Behörden sichern einzelnen Exiluigur*innen neuerdings zu, sie könnten gefahrlos in ihre Heimat reisen, und erlauben auch einzelnen Uigu­r*in­nen aus Xinjiang, Familienmitglieder im Ausland zu besuchen. Uigur*innen in Istanbul berichten von einem uigurischen Geschäftsmann, der sich frei bewegen könne. Er gebe dafür Informationen über die Exil-Community weiter, heißt es.

Tourist*innen in Xinjiang

Zudem lädt das staatliche chinesische Tourismusbüro ausländische Journalis­t*innen, Wissenschaftler*innen und Diplomat*innen zu geführten Touren durch Xinjiang ein, um das Image aufzupolieren. Auch Tourist*innen können die Region wieder besuchen. Was Reisende in Xinjiang zu sehen bekommen und mit wem sie reden können, wird jedoch von den chinesischen Behörden kontrolliert – auch wenn manche Reiseblogger*innen suggerieren, in Xinjiang sei alles ganz normal. 

Uigur*innen, die ausreisen dürfen, wissen jedoch, dass ihre Familie in höchster Gefahr schwebt, sollten sie über die Lage in Xinjiang sprechen oder nicht zurückkehren. China setzt auch weiterhin die Uigur*innen im Exil unter Druck. So erhielt Ahmad Khan*, der sich nach der Verhaftung eines Verwandten Protest­aktionen angeschlossen hatte, plötzlich einen Anruf. "Du kannst deinem Verwandten helfen, indem du dich in Zukunft ruhig verhältst und Informationen an uns weitergibst", sagte der Mann am Telefon. Doch Khan ließ sich davon nicht beeindrucken. Er weiß, dass auch andere solche Anrufe bekommen: "Man kann nie wissen, wer darauf eingeht", sagt er. Manche seien verzweifelt. Es gehört zur Taktik der chinesischen Behörden, Misstrauen unter den Uigur*innen im Ausland zu ­sähen.

Sich ruhig verhalten oder sich öffentlich engagieren – welche Strategie besser funktioniert, um Angehörige freizubekommen, ist unklar. Nefise Oğuz, Medine Nazimi und Memet Tohti machen jedenfalls aus Überzeugung weiter. 

*Name geändert

Mira Schwartz ist freie Journalistin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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