Amnesty Journal 15. Oktober 2021

"Fast jeden Tag passiert etwas Unerwartetes und Berührendes"

Das Bild zeigt eine überlebensgroße Holzpuppe, die von Kindern umringt wird.

Für das Theaterprojekt "The Walk" machte sich Amal, eine überlebensgroße Puppe, die ein kleines syrisches Mädchen darstellt, auf den Weg quer durch Europa – auf der Suche nach ihrer Mutter. Ein Gespräch mit dem Regisseur Amir Nizar Zuabi über Flucht und berührende wie verstörende Begegnungen auf der 8.000 Kilometer langen Reise.

Interview: Astrid Kaminski

Wie ist das länderübergreifende Kunstwerk und Großprojekt "The Walk" entstanden?
Es war eine Fortsetzung der Arbeit der Theatergruppe Good Chance. Die Organisation wurde 2015 im sogenannten Jungle von Calais von Joe Murphy and Joe Robertson gegründet. Dort hat sie monatelang mit Geflüchteten an einem Stück über deren Erfahrungen gearbeitet. Nachdem "The Jungle" später lange auf Bühnen in Großbritannien gespielt wurde und dann an den Broadway kam, wollte das Team die Geschichten bis zum Beginn der Fluchterfahrung zurückverfolgen. Dies wurde sehr lange bewegt, bis schließlich die Idee einer dreieinhalb Meter großen Puppe geboren wurde, die ein neunjähriges syrisches Mädchen namens Amal darstellt. Der ganze Prozess hat mehr als drei Jahre gedauert und entspricht genau dem, was "The Walk" ist: eine lange Reise.

Es muss sehr schwierig gewesen sein, die Puppe zu bauen: Sie muss stabil sein, aber darf nicht zu schwer sein, um sie durch den Puppenspieler im Korpus bewegen zu können.

Die Herstellung erfordert ein unglaubliches Können und Gespür. Wir wollten keine Maschinerie, keinen Kran, der die Figur durch die Gegend hebt, sondern eine sehr menschliche Puppe. Wir waren so glücklich, als die Handspring Puppet Company aus Südafrika zusagte, denn sie gehören zweifellos zu den besten Puppenbauern der Welt. Sie machten ihren Job wirklich aus Liebe zu unserem Anliegen und waren inspirierende künstlerische Partner!

Wie entstehen die Stücke vor Ort, in denen Amal spielt?

Als wir mit unserer Arbeit begannen, traf ich eine sehr klare Entscheidung: Ich wollte kein Stück schaffen, das durch Europa tourt, sondern die Orte und Städte, ihre Gemeinschaften und Gruppierungen, ihr Wissen und ihre Perspektive als Bühne einer gemeinsamen Aufführung begreifen. Es sollte um die Begegnung eines kleinen Kindes in Form einer großen Puppe mit den Menschen vor Ort gehen. Dieser Ansatz hat zu Großzügigkeit und Kreativität geführt.

Wie haben Sie das organisiert?

Meine Kollegen und Kolleginnen und ich haben die vergangenen drei Jahre mit Zoom-Gesprächen verbracht.

Wie besprechen Sie das Konzept mit den Partner_innen?

Unser Motto ist: Wenn ich eingeladen werde, bestimme nicht ich das Menü. Ich sage vielleicht, was ich nicht essen kann, ob ich Lebensmittelintoleranzen habe. Auf dieser Basis beruht unsere Zusammenarbeit mit über 250 Partnerorganisationen in 65 Orten: NGOs, Künstler_innen, lokalen Vereinen. Es war eine solch interessante Übung, ein so großes Projekt mit so vielen komplett unterschiedlichen Partner_innen zu machen. Zu vermitteln, was wir wichtig finden, zu erfahren, was ihnen wichtig ist. Auf diese Weise Begegnungen mit Zehntausenden von Menschen zu ermöglichen, dafür braucht es tatsächlich sehr viel Vertrauen. Es ist ein großer Moment, wenn das Vertrauen sich dann erfüllt: Wir kommen in eine Stadt, aus der wir die Partner nur über Zoom kennen, und erfahren dann in der Realität, wie unsere Ideen umgesetzt werden.

Amal hat sogar den Papst getroffen. Welche Situationen waren für Sie besonders berührend oder überraschend?

Fast jeden Tag passiert etwas Unerwartetes und Berührendes. Amal ruft sehr starke Emotionen in den Menschen hervor. Ich habe sehr viel Schönes erlebt. Zuletzt die Tanzperformance für im Meer verlorene Geflüchtete der palästinensisch-amerikanischen Choreografin Samar Haddad King in Marseille. Sie übertraf alle Erwartungen. Auch Amal ist übrigens eine gute Tänzerin. In Izmir zum Beispiel haben mehrere traditionelle Zeybek-Tanzgruppen sie empfangen. Sie hat das sehr genossen. 

Am Strand im türkischen Cesme traf sie auf mehrere hundert Schuhe: Eine Kunstinstallation, die für alle Menschen steht, die von dort aus aufs Meer gegangen sind und nie zurückkamen. Manche haben es geschafft, andere nicht. Als Amal das sah, also auf ihr eigenes Schicksal blickte, wurde sie für fast eine Stunde reglos. Auch die Menschen um sie herum wurden immer stiller, in sich gekehrt. Ich denke, das ist genau der Effekt, den eine Puppe besonders gut erzeugen kann: Sie kann zum Gefäß für deine eigene Geschichte werden. 

Wie begegnen die Geflüchteten der Puppe?

Es gibt so viele Begegnungen … In Turin musste eine Veranstaltung wegen starken Regens abgesagt werden. Stattdessen versammelten sich viele syrische Familien auf der Straße um Amal – das war wie eine magische Familienzusammenkunft. 

Ich habe Amals europäische Ankunft auf der griechischen ­Insel Chios mitverfolgt. Auch dort zeigten Geflüchtete wie Bevölkerung starke Empathie. Im Netz gab es jedoch auch rassistische Kommentare. Mussten Sie diese Erfahrung öfters machen?

Auf Chios hatte ich eine denkwürdige Begegnung. Eine Person, die sich in einer örtlichen Solidaritätsgruppe für Geflüchtete engagiert, kam auf mich zu und sagte: "Amal gibt uns Energie für die nächsten zehn Jahre". Die Erfahrung, wie stark Amal Menschen berührt, müssen wir zuweilen auch im negativen Bereich machen. Dass Menschen im Netz debattieren, finde ich in Ordnung, dass sie Gefühle, die sie nicht beherrschen oder verarbeiten können, abladen, damit müssen wir umgehen. Schlimm ist, wenn wir körperlich angegriffen werden. In Larissa zum Beispiel gab es eine Gruppe von gut hundert Extremisten, die uns den Weg versperren wollten und uns und die 150 griechischen Kinder, die uns begleiteten, mit Gegenständen bewarfen.

Hat die Polizei geholfen?

Ja. Aber den Versuch, uns zu stoppen, haben wir in ganz Griechenland immer wieder erlebt. 

Amal stellt ein kleines syrisches Mädchen dar. Denken Sie, dass die Reaktionen auf einen 17-jährigen afghanischen Jungen negativer ausfallen würden?

Das mag sein. Ein kleines, liebes Mädchen zu empfangen, ist einfacher. Aber der Grund, warum Amal ein Mädchen ist, liegt auch darin, dass sie andere Kinder und Frauen ermutigen soll, für sich selbst einzustehen. Ich würde jedoch genauso viel Hoffnung in einen afghanischen Jungen setzen. Beide sind sie einzigartige Individuen, die durch die Art ihrer Begegnungen geprägt werden. Beide verdienen sie dieselbe Gastfreundschaft und Verantwortung.

Sie stammen aus einer israelisch-palästinensischen Familie. Der eine Teil hat den Holocaust erlebt, der andere die Vertreibung aus dem einstigen britischen Mandatsgebiet Palästina. Hatten Sie in Amals Alter Hoffnungen auf eine Welt ohne Flucht?

Nein, in Amals Alter war ich in dieser Beziehung längst nicht mehr so naiv. Ich wuchs in einer sehr politisierten Situation in Palästina/Israel auf, zwischen Hammer und Amboss. Ein Ort, an dem man schnell erwachsen wird, an dem Fluchtgeschichten allgegenwärtig sind. Fluchtursachen wird es in dieser Welt immer geben, sie werden uns alle früher oder später treffen – vielleicht in der Zukunft in ungekanntem Ausmaß. Es geht dabei um die Frage, ob wir die Haltung gegenüber Geflüchteten ändern können, ob wir sie als Chance einer gesellschaftlichen Erneuerung sehen können. "Flüchtling" zu sein, sollte ein temporärer und kein lebenslänglicher Zustand sein. Wir dürfen uns gesellschaftlich nicht länger von Systemen leiten lassen, die wirtschaftlich nur darauf ausgerichtet sind, schnelle Lösungen statt nachhaltiger Perspektiven zu schaffen.

Astrid Kaminski ist freie Journalistin und Autorin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

Weitere Infos unter: www.walkwithamal.org

Das Bild zeigt das Porträt-Foto eines Mannes

Amir Nizar Zuabi

Geboren 1976 in Jerusalem, ist Gründungsdirektor der ShiberHur Theater Company, einer palästinensischen Theaterkompanie mit Sitz in Haifa. Zuabi war von 2009 bis 2017 stellvertretender Direktor des Londoner Theaters Young Vic. 2019 arbeitete er erstmals mit der britischen Theatergruppe Good Chance zusammen, bevor er von ihr als künstlerischer Leiter von "The Walk" engagiert wurde.

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