Amnesty Journal Taiwan 12. August 2020

Täter mit Talent

Ein Gemälde, auf dem mehrere verschlossene Tresore zu sehen sind; in einem geöffneten Tresor sitzt ein Mensch mit angezogenen Armen.

"Not who we were" ("Nicht die, die wir waren"): Unter diesem Titel hat Cheng Hsing-tse – der selbst 14 Jahre lang unschuldig im Todestrakt saß – eine Kunstausstellung von Menschen organisiert, die in Taiwan zum Tode verurteilt sind (2020).

Eine Wanderausstellung in Taiwan zeigt Kunstwerke von Menschen, die zum Tode verurteilt wurden. Sie soll für ein Umdenken in der Bevölkerung sorgen.

Von Klaus Bardenhagen, Taipeh

Ein violettes Plakat vor der Tür macht Besucherinnen und Besucher neugierig. Es zeigt viele kleine Kisten, in einer davon hockt ein Mensch. Dahinter befindet sich ein Ausstellungsraum mit großformatigen Tuschezeichnungen und chinesischen Kalligrafien. Einen Hinweis auf das Thema der Ausstellung gibt es zunächst nicht. Unter dem Titel "Not who we were" ("Nicht die, die wir waren") war sie im Juli in einem bei Touristen beliebten Viertel der Hauptstadt Taipeh zu sehen. Etwa 1.500 Besucher kamen, sagt Veranstalterin Lin Hsin-yi.""Sie mussten erst entdecken, worum es eigentlich geht. So traten sie ohne Vorurteile ein." Viele wären wohl abgeschreckt gewesen, wenn sie vorab erfahren hätten, dass die Werke in der Haft entstanden und alle Künstler zum Tode verurteilt waren oder sind. Stattdessen hörte Lin als erste Reaktion oft: "Oh, die haben Talent."

Todesstrafe für Mord

Taiwan gilt als Asiens Musterbeispiel für gelungene Demokratisierung. Zugleich ist das Land neben Japan und den USA eine der wenigen Demokratien, die noch hinrichtet. Verhängt wird die Todesstrafe ausschließlich für Mord und nur in wenigen Fällen – solchen, die in besonderem Maße Anstoß erregen. Angesichts von sensationsheischenden Medien versucht Veranstalterin Lin, die Direktorin der "Taiwan Alliance to End the Death Penalty" (TAEDP) ist, auch die Täter ins Bewusstsein zu rücken. Die Wanderausstellung, die unter anderem von Amnesty Taiwan und der EU-Vertretung in Taipeh unterstützt wird, soll genau das leisten.

Eine Frau mit schwarzgrauem Haar steht neben einem Fotokopiergerät und lächelt.

Enttäuscht von der Politik: Lin Hsin-yi, Direktorin der "Taiwan Alliance to End the Death Penalty" (TAEDP), setzt sich gegen die Todesstrafe in Taiwan ein.

 

"Die Öffentlichkeit kennt von den Verurteilten nur ihre schlimmsten Taten", sagt Lin. "Wir wollen zeigen, dass sie sich in der Haft verändern können. Nicht jeder wird ein besonders guter Mensch – aber vielleicht ein besserer als zuvor." Nötig seien weitere Reformen des Haftsystems. Ein zweiter Raum zeigt neben Briefen der Häftlinge den Nachbau einer nicht einmal fünf Quadratmeter großen Zelle, die sie sich zu zweit teilen müssen.

Unschuldig im Todestrakt

Die Idee zu der Ausstellung hatte Cheng Hsing-tse, der 14 Jahre lang unschuldig im Todestrakt saß. Auch Amnesty hatte gegen seine drohende Hinrichtung protestiert. 2017 kam er frei. Cheng hatte in der Haft Malunterricht erhalten und sah, wie das auch anderen half. In der Ausstellung, die im August in seine Heimatstadt Miaoli wanderte, zeigte er ein Landschaftsbild im traditionellen chinesischen Stil: Himmel, Berge, Wasser. Von den 15 ausgestellten Künstlern ist er der Einzige, der die Natur wieder in der Realität sehen kann. Alle anderen sitzen in Haft, bei zwölf von ihnen ist das Todesurteil bestätigt. Sie könnten jederzeit hingerichtet werden, wenn der Justizminister das anordnet – durch Erschießen, ohne vorherige Ankündigung.

Von 2006 bis 2009 galt in Taiwan ein Todesstrafen-Moratorium. In den folgenden Jahren ließ die konservative Regierung Ma Ying-jeous 33 Todesurteile vollstrecken. Nach dem Amtsantritt der eher progressiven Präsidentin Tsai Ing-wen im Jahr 2016 schöpften Aktivisten jedoch Hoffnung. Sie erklärte die Abschaffung der Todesstrafe zumindest zum Fernziel. Doch auch unter Tsai wurden zwei Häftlinge hingerichtet, zuletzt im April – ausgerechnet, als Taiwan nach gutem Corona-Management und Maskenspenden nach Europa positive Schlagzeilen machte. Umfragen zeigen, dass mehr als 80 Prozent der Taiwaner die Todesstrafe behalten wollen.

Seit 30 Jahren in Haft

"Ich bin nicht enttäuscht von der öffentlichen Meinung, sondern von den Politikern", sagt Lin Hsin-yi. "Sie haben keinen Mut, Alternativen aufzuzeigen." Erwähne man in Umfragen explizit eine lebenslange Haft ohne Möglichkeit auf Entlassung und eine Entschädigung der Opferfamilien durch Arbeit der Täter, sind dem Projekt "The Death Penalty Project" zufolge mehr als 70 Prozent für ein Ende der Todesstrafe .

38 Häftlinge sind in Taiwan derzeit zum Tode verurteilt. Amnesty setzt sich beispielsweise für Chiou Ho-shun ein, der seit mehr als 30 Jahren inhaftiert ist und berichtet, sein Geständnis sei damals unter Folter erpresst worden. Lins Organisation prüft weitere Fälle, in denen Todesurteile nur auf Grundlage von Aussagen, nicht von Beweisen gefällt wurden – auch unter den Künstlern der Ausstellung.

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