Amnesty Journal Sudan 11. Oktober 2024

Wärme im Elend

Eine afrikanische Frau, die Sudanesin Stella Gaitano, sitzt in einer Blumenwiese, sie trägt ihre geflochtenen Haare zu einem Zopf gebunden, Ohrringe und ein Tuch über die Schultern, darunter ein Sommerkleid.

Schonungslos, aber empathisch: Mit poetischen Bildern gibt Stella Gaitano den Gequälten ihre Würde zurück.

Stella Gaitano beschreibt in ihrer Kurzgeschichtensammlung "Endlose Tage am Point Zero" die bittere (süd-)sudanesische Lebenswirklichkeit.

Von Cornelia Wegerhoff

Um Mitternacht läuteten damals alle Kirchenglocken. Ein Feuerwerk erhellte den Himmel über Juba, Menschen tanzten ausgelassen auf den Straßen. Als der Südsudan 2011 seine Unabhängigkeit feierte und zum 54. Staat Afrikas wurde, wurde die Schriftstellerin und Journalistin Stella Gaitano plötzlich staatenlos. Sie lebte zu diesem Zeitpunkt in der sudanesischen Hauptstadt Khartum, wo sie geboren und aufgewachsen ist. Aber ihre Eltern stammen aus dem ­Süden des Sudans. Das machte Gaitano im Norden fortan zur Ausländerin. Sie verlor ihre Arbeit und zog nach Juba, in die "Heimat", die in Wahrheit nie eine war. Wie ihr erging es seither mehr als vier Millionen Menschen.

Aus dieser anonymen Zahl werden in Gaitanos Kurzgeschichtensammlung "Endlose Tage am Point Zero" persönliche Begegnungen. Sie quetscht die Leser*innen mit in den überfüllten Bus, in dem die nächtlichen Fahrgäste den "Geruch harter Arbeit" ausströmen. Da sitzt der vom Säckeschleppen verschwitzte Junge Tiyya, die alte Marktfrau, die nach allem riecht, was sie verkauft, oder Samira, deren Gesicht wie "ein Schlachtfeld verschiedener Farben" scheint. Schon als junges Hausmädchen wurde sie vergewaltigt, und bis heute hängt "immer der Geruch von ein, zwei Männern" an ihr. Als der überfüllte Bus in den Nil stürzt, werden Samiras Schminkkasten, der Knoblauchkorb und die anderen Habseligkeiten der ertrinkenden Passagiere zum Spielzeug der Wellen.

Mit Empathie und poetischen Bildern

Stella Gaitano beschönigt nichts. Aber ihre Empathie und ihre großartigen poetischen Bilder geben den Gequälten ihre Würde zurück. Günther Orth ist es bei der Übersetzung gelungen, sowohl die erschütternden Grausamkeiten als auch die Herzenswärme der Autorin ins Deutsche zu übertragen. Die Erzählung "Der Fluch" führt unter den Tamarindenbaum in der Mitte eines Dorfs. In "Am Point Zero" harrt ein Mann drei Jahre lang mit seinen Möbeln zwischen dem Sudan und dem Südsudan aus. Der Hausrat ist halb verrostet, als er endlich zur Familie darf, seine jüngste Tochter grüßt ihn mit "Onkel".

Die 13 Kurzgeschichten wurden auf Arabisch erstmals zwischen 2004 und 2015 veröffentlicht. Die Unabhängigkeit des Südsudans lag also dazwischen. Die politische Zerrissenheit offenbart sich hier literarisch, Gewalt und Elend lassen beide Länder nicht los. Das macht Stella Gaitanos Buch auch mit Blick auf den ­aktuellen Krieg im Sudan hochaktuell. "Hurra, ich bin tot!" lautet der Titel einer Erzählung. Sie ist aus der Sicht eines Kämpfers geschrieben, über dem schon die Geier kreisen, "wie fliegende Schnurrbärte". Der Mann erzählt, wie er sich an den Salven der Maschinengewehre berauschte und Dörfer in Brand steckte. Nun liegt er im eigenen Blut: "Ich halte meine Seele fest, so wie ich als Kind die Schnur meines Papierdrachens umklammert gehalten habe."

Die preisgekrönte Autorin, die auch im Südsudan Korruption und die Rolle der neuen Regierung im Bürgerkrieg ­beklagte, kehrte 2015 als Flüchtling nach Khartum zurück. Dort erhielt sie Morddrohungen und floh 2022 mit Hilfe eines Stipendiums des PEN-Zentrums Deutschland ins Ruhrgebiet. Selbst Blumen, die in wenigen Stunden verwelken, zeigen sich von ihrer schönsten Seite, um zu erfreuen, sagt eine ihrer Figuren, um Mut zu machen. Stella Gaitanos Kurzgeschichten zeigen Schönheit und Kraft der (süd-)sudanesischen Literatur.

Stella Gaitano: Endlose Tage am Point Zero. Erzählungen. Aus dem Arabischen von Günther Orth. ­Edition Orient, Berlin 2024, 110 Seiten, 19,80 Euro.

WEITERE BÜCHER

Kampf um Teilhabe

von Patrick Loewenstein

Sport, so heißt es oft, ist eine Kraft, die ­soziale, religiöse und kulturelle Grenzen überwindet. Der Sportjournalist Martin Krauß zeigt in seinem Buch "Dabei sein wäre alles", dass die Geschichte des modernen Sports vielmehr eine der Exklusion ist – und des Kampfes dagegen. Die kurzen Kapitel orientieren sich nicht an Sportarten, sondern an gesellschaftlichen Themen, die sich im Sport ausdrücken: Klassenfragen, Rassismus, Gleichberechtigung von Frauen, Menschen mit Behinderung, Antisemitismus, Islamophobie, Gender und Postkolonialismus.

Die "große demokratische Integrationsmaschine (...) war von Beginn an zutiefst elitär", so die Kernaussage des Autors. "Reiche, adlige, heterosexuelle, weiße und christliche Herren" begründeten Mitte des 19. Jahrhunderts vor allem in England den modernen Sport. Die "Gentlemen" schotteten sich in Vereinen und Verbänden vom Rest der Welt ab. Das Amateurstatut, das verbietet, mit Sport Geld zu verdienen, diente ihnen dazu, "sich die Proleten vom Hals zu halten". So durfte etwa Carlo Airoli, der zu Fuß von Mailand nach Athen gelaufen war, nicht am Marathonlauf der ersten Olympischen Spiele der Neuzeit teilnehmen – er hatte Preisgelder für Rennen kassiert.     
Noch immer kämpfen viele Athlet*innen um Teilhabe. Krauß führt zahlreiche aktuelle und historische Positivbeispiele von Einzel- und Mannschaftssportler*innen an, etwa vom ersten Schwarzen Boxweltmeister "Battling Siki" bis zu den offen lesbischen Tennisspielerinnen Billie-Jean King und Martina Navratilova.

"Dabei sein wäre alles" ist der detailreiche Aufruf eines Fans, den Sport "in gesellschaftlicher und politischer Hinsicht" gerechter und damit besser zu ­machen. Sehr lesenswert, auch für Menschen, die sich nicht für Sport interessieren.

Martin Krauß: Dabei sein wäre alles. Wie Athletinnen und Athleten bis heute ­gegen Ausgrenzung kämpfen. Eine neue Geschichte des Sports. Mit zahlreichen Abbildungen. C. Bertelsmann, München 2024, 448 Seiten, 28 Euro.

Worte verzweifelt gesucht

von Till Schmidt

Als "Ferman" wurden im Osmanischen Reich staatliche Erlasse bezeichnet. Für Jesid*innen hat das Wort eine eigene, grauenvolle Bedeutung. Der letzte "Ferman" begann am 3. August 2014, als die bewaffnete Gruppe Islamischer Staat (IS) in die Sindschar-Region im Nordirak einfiel. Tausende Jesid*innen wurden in der Folge systematisch versklavt, vergewaltigt und getötet. Nach der historischen Überlieferung der ethnisch-religiösen Gruppe war dies bereits das 74. Mal, dass sie Opfer genozidaler Gewalt wurde. 

Ronya Othmann ist Tochter einer deutschen Mutter und eines ­kurdisch-jesidischen Vaters. Als Journalistin beschäftigt sie sich mit den Absurditäten und Leerstellen der deutschen Debatten zu Migration, mit Rechtsextremismus, Islamismus und Antisemitismus. Als ­Literatin setzt sie sich mit der Identität, Geschichte und Verfolgung von Kur­d*innen und Jesid*innen auseinander – nicht romantisierend, sondern aufmerksam suchend und mit neugierigem Blick.

"Vierundsiebzig" heißt Othmanns neuer Roman, der den Ferman ab August 2014 thematisiert. Für ihre Recherchen reiste die 31-Jährige in den Irak und nach Syrien zu Verwandten und Überlebenden. Sie besuchte Gerichtsprozesse gegen IS-Täter*innen und war im Deutschen Bundestag, als dieser im Januar 2023 die Ereignisse im Nordirak offiziell als Völkermord anerkannte. Doch trotz aller Informationen fällt es Othmann schwer, die verstörende Bestialität der IS-Verbrechen zu beschreiben.

In ihrem Roman ringt sie um die richtigen Worte, bricht immer wieder ab, korrigiert sich, beginnt neue Gedankengänge. "Vierundsiebzig" ist ein rastloser Text, der auch nach 500 Seiten kein Ende findet. Er ist Ausdruck dessen, dass Schreiben Empowerment bedeutet und gleichzeitig kaum möglich ist angesichts genozidaler Gewalt. In dieser Spannung liegt seine beunruhigende Kraft.

Ronya Othmann: Vierundsiebzig. Rowohlt, Hamburg 2024, 512 Seiten, 26 Euro.

Abseits aller Normen

von Marlene Zöhrer

"Beziehungen mit wirklich intensiven Gefühlen hatte ich immer nur mit Frauen. War ich deshalb lesbisch? Aber in meinen sexuellen Fantasien hatte ich zwei männliche Partner. War ich ein schwuler Junge, gefangen im Körper eines Mädchens? Die Ahnung einer dritten Möglichkeit schlummerte wie ein Samenkorn ­unter der Erde." Es ist die Suche nach der eigenen Genderidentität und sexuellen Orientierung, von der die Autor*in und ­Illustrator*in Maia Kobabe in "Genderqueer" erzählt. Die Schilderungen, die in Maias früher Kindheit beginnen, über Schulzeit und Studium bis ins junge Erwachsenenalter reichen, sind ebenso einfühlsam wie explizit: Maia Kobabe lässt die Lesenden an positiven und negativen Erfahrungen, an intimen Entdeckungen, Ängsten, Albträumen und Selbstzweifeln teilhaben. 

Matthias Wieland hat den Text aus dem amerikanischen Englisch übersetzt, Linus Giese und Illi Anna Heger haben die deutschsprachige Ausgabe als Sensitivity Reader*innen begleitet. Der Grundton der autobiografischen Graphic Novel, die auch Aufklärungsbuch und Ratgeber sein kann, ist positiv und ermutigend. Die Zeichnungen sind durch ihre klare Strichführung und die ausdrucksstarke Mimik der Figuren sehr eingängig und machen die Gefühls- und Gedankenwelten für alle nachvollziehbar und verständlich.

Maias Geschichte zeigt, was es bedeutet, traditionellen Normen und Erwartungen nicht zu entsprechen und einen eigenen Weg zu finden. Dass die Unterstützung und Akzeptanz, die Maia Kobabe als nichtbinäre und asexuelle Person von Familie und Freund*innen erfährt, dabei alles andere als selbstverständlich ist, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass "Genderqueer" in den USA 2023 bereits das dritte Jahr in Folge das meist zensierte und aus Bibliotheken verbannte Buch war.

Maia Kobabe: Genderqueer – Eine nichtbinäre Autobiografie. Handlettering von Olav Korth. Aus dem ameri­kanischen Englisch von Matthias Wieland. Reprodukt, Berlin 2024, 240 Seiten, 20 Euro, ab 16 Jahren.

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