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Serbien: Wie man der Macht die Stirn bietet
Der Student Aleksa in Belgrad im Sommer 2025
© Vladimir Zivojinovic
Seit zehn Monaten protestieren viele Menschen in Serbien gegen Korruption und Autokratie. Noch hält sich Präsident Aleksandar Vučić an der Macht – doch die Regierung wankt.
Aus Belgrad von Bartholomäus Laffert (Text) und Vladimir Zivojinovic (Fotos)
Aleksa, Aleksa" skandiert die Menge bei der Kundgebung vor der Philosophischen Fakultät in Belgrad. Vor den Kameras und Mikrofonen der Journalist*innen steht ein blasser und schlaksiger junger Mann. Er hebt beide Hände zum Gruß wie ein Popstar. Bis vor wenigen Stunden kannte niemand den Namen des Philosophiestudenten. Dann ging ein Video viral, das Aleksa aufgenommen hatte. Es zeigt, wie Polizisten eine Frau auf einer Demo belästigen. Zwei Tage später sperrten ihn Polizisten in einen Wagen, befahlen ihm, seinen Instagram-Account zu löschen, und verprügelten ihn, als er sich weigerte. Ob er Angst hat? Er lächelt. "Nein, Angst haben wir schon lange nicht mehr, Angst haben die anderen." Die anderen – damit meint er den autoritär regierenden Präsidenten Aleksandar Vučić.
In Serbien wird derzeit Geschichte geschrieben. Als im November 2024 in Novi Sad, der zweitgrößten Stadt des Landes, das Bahnhofsdach einstürzte und 16 Menschen ums Leben kamen, versuchte die Regierung, die Hintergründe zu vertuschen, und löste damit eine Massenbewegung aus. Was als Protest gegen Korruption begann, entwickelte sich zur derzeit wohl größten sozialen Protestbewegung in Europa. Am 15. März erreichte sie mit einer Großkundgebung von mehr als 300.000 Menschen ihren bisherigen Höhepunkt. Fast alle Universitätsfakultäten wurden besetzt, Zehntausende Menschen – vor allem im Bildungssektor – legten ihre Arbeit nieder. Seit Ende Juni leisten Bürger*innen Tag für Tag zivilen Widerstand, indem sie zentrale Straßen im ganzen Land blockieren.
Wie ist zu erklären, dass Hunderttausende seit Monaten unermüdlich auf die Straße gehen? Wer die Dynamik dieser Bewegung begreifen will, muss ihren Gegner verstehen, sagt Nebojša Vladisavljević. Der Politikwissenschaftler an der Universität Belgrad beschäftigt sich seit Jahren mit autoritären Herrschaftssystemen und kennt die Mechanismen, mit denen sie sich an der Macht halten. "In Serbien leben wir in einem autoritären Regime postmoderner Prägung – kein klassisches Einparteiensystem wie im Kalten Krieg, sondern eines mit Mehrparteienwettbewerb, allerdings ohne faire und freie Wahlen. Der Wettbewerb ist real, aber das Spielfeld ist zugunsten der Regierung verzerrt."
Zwar gibt es freie Medien, doch können 60 Prozent der Menschen keine oppositionellen Sender empfangen. Die Repression erfolgt durch gezielte Einschüchterung. "Schlüsselpersonen aus Opposition, Medien und Kreisen der Studierenden werden von Politikern, regierungsnahen Medien und Boulevardzeitungen diffamiert und öffentlich diskreditiert", sagt der Politikwissenschaftler.
Präsident Vučić etablierte in den vergangenen 13 Jahren ein weit verzweigtes System des Klientelismus. Öffentliche Gelder fließen gezielt in die Hände regierungsnaher Netzwerke – oft am Parlament vorbei, ohne transparente Kontrolle. Auch Fördermittel der EU und Einnahmen aus milliardenschweren Projekten wie dem Stadtentwicklungsvorhaben "Belgrade Waterfront" dienen weniger dem Gemeinwohl als der Selbstbereicherung und Machtsicherung. Undurchsichtige Lithium-Deals mit internationalen Konzernen wie Rio Tinto lassen einen Ausverkauf der natürlichen Ressourcen des Landes befürchten.
Doch das System bröckelt. Der Versuch, die Ursachen für das Unglück von Novi Sad zu vertuschen, ist gescheitert. Was die Menschen auf die Straße treibt, ist Zorn, auch wenn die Gründe dafür vielfältig sind: "Alle meine Freunde leben inzwischen in Europa. Wenn ich nicht auch gehen will, muss ich jetzt etwas tun", sagt die 45-jährige Anthropologin Ana. "Vučić hat das Bildungssystem so ruiniert, dass unsere Abschlüsse international kaum noch anerkannt werden. Wenn wir das nicht stoppen, kommt die nächste Auswanderungswelle", stellt Strahinja fest, ein 20-jähriger Journalistikstudent. Der 20-jährige Vlad schwenkt eine riesige Fahne, mit dem Umriss einer Karte, auf der Kosovo als Teil Serbiens markiert ist: "Vučić lässt unsre Landsleute im Kosovo im Stich und erkauft sich so den Zuspruch des Westens". Der Bauer Zlatko protestiert dagegen, dass "das Zuhause meiner Familie in eine Lithiummine verwandelt wird". Der Aufstand speist sich aus unterschiedlichen Motiven, doch alle Beteiligten verbindet, dass es so nicht weitergehen kann.
Personalisierte Gegenwehr: Anthropologin Ana, Belgrad, Sommer 2025
© Vladimir Zivojinovic
Die Studierenden haben das Land politisiert. "Das allein ist schon ein Erfolg, denn die größte Gefahr für einen Autokraten wie Vučić ist eine wache, politisierte Bevölkerung", sagt der Politikwissenschaftler Vladisavljević. Die Studierenden bauten eine führerlose, basisdemokratische Bewegung auf. Beschlüsse wurden in offenen Plena gefasst, alles wurde kollektiv organisiert. "Das Regime ist überfordert, weil seine bewährten Repressionsstrategien ins Leere laufen", so Vladisavljević.
Propaganda verfängt kaum mehr
Es gelang den Studierenden, den Protest aus den Universitäten in die Gesellschaft zu tragen. Mit langen Protestmärschen zogen sie durchs Land, von Dorf zu Dorf, um auch dort Widerstand zu entfachen. In den Städten organisierten sie Zborovi, Nachbarschaftsversammlungen, in denen Forderungen und Strategien gemeinsam entwickelt wurden. Als die Regierung das von den Studierenden gesetzte Ultimatum für Neuwahlen Ende Juni nach einer weiteren Großdemo mit mehr als 100.000 Menschen in Belgrad verstreichen ließ, folgte massenhafter, ziviler Ungehorsam.
Seit August eskaliert die Situation. Auslöser waren brutale Angriffe maskierter Schlägertrupps mit Verbindungen zur Regierungspartei SNS auf Protestveranstaltungen in Kleinstädten wie Vrbas und Valjevo. Weil die Angreifer ungestraft davonkamen, riefen Regierungsgegner*innen unter dem Motto "Wir sind keine Boxsäcke" im ganzen Land zur Gegenwehr auf. Sie griffen Parteibüros der SNS an und setzten mehrere in Brand. Hunderte wurden festgenommen, einigen Studierenden wurde sogar ein "geplanter Staatsstreich" vorgeworfen. Vučić spricht von "Terroristen" und einer aus dem Ausland gesteuerten "Revolution".
Die Propaganda verfängt aber kaum mehr. Es entstehen immer mehr unabhängige Online-Medien und Instagram-Kanäle, die Millionen Menschen erreichen. Sie zeigen Videos von Polizeigewalt, enttarnen mutmaßlich bezahlte Unterstützer*innen der Regierung und parodieren den Präsidenten. Festgenommene, wie der 22-jährige Aleksa, der von Polizisten verprügelt wurde, werden gefeiert wie Helden. Die Schlagstöcke, die dieser Tage auf Demonstrierende niedergehen, sind ein Zeichen dafür, dass sich eine autoritäre Regierung aufbäumt, die spürt, dass ihre Zeit abläuft.
Bartholomäus von Laffert ist freier Journalist. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

