Amnesty Journal Russische Föderation 26. Juli 2021

"Angst vor dem Zerfall Russlands"

Eine ältere Frau mit rotbraunem Haar und bis zum Hals hochgeknöpftem Hemd blickt in die Kamera.

Die Politikwissenschaftlerin Margareta Mommsen hat das politische System der Sowjet­union und Russlands jahrzehntelang erforscht.  

Der Fall von Alexej Nawalny legt offen, wie Oppositionelle in Russland politisch ausgeschaltet werden. Wie reagieren nun Staat und Gesellschaft? Die emeritierte Professorin für Politkwissenschaft Margareta Mommsen erwartet kurzfristig keine großen Änderungen, zu stark sei die Propaganda für Wladimir Putin. Die 83-Jährige hat das politische System der Sowjet­union und Russlands jahrzehntelang erforscht.

Interview: Barbara Oertel

Wie würden Sie das derzeitige politische System in Russland charakterisieren?

Es ist ein autoritäres Regime, das stark auf die Person Wladimir Putin ausgerichtet ist. Man kann von Putinismus sprechen, von einem System, das auch anderen attraktiv erscheint, wie Viktor Orbán in Ungarn. In Russland gibt es keine Alleinherrschaft, kein One-Man-Regime. Aber eine One-Man-Show.

Wie funktioniert diese One-Man-Show?

Die Propaganda, die vor allem das russische Fernsehen betreibt, ist ein entscheidendes Element. Ihre zentrale Aufgabe ist es, den nationalen Führer positiv darzustellen, um im Land Zustimmung zu erzeugen. Das gelingt bislang sehr erfolgreich. Die Menschen unterliegen seit Jahrzehnten dieser Gehirnwäsche. Sie geht mit der Vorstellung einher, Russland sei eine belagerte Festung und werde ständig von außen bedroht. Der Konformismus ist immer noch sehr stark ausgeprägt.

Eine ältere Frau mit rotbraunem Haar und bis zum Hals hochgeknöpftem Hemd blickt in die Kamera.

Die Politikwissenschaftlerin Margareta Mommsen hat das politische System der Sowjet­union und Russlands jahrzehntelang erforscht.  

Der Fall des kremlkritischen Bloggers Alexej Nawalny ist eine Chiffre für die Politik in Russland geworden …

Ja, kritische oppositionelle Stimmen, die vor allem bei Jüngeren Zustimmung finden, werden mundtot gemacht. Nawalny ist seit vielen Jahren konsequent vorgegangen. Er sagt offen, dass er dieses Regime aufbrechen will. Dafür legt er den Finger in die größte Wunde des Regimes, die Korruption. Das tut dem Kreml weh. Deshalb muss Nawalny politisch vernichtet werden.

In den 1990er Jahren gab es Hoffnungen, Russland werde sich demokratisieren. Warum hat das nicht funktioniert?

Die entscheidende Frage ist, warum die liberale Verfassung von 1993 gescheitert ist. Die Antwort ist: Die damaligen politischen Akteure haben diese Verfassung schlicht nicht verstanden. So war ihnen zum Beispiel das Prinzip der Gewaltenteilung zu riskant. Danach bekamen diese Prinzipien nie wieder eine Chance. Den Höhepunkt haben wir 2020 erlebt mit dem Verfassungsputsch, mit dem sich Putin seine Präsidentschaft verlängert hat. Dahinter steckt die Vorstellung, es brauche Stabilität. Das heißt, es darf keinen Machtwechsel und keinen Pluralismus geben. Hinzu kommt die Angst vor dem Zerfall Russlands.

Welche Entwicklungen erwarten Sie in nächster Zukunft?

Ich sehe in absehbarer Zeit keine großen Änderungen. Die Duma-Wahl im September wird nach einer festgelegten Choreografie ablaufen, und die sogenannte Regierungspartei Einiges Russland wird eine Mehrheit erhalten. Daran wird intensiv gearbeitet, vor allem in den staatlichen Medien.

Und die Oppositionsbewegung?

Ein Szenario wie in Belarus ist so wenig vorstellbar wie ein ukrainisches Maidan-Szenario. Angesichts der Zustimmungsraten zu Putin wird es keinen Dammbruch geben. Auch bei vielen jüngeren Menschen gibt es keine Sehnsucht nach Demokratie, starker Gegenmacht und Opposition. Das alles ist von der Propaganda abgetötet worden.

Aber wir haben es mit Menschenrechtsverletzungen zu tun.

Das reicht für eine Mobilisierung offenkundig nicht aus. Ja, es gibt Bewegungen von unten, aber die sind apolitisch. Es geht ihnen vor allem um soziale Themen oder Natur- und Denkmalschutz. Darauf geht der Kreml sogar ein. Aber Unruhe zu stiften, öffentliche Auftritte, alles was die etablierte Macht infrage stellen könnte, gilt es unter allen Umständen zu unterbinden.

Barbara Oertel ist Journalistin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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