Amnesty Journal 05. Februar 2018

"Der Genozid ist Teil von mir"

Zeichnung einer aufgeschlagenen Zeitschrift

Die in Ruanda geborene Musikerin und Choreografin Dorothée Munyaneza widmet sich in ihrer Performance "Unwanted" den Frauen und Kindern, die Opfer von Kriegsvergewaltigungen wurden.

Interview: Astrid Kaminski

Sie haben Ihre Performance "Unwanted" den Opfern von Vergewaltigungen gewidmet und zeigen sie weltweit. Wie schaffen Sie es, sich immer wieder diesem Thema auszusetzen?

Bevor ich die Bühne betrete, denke ich an die Frauen, denen ich begegnet bin – an jene, von denen ich durch Artikel, Bücher und Dokumentationen erfuhr, vor allem aber an jene, die ich persönlich in Ruanda getroffen habe. Ich muss diese Frauen, die zu Kriegszeiten zu Opfern gemacht wurden, ganz nah heranholen, sie vor mir sehen, wie sie sitzen, sich bewegen, sprechen, singen, wie sie tanzen, weinen, lachen … Jede dieser Frauen fragte ich nach unserer Begegnung, ob ich sie fotografieren darf. Diese Fotos trage ich nun mit mir und hänge sie mir vor jeder Aufführung an den Garderobenspiegel. In ihre Gesichter zu schauen, gibt mir den Grund, auf die Bühne zu gehen. Es ist eine Art spirituelle Verbindung, die ich brauche, um ihre Wunden, ihre Hoffnung und Würde mit mir zu tragen.

Könnte es für manche Frauen verletzend sein, dass ein Mann – der Musiker Alain Mahé – bei der Performance mitmacht?

In einem Stück über eine weltweite Tatsache, dass Männer Frauen als Schlachtfeld benutzen, dass sie nicht nur in Territorien, sondern auch in Körper eindringen, muss mit der Präsenz eines Mannes sehr sensibel umgegangen werden. Mahé ist ein sehr enger künstlerischer Begleiter. Er ist Teil meiner Arbeit. Ich habe ihm die Interviews, die ich mit den betroffenen Frauen geführt habe, übersetzt, und ich überlasse es ihm, wie er sie in einer Aufführung zusammenstellt. Es war uns wichtig, mit dem Material nicht in einen automatischen Prozess zu verfallen. Wenn er mir das Mikrophon übergibt, übersetze ich die entsprechenden Stellen live. Allerdings ist mir auch wichtig, dass er nicht mit in dem femininen Raum ist, den ich mit meiner Mit-Performerin Holland Andrews auf der Bühne kreiere. Als Mann ist er daher nicht auf, sondern am Rand der Bühne.

Der Krieg in Ruanda ist nun 24 Jahre her. Sie haben ihn als Kind überlebt. Wann und wie kam die Notwendigkeit, die ­Erfahrungen künstlerisch zu verarbeiten?

Diese Geschichte ist Teil von mir, sie bewohnt mich. Das Thema war immer da. Mein Leben als Künstlerin kann sich davon nicht unabhängig machen, es ist nicht möglich, diesen Teil von mir zu dissoziieren. Durch die Arbeit am Soundtrack von "Hotel Ruanda" habe ich erlebt, dass ich durch mein künstlerisches Schaffen dazu beitragen kann, dem, was passierte, ins Gesicht zu sehen. "Samedi détente" war das Ergebnis dieser Erfahrung. Dieses Stück habe ich 2014 gemacht. 20 Jahre nach dem Krieg hatte ich die Mittel dazu, die körperliche und psychische Stärke, darüber zu sprechen. "Unwanted" ist die Fortsetzung und Erweiterung davon. Dieses Mal spreche ich nicht davon, was mir passiert ist, sondern davon, was diese Frauen erleiden mussten. Und nicht nur sie. Ich hoffe, es wird deutlich, dass ich dieses Stück auch über all die anderen Frauen gemacht habe, die dieses Verbrechen gegen die Menschlichkeit erleiden mussten und müssen – Frauen aus Ex-Jugoslawien, aus Syrien, dem Tschad.

Wie haben Sie es geschafft, Frauen zu finden, die bereit waren, über ihre Erlebnisse zu sprechen?

Das Schlimme an diesen Verbrechen ist, dass sie den Mund der Opfer versiegeln. Durch die Dokumentationen, die ich mir zu dem Thema anschaute, bin ich auf Godeliève Mukasarasi und ihre Organisation "Sevota" gestoßen. Sie hat es geschafft, Frauen, die vergewaltigt wurden, aus ihrer Einsamkeit zu befreien und zusammenzubringen, sie zum Weinen und Sprechen zu ermächtigen. Sie war meine Ansprechpartnerin. Vor ­allem auch deshalb, weil sie sich um die ländlichen Gegenden kümmert, wo es kaum Therapiemöglichkeiten gibt. Sie brachte mich zu den Frauen. Ich erzählte ihnen zunächst meine eigene Geschichte. Dann berichtete ich über meine Arbeit, über "Samedi détente" und über mein Vorhaben, mich mit den Vergewaltigungen während des Kriegs auseinanderzusetzen. Danach begannen die Frauen, von sich aus zu sprechen. Das hat mich überrascht. Ich hatte Angst vor diesem Moment: Wie würden sie reagieren? Würden sie mit mir sprechen wollen? In der ruandischen Gesellschaft gelten zudem Regeln, wonach Jüngere Ältere nicht auf alles ansprechen sollen. Darum war es etwas sehr Besonderes, als sie begannen, mir ihre Zeugenschaft zuzuflüstern.

Der Titel Ihres Stückes "Unwanted" nimmt Bezug auf die Kinder, die durch Gewalt gezeugt wurden. An einer Stelle ist ein männlicher Jugendlicher zu hören. Er klingt aufgewühlt, endet in einem rap-artigen Flow. Ist er eines der betroffenen Kinder?

Ich bin noch einmal nach Ruanda gereist und habe Kinder gesprochen, die aus den Vergewaltigungen hervorgegangen sind. Ich habe ihnen dieselbe Frage gestellt, die ich auch an die Frauen gerichtet hatte: Akzeptierst du dich selbst, nachdem dein Leben durch andere so zerstört wurde? Mein Eindruck ist, dass vieles davon abhängt, ob die Mütter es geschafft haben, ihre Kinder zu lieben. Für viele hat das sehr lange gedauert, aber sie haben es geschafft. Dennoch ist es natürlich schwierig und schmerzhaft. Schon der normale Alltag in den ländlichen Gebieten ist schwer genug. Dazu kommen die Erlebnisse und die damit einhergehenden Krankheiten der Mütter, nicht selten HIV oder Aids. Der Junge, den Sie im Stück hören, ist ein Kind, das von seiner Tante als Hyäne bezeichnet wird. Aber er ist alles andere als eine Hyäne. Er ist ein wunderbarer junger Mann, ein Dichter, ein Rapper. Seine Texte handeln davon, wie man seine eigene Menschlichkeit, seine eigene Würde finden muss.

Steht die Frage der Würde auch für die Fußbadzeremonie auf der Bühne, nach der Sie festliche Kleidung anlegen?

Ja, in diesem Moment spiegelt sich eine weitere reale Situation. Als ich die Frauen fragte, ob ich sie fotografieren darf, willigten sie ein. Aber sie zogen sich zunächst zurück. Schließlich erschienen sie in wunderschöner Kleidung. Es war wichtig für sie, dass ich ihre Verzweiflung und ihren Schmerz mit mir nehmen würde, aber auch ihre Schönheit. Darum wollte ich ein Stück machen, dass trotz allem auch Poesie in sich trägt. Ich ­fühle mich der Würde der Frauen verpflichtet. 

 

Dorothée Munyaneza zog nach dem Genozid in Ruanda 1994 als Zwölfjährige mit ihrer Familie nach London. Bei der Gestaltung des Soundtracks zum Film "Hotel Ruanda" (2004) setzte sie sich zum ersten Mal künstlerisch mit den Kriegserfahrungen ihrer Kindheit auseinander. Es folgte ihre sehr persönliche Arbeit "Samedi détente" (2014).

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