Amnesty Journal Mexiko 31. Mai 2023

Das Vermächtnis von Doña Herminia

Eine Zeichnung im Comicstil, darauf eine Frau, die schreit und Fäuste dabei ballt, sie trägt einen Rock und ein langes Oberteil, beides kastenförmig.

Szene aus dem Comic "El corazón de la neblina" ("Das Herz des Morgennebels")

Zwei Schwestern machen sich für das Nahua-Erbe der indigenen Bevölkerung Mexikos stark. Mit einem Comic über eine Volksheldin aus Milpa Alta.

Von Cornelia Wegerhoff

"Es gibt Neuigkeiten!" Die beiden Schwestern strahlen. Die ältere, Alejandra Retana Betancourt hält in Mexiko das erste gedruckte Exemplar ihres Comics vor die Kamera. "Heute wurden die Kisten mit 600 Büchern geliefert", berichtet die 29-Jährige stolz im Videogespräch. "Es fühlt sich gut an", sagt die Autorin, während sie durch die 40 Seiten blättert. Als wir uns im Sommer 2022 bei einem Kulturfestival in Berlin kennenlernten, gab es nur Fotokopien des Buchs. Auch ihre drei Jahre jüngere Schwester María José ist zufrieden. Sie ist die Zeichnerin, prüft die Farbqualität des Drucks. Fast der gesamte Comic ist in verschiedenen Grüntönen gestaltet.

Gleich auf der ersten Seite der Geschichte ragt der erloschene Vulkan Teuhtli in die Höhe. Im Tal schwebt noch ein weißer Nebelschleier über den Feldern. Die Hauptfigur Doña Herminia hält kurz inne und blickt auf die vertraute Landschaft. Mit der Hand stützt sie sich an einem dicken Baumstamm ab. Ihr zu langen Zöpfen geflochtenes Haar ist schlohweiß, ihr Rücken gebeugt. Trotzdem ist die alte Frau auf dem Weg durch den dichten Wald wie immer vorangeschritten. "Keine Feuerspuren", geben ihre Begleiter*innen Entwarnung. "Keine Spuren von Holzfällern." Es scheint alles in Ordnung zu sein. Der Urwald ist unberührt, zumindest hier.

Eine wahre Geschichte

Mit dieser Szene beginnt der Comic "El corazón de la neblina", zu Deutsch "Das Herz des Morgennebels". Es ist eine wahre Geschichte. Als die milchig weiße Sonnenscheibe den Nebelschleier auflöst, ist in der Story bereits klar, dass die Welt von Doña Herminia schon lange nicht mehr in Ordnung ist. In Milpa Alta ist nicht nur der Wald bedroht, sondern auch das kulturelle Erbe.

Milpa Alta ist ein Bezirk im äußersten Südosten von Mexiko-Stadt. Für Fremde mutet es seltsam an, dass diese ländliche Gegend mit ihren endlos langen Reihen Nopal-Kakteen und Maisfeldern zu einer der größten Metropolen weltweit gehören soll. Etwa 22 Millionen Menschen leben in der mexikanischen Hauptstadt, auch die beiden Schwestern, die Ale und Pepe genannt werden. "Milpa Alta zählt tatsächlich zur City. Aber hier wohnen nur um die 130.000 Leute. Und der Bezirk ist riesig", erklärt Ale. Der Alltag sei ganz anders als in der lauten, übervölkerten Stadt, ergänzt Pepe. Wegen der vielen Wälder, dem Ackerland und den Weideflächen wurde der Bezirk offiziell zur Schutzzone erklärt. Für diesen Sonderstatus und für das indigene Erbe von Milpa Alta machen sich die Schwestern stark. Doña Herminias Geschichte soll der Community helfen, "sich darauf zu besinnen, warum es wichtig ist, dieses angestammte Land und unser Nahua-Erbe zu schützen".

Heimkehr zu den Wurzeln

Die Nahua sind die größte indigene Volksgruppe in Mexiko. Doña Herminia Gu­tiér­rez Valencia (1922–2008) war eine wichtige Protagonistin im Kampf gegen die Enteignung des Nahua-Erbes und den illegalen Holzschlag in Milpa Alta – eine Volksheldin, nicht nur im Comic. Für die biografischen Details recherchierten Ale und Pepe in Regionalchroniken und historischen Dokumenten, sichteten alte Fotografien, sprachen mit Zeitzeug*innen und immer wieder mit ihrem Vater Jorge Retana, der aus Milpa Alta stammt.

Seine Töchter sind hingegen im Norden Mexikos aufgewachsen, nahe der Grenze zu den USA. "Trockene Wüste, der Gegensatz könnte nicht größer sein", sagt Ale. Zusammen mit den Eltern und zwei weiteren Geschwistern haben sie in den Ferien gern die zehn- bis zwölfstündige Autofahrt auf sich genommen, um die ­väterliche Verwandtschaft zu besuchen. Die grüne Umgebung, die Nähe der Menschen in den "Pueblos", den beschaulichen Ortschaften, tat ihnen gut, wie sie erzählen. Ihr Onkel brachte ihnen die ers­ten Worte Nahuatl bei, die Sprache, die schon zur Zeit der Azteken gesprochen wurde und jetzt allmählich zu verschwinden droht. Als Ale 2012 in Mexiko-Stadt ihr Literaturwissenschaftsstudium begann, war sie immer öfter in Milpa Alta zu Besuch. Pepe, die Bildende Kunst studiert hat, zog 2016 zusammen mit ihrem Vater dorthin. Während der Corona-Pandemie kam auch Ale dazu. Die Schwestern empfinden es als "Heimkehr" zu den Wurzeln, als Ankommen in ihrer eigenen indigenen Identität.

Als Autorin konzentriert sich Ale ­inzwischen auf Geschichten über den Widerstand: "Mexiko befindet sich aufgrund der Drogengewalt in einer Menschenrechtskrise. Ich schreibe, wie sich die Menschen gegen diese und andere Formen der Gewalt zur Wehr setzen." Ihre Schwester entwickelt unterdessen audiovisuelle Inhalte über mündliche Traditionen, altes Wissen und Bräuche in Milpa Alta. Comics seien eine beliebte Kunstform in Mexiko, berichtet die Künstlerin. Als japanische Mangas populär wurden, habe das auch die mexikanische Kulturszene inspiriert. Aber ihr "Morgennebel"-Comic sei nicht mexikanisch, sondern Teil der Nahua-Kultur, betont die Künstlerin. So finden sich in den Zeichnungen besondere Blumen, die nach altem Glauben "Worte zu heiligen Worten machen".

Indigenes Netzwerk

Auslöser des gemeinsamen Projekts der Schwestern war ein Aufruf des Goethe-Instituts, das 2020/21 Künstlerinnen aus dem globalen Süden einlud, Comics aus indigener feministischer Perspektive zu entwickeln. 218 Bewerbungen aus 42 Ländern gingen ein. "Morgennebel" wurde für die Online-Präsentation ausgewählt und kann auch in der englischen Version auf der Goethe-Website heruntergeladen werden. Die Autorinnen aus Mexiko wurden zu internationalen Workshops mit anderen indigenen Kulturschaffenden eingeladen. Ein Netzwerk entstand. Die indigenen Gemeinschaften weltweit stünden alle vor ähnlichen Herausforderungen, sagt Ale. Sie könnten viel voneinander lernen.

Sie fällen unsere Bäume, ermorden unsere Leute. Sie wollen uns alles nehmen.

Doña
Herminia
Zeichnung im Comicstil, ein Demonstrationszug, Menschen tragen Transparente, Männer und Frauen, und sie tragen einen Sarg, aus dem der Kopf einer Figur hervorlugt.

Szene aus "Das Herz des Morgennebels"

Auch Doña Herminia hat einst viele Menschen hinter sich versammelt und die indigene Identität dadurch wiederbelebt. In den 1970er und 1980er Jahren war die Witwe und alleinerziehende Mutter eine der wenigen Frauen, die die sogenannte "Comunero"-Bewegung in Milpa Alta anführte. Aber wie schon ihre Vorfahren zur Zeit der spanischen Eroberung mussten Doña Herminia und ihre Nachbar*innen immer wieder um ihren Besitz fürchten. Ein Holzfabrikant ließ ohne Genehmigung ihre Wälder abholzen und schreckte auch nicht vor Gewalttaten zurück, wenn es Proteste gab. "Sie fällen unsere Bäume, schlagen und ermorden unsere Leute. Sie wollen uns alles nehmen", ruft Doña Herminia im Comic eines Tages voller Wut ihren Mitstreitenden zu. Die Politik half nicht, war korrupt. Rechtliche Schritte gegen die illegale Ausbeutung des Gemeinschaftsforstes scheiterten. Doña Herminia ließ sich 1980 zur Vertreterin von San Lorenzo Tlacoyucan wählen, einem der zwölf "Pueblos" von Milpa Alta. Sie wurde verleumdet und bedroht. Es gelang ihr schließlich, weitere Enteignungen und den Kahlschlag der Wälder abzuwenden – mithilfe eines Dokuments aus dem 16. Jahrhundert. Darin hatte der Gesandte des spanischen Königs persönlich den Momoxcas, den Vorfahren der Bewohner*innen Milpa Altas, ihr Land offiziell zugesichert – für immer. Probleme blieben dennoch, bis zu ihrem Tod mit 86 Jahren blieb Doña Herminia deshalb Ortsvertreterin.

Ins kollektive Gedächtnis zurückholen

Auch heute muss die indigene Bevölkerung um ihre Rechte kämpfen, sagen die Comic-Künstlerinnen Ale und Pepe. Ihr Eigentumstitel wurde immer noch nicht amtlich registriert, weiter werde in Milpa Alta Wald illegal gerodet, würden große Bauprojekte ohne Bürgerbeteiligung geplant – dem Schutzstatus zum Trotz. Die Erfolgsgeschichte von Doña Herminia müsse deshalb ins kollektive Gedächtnis zurückgeholt werden.

Das mexikanische Kulturministerium hilft jetzt dabei. Nachdem Alejandra und María José Retana Betancourt durch das Projekt des Goethe-Instituts im Ausland immer wieder lobend erwähnt wurden, wuchs auch die Anerkennung im eigenen Land. Das Kulturministerium ließ den Comic drucken. Er soll an Gemeindebibliotheken und Kulturzentren verteilt werden und auch auf Nahuatl erscheinen. Zusätzlich wurde eine Workshop-Reihe mit Ale und Pepe in Milpa Alta organisiert. "Helfen Sie mit, Doña Herminias Vermächtnis zu erhalten", schrieb eine Frau anschließend auf ein Plakat. Eine Textilkünstlerin nähte grüne Banner und Halstücher. Da­rauf sind Comic-Szenen zu sehen und immer wieder das Porträt von Doña Herminia mit ihren weißen Zöpfen. Am 8. März 2023, dem internationalen Frauentag, trugen die Einwohnerinnen von Milpa Alta sie bei einem Protestmarsch durch die Straßen. Dank des Comics ist die Heldin zurückgekehrt, als Symbolfigur für den Kampf um das indigene Erbe.

Cornelia Wegerhoff ist freie Journalistin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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