Amnesty Journal Kolumbien 16. Januar 2023

Armee der Friedlichen

Indigene stehen vor einer Hütte an einem Waldstück und hissen eine Flagge, die im Wind weht; sie lächeln dabei.

Präsenz und Flagge zeigen: Guardia Indígenas im Cauca, Kolumbien

Die Guardia Indígena verteidigt indigene Gebiete mit pazifistischen Mitteln. In einer der konfliktreichsten Regionen Kolumbiens haben die Männer, Frauen und Kinder in den blauen Westen viel zu tun.

Aus Tacueyó von Knut Henkel (Text und Fotos)

Oveimar Tenorio steht am Rande des Versammlungshauses von Tacueyó. Aufmerksam mustert er die Umgebung, während ein Pick-up nach dem anderen auf den nahe gelegenen Parkplatz rollt. Sein Funkgerät scheppert, hin und wieder hört er zu oder gibt Anweisungen. Dazwischen begrüßt er die Neuankömmlinge. Im Versammlungshaus treffen sich heute die traditionellen Autoritäten der Indigenen aus dem Norden des Verwaltungsbezirks Cauca. Das kleine Dorf Tacueyó gehört zur Region Toribio und liegt mitten im Cauca in einer "roten Zone".

Es gibt nicht mehr viele "rote Zonen" in Kolumbien. Schon auf der kurvigen, oft steil ansteigenden Schotterpiste nach Tacueyó sieht man Transparente zu Ehren von Manuel Marulanda, dem längst verstorbenen Gründer der FARC, der ehemals ältesten Guerilla der Region. Sie hat zwar nach der Unterzeichnung eines Friedensabkommens mit der kolumbianischen ­Regierung im November 2016 die Waffen abgegeben, doch leider nicht vollständig (siehe Infokasten). Gebiete, in denen das nicht geschehen ist, nennt man "rote ­Zonen".

"Wir gehen davon aus, dass sie ihn umbringen wollten, aber er war nicht da"

Zusammen mit Oveimar Tenorio ist auch Henry Chocué nach Tacueyó gekommen. "Hier sind zwei abtrünnige Einheiten aktiv", sagt der kräftige Mann, Anfang 50, der auf der Versammlung die ­indigene Gemeinde Las Delicias vertritt. Sein Dorf und die dazu gehörenden Weiler liegen in der zerklüfteten Bergregion von Toribio, wo tiefe Schluchten und mächtige Felsen die Landschaft prägen und in Treibhäusern massenhaft Marihuana angebaut wird. "Das ist der Fluch der Region", meint Chocué und stützt sich auf seinen Bastón, einen halblangen, mit Silber beschlagenen und mit rot-grünen Bändern verzierten Stock aus einem lokalen Edelholz.

Ein junger indigener Mann im Dschungel Kolumbiens, er lacht, trägt eine Weste und ein Halstuch, kurze Haare, hinter ihm Pick-up-Geländewagen und eine hügelige bewaldete Landschaft.

"Verteidiger des Territoriums": Koordinator der Guardia Indígena Oveimar Tenorio

Oveimar Tenorio leitet mehrere Dutzend Freiwillige an, die fast alle einen Bastón mit sich führen. Sie gehören zur Guardia Indígena, einer lokalen Selbstverteidigungstruppe, die dafür sorgen soll, dass sich die traditionellen Autoritäten ­sicher fühlen können. Dass das nötig ist, zeigte Mitte September ein Angriff auf das Haus von Henry Chocué. Mehrere dissidente FARC-Guerilleros versuchten, dort einzudringen. "Wir gehen davon aus, dass sie ihn umbringen wollten, aber er war nicht da", sagt Oveimar Tenorio. Seit Jahresbeginn gab es allein im Norden des Cauca 16 Morde.

Chocué wendet seinen Blick von den Bergen und Tälern der Anden ab, die die Landschaft prägen. "Mein Name und auch der von Oveimar stehen regelmäßig auf Pamphleten der Guerilleros", erklärt er. "Wir haben Attentate überlebt. Wir erhalten telefonisch und per WhatsApp Morddrohungen. Doch wir machen weiter, weil es keine Alternative gibt", sagt Chocué. "Sie versuchen uns zu attackieren und nehmen dabei auch die traditionellen Autoritäten und die Guardia Indígena ins Visier."

Schule des Lebens

Oveimar Tenorio trägt die markante himmelblaue Weste der Guardia Indígena, auf deren Rücken "Kiwe Thegnas" aufgestickt ist. "Verteidiger des Territoriums" heißt das in der Sprache der Nasa, der zweitgrößten indigenen Bevölkerungsgruppe Kolumbiens. 97 Prozent der Bevölkerung in der Region Toribio gehören ihr an, da­runter auch Tenorio.

Der 29-Jährige kennt die Region so gut wie kaum ein anderer. Er ist in dem Dorf San Francisco aufgewachsen und lebte dort bis zum September 2021. Seit "verdächtige Gestalten" seine Lebensverhältnisse ausspionierten und wenige Tage später Kugeln in die Wände seines Hauses einschlugen, lebt Tenorio mit seiner Frau und der kleinen Tochter in Santander de Quilichao, wo die Dachorganisation der 22 Nasa-Gemeinden ihre Zentrale hat und ihm Schutz bieten kann. Zum Glück wurde bei dem Anschlag niemand verletzt, doch an eine Rückkehr nach San Francisco ist nicht zu denken, erzählt ­Tenorio.

"Unsere Aufgabe ist es, indigenes Leben und indigenes Territorium zu schützen – ganz ohne Waffen", sagt er. Zu seiner Ausrüstung gehören neben dem Bastón ein Telefon, eine Machete und ein Funkgerät, das vor allem in den Bergen zum Einsatz kommt, wo Mobiltelefone oft keinen Empfang haben. Tenorio stehen zehn Frauen und Männer zur Seite, gemeinsam leiten sie den Einsatz von 2.600 Guardia Indígenas im Norden des Cauca. Die Truppe aus Frauen, Männern und Kindern über zehn Jahren vertreibt Eindringlinge aus indigenen Gebieten und sorgt als Ordnungsdienst bei Demonstrationen, Versammlungen und vor indigenen Gerichten für Sicherheit.

Doch die Guardia Indígena ist weit mehr als das. "Sie ist vor allem eine Schule des Lebens. Wir bilden die Anführerinnen und Anführer von morgen aus, bewahren und fördern unsere eigene Identität, von der Sprache bis zu Handarbeit", sagt Tenorio. Das seien die wichtigsten Aufgaben, die er mit seinem Team zu koordinieren habe. Im Mai 2001, nach einem von Paramilitärs verübten Massaker in Naya, bei dem mindestens 27 Indigene ermordet wurden, wurde die Guardia Indígena zum Schutz der Nasa gegründet. Längst hat das Modell aber auch überregional Schule gemacht.

Ein indigener Mann steht vor einem Waldstück, Palmenblätter hinter ihm, er trägt ein Polohemd und eine Jeans und ein Halstuch.

Zählt im Cauca zu den traditionellen Autoritäten: Henry Chocué

"Im gesamten Cauca gibt es rund 10.000 Guardias, landesweit 70.000 und nicht nur indigene, auch afrokolumbianische Gemeinden haben nun Guardias", ergänzt Chocué und begrüßt Dora Mu­ñoz. Die Journalistin ist Mitte 40 und hat ein Netz von Radiostationen in den Nasa-Gemeinden mit aufgebaut. Sie gehört zu den bekanntesten Frauen in der Region. Ihrer Ansicht nach hat der Erfolg der Guardia Indígena, die bereits von Brot für die Welt und Frontline Defenders für ihre friedliche Arbeit gegen Gewalt aus­gezeichnet wurde, auch Schattenseiten: "Sie sind sichtbar, zeigen ihre Brust, wie wir hier sagen, und riskieren damit ihr Leben."

Anschläge, Morde und ein bisschen Hoffnung

Am 24. Januar 2022 erschossen Dissidenten der FARC José Albeiro Camayao, den ehemaligen Koordinator der Guardia Indígena, und den noch minderjährigen Bréiner David Cucuñame, der ebenfalls zu der Truppe gehörte. Die Morde sorgten unter den Indigenen für Angst und Schrecken und erfüllten damit genau ihren Zweck, meint die Journalistin Muñoz. Ihr Mann, José Miller Correa, wurde Mitte März ermordet. Einer der mutmaßlichen Täter wurde mittlerweile festgenommen und unter Hausarrest gestellt. Für die Witwe ist das nicht nachvollziehbar: "Ein Kapitalverbrechen – und dann Hausarrest?" Die staatlichen Stellen boten ihr weder Schutz noch anderweitige Unterstützung an. "Typisch", sagt Oveimar Tenorio. "In allen 16 Mordfällen des Jahres 2022 kommen die Ermittlungen nur schleppend voran." Zahlreiche Mörder könnten straffrei davonkommen.

Eine indigene Frau in einem Sommerkleid steht vor einer Wand und schaut ernst, ihr Haar trägt sie zusammengebunden zu einem Pferdeschwanz.

Eine der bekanntesten Frauen der Region: Die Journalistin Dora Muñoz

Im Versammlungshaus von Tacueyó sind mittlerweile die meisten Plätze besetzt. In ein paar Minuten kann die Diskussion beginnen, es soll über neue Sicherheitskonzepte und die Initiative der neuen Regierung gesprochen werden. Die Regierung hat Mitte des Jahres einen Dialog mit allen bewaffneten Akteur*innen auf regionaler Ebene begonnen. Positiv bewertet das Oveimar Tenerio, der wie Henry Chocué und Dora Muñoz bestätigt, dass die Zahl der Morde an indigenen Anführer*innen seither zurückgegangen sei.

Anders sieht es jedoch bei der Rekrutierung Minderjähriger aus. Viel zu viele würden immer noch von bewaffneten Akteuren in den Dienst genommen, meint Dora Muñoz. Das sei ein Risiko für die Familien und die Guardia Indígena, denn die mache den Bewaffneten den Nachwuchs streitig. Wer die Guardia Indígena durchlaufen habe, lasse sich nicht mehr so einfach für die Guerilla rekrutieren. Die Guardia habe außerdem in vielen Fällen Jugendliche aus den Fängen von Drogenhändlern oder der Guerilla befreit – friedlich, durch bloße Präsenz und hartnäckiges Insistieren. Das sei riskant, aber erfolgreich gewesen, sagt Dora Muñoz.

Die vielen jungen Freiwilligen in den blauen Westen, die an diesem Abend rund um den Versammlungsort in Tacueyó Präsenz zeigen, beweisen dies. Dann summt das Mobiltelefon Tenorios. Er wird zur Versammlung gerufen, denn als Koordinator der Guardia Indígena darf er nicht fehlen.

Knut Henkel arbeitet als freier Korrespondent in Lateinamerika. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

HINTERGRUND

Die FARC und der Friedensvertrag

Im Oktober 2012 begannen Friedensgespräche zwischen der kolumbianischen Regierung und der Guerilla FARC-EP (Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens – Volksarmee). Am 22. Juni 2016 wurde ein Waffenstillstand beschlossen, das Friedensabkommen wurde Ende November 2016 unterzeichnet. Nach Angaben der kolumbianischen Regierung wurden bis 2021 mehr als 12.000 Kämpfer*innen der Guerilla demobilisiert. Schon damals gab es jedoch rund 400 FARC-Kämpfer*innen, die sich abspalteten und die Waffen nicht niederlegten – viele davon in einer der Hochburgen der ehemaligen FARC, dem Bezirk Cauca (siehe Karte). Dort sind sie in den Anbau und Schmuggel von Marihuana involviert. Vor allem weil die 2022 abgewählte Regierung unter Iván Duque das Friedensabkommen nur halbherzig umsetzte, stieg die Zahl der ehemaligen FARC-Guerilleros, die wieder zur Waffe griffen. Die einstigen Kommandanten Iván Márquez und Danilo Alvizu warfen der ko­lumbianischen Regierung Vertragsbruch vor und nahmen den bewaffneten Kampf wieder auf. Derzeit wird die Zahl bewaffneter FARC-Kämpfer*innen auf 1.000 bis 2.000 geschätzt.

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