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Ein unabänderlicher Status
Beim Begriff Kastensystem denken viele sofort an Indien. Aber auch in anderen Ländern werden Menschen aufgrund ihrer Abstammung diskriminiert.
Von Monica Vincent
Die Ermordung von George Floyd im Jahr 2020 hat die weite Verbreitung von systemischem Rassismus deutlich gemacht. Diskriminierung aus Gründen rassistischer Zuschreibung, ethnischer und nationaler Herkunft oder aufgrund der Hautfarbe müssen gleichermaßen erkannt und bekämpft werden. Amnesty International nimmt aber auch die Diskriminierung aufgrund der Abstammung in den Blick. Was genau verbirgt sich hinter diesem speziellen und sperrigen Begriff?
Was ist Diskriminierung aufgrund der Abstammung?
Bei der Diskriminierung aufgrund der Abstammung werden bestimmte Personengruppen wegen ihres durch Geburt ererbten Status, ihrer Abstammung oder Vorfahren ausgegrenzt. Der ererbte Status ist im sozialen System verankert und kann nicht geändert werden – auch nicht durch Bildung, Beruf, ökonomischen Aufstieg oder Heirat. Diskriminierung aufgrund der Abstammung ist mit der Vorstellung von Reinheit und Unreinheit verbunden, sie brandmarkt Gruppen derselben Abstammung als von Natur aus "schmutzig" oder "unrein". Weltweit werden auf Abstammung basierende Gemeinschaften schlechter oder ungleich behandelt, stigmatisiert, unterdrückt und geächtet.
Was hat es mit dem Kastensystem auf sich?
Der Kastenstatus wird bei der Geburt ererbt und besteht bis zum Tod. Diskriminierung aufgrund der Kastenzugehörigkeit betrifft alle Lebensbereiche und beeinträchtigt die Chancen der betroffenen Menschen. Der Kastenstatus kann über den Beruf entscheiden, daher verwendet Amnesty auch den Begriff "Diskriminierung aufgrund von Arbeit und Abstammung". Wer sogenannten niedrigen Kasten angehört, wird als "unberührbar" bezeichnet. Dies bedeutet auch eine berufliche Isolation, ein Verbot der Heirat außerhalb der Gruppe und weitere Vorschriften, die für "Unberührbare" gelten.
Sogenannte niedere Kasten sind sozial ausgegrenzt. Ihre Räume sind von der übrigen Gemeinschaft getrennt: dies reicht von Wohnungen bis hin zu Begräbnisstätten. Mitglieder dieser Kasten dürfen nur bestimmte Arbeiten verrichten, sie können aus diesem System nicht ausbrechen, dürfen keine Mitglieder anderer Kasten heiraten, keine Güter oder Dienstleistungen mit ihnen teilen oder mit ihnen an einem Tisch essen.
Wie viele Menschen sind von Diskriminierung aufgrund der Kastenzugehörigkeit betroffen?
Schätzungen zufolge sind weltweit mehr als 250 Millionen Menschen betroffen. Die meisten Kastengemeinschaften sind in Südasien zu finden, Kastendiskriminierung ist auch in Afrika, im Nahen Osten, in der Pazifikregion und in Diasporagemeinschaften weltweit verbreitet. Außerhalb des südasiatischen Kontexts gibt es nur wenig Forschung über Diskriminierung aufgrund der Kastenzugehörigkeit.
Ist das Kastensystem vor allem ein hinduistisches Phänomen?
Kastendiskriminierung in Südasien ist mit dem Hinduismus verbunden. Die hinduistische Mythologie unterteilt die Hindu-Gesellschaft in vier Gruppen: Brahmanen, Kshatriyas, Vaishyas und Shudras. Die Ausgestoßenen oder "Unberührbaren" stehen außer- und unterhalb dieser hierarchischen Ordnung. Die Ausgestoßenen sind unter verschiedenen Namen bekannt, in Südasien bezeichnen sie sich als Dalits. Die Kastenzugehörigkeit reicht in Südasien aber über die religiösen Zugehörigkeiten hinaus: Das System hat Eingang in alle Religionen gefunden und findet auch unter Sikhs, Muslim_innen und Christ_innen Anwendung.
Und jenseits von Südasien?
In Afrika gibt es verschiedene Arten von Diskriminierung aufgrund der Abstammung, wie aus einem UN-Bericht hervorgeht: Neben der Diskriminierung aufgrund von Kastenzugehörigkeit existiert vor allem die Diskriminierung tatsächlicher oder vermeintlicher Sklav_innen. Diese Formen finden sich in Ländern wie Burkina Faso, Burundi, Kamerun, Côte d’Ivoire, Gambia, Guinea, Guinea-Bissau, Liberia, Madagaskar, Mali, Mauretanien, Niger, Nigeria, Senegal, Sierra Leone und Somalia.
Diskriminierung aufgrund der Abstammung ist ein weltweites Phänomen, das mit sozialer Ausgrenzung, institutionalisierter Unterdrückung, Gleichgültigkeit der Behörden und Gewalt einhergeht. Kastendiskriminierung existiert trotz verfassungsrechtlicher Garantien und wirkt sich negativ auf die Autonomie und Handlungsfähigkeit von Gemeinschaften aus, die durch ihre Abstammung definiert werden. Gruppen bestimmter Abstammung weisen außerdem höhere Inhaftierungsraten auf. In vielen verschiedenen Kontexten ist die Strafverfolgungsmaschinerie mit rassistischen oder kastenbezogenen Vorurteilen behaftet.
Warum haben Mitglieder von Gruppen bestimmter Abstammung keine Bildungschancen?
Aufgrund ihres sozialen Status mangelt es Gruppen bestimmter Abstammung oft an Chancen und Ressourcen. Sie sind vielmehr mit struktureller Diskriminierung und Misshandlung konfrontiert. So werden in Indien Dalit-Kinder gezwungen, in den Schulen manuelle Arbeiten wie Toilettenreinigung und Müllsammeln zu verrichten. In Japan ist die Quote der Schulabbrecher_innen unter den Buraku, einer aufgrund ihrer Abstammung marginalisierten Gemeinschaft, zwei- bis dreimal so hoch wie der nationale Durchschnitt. Im Senegal werden Kinder aus sogenannten niederen Kasten daran gehindert, mit Mitschüler_innen aus dominanten Kasten zusammenzusitzen. Frauen und Mädchen aus Gruppen bestimmter Abstammung haben einen niedrigen Bildungsstand und werden daran gehindert, eine Ausbildung zu absolvieren.
Werden Frauen und Mädchen besonders diskriminiert?
Frauen und Mädchen, die einer Gruppe bestimmter Abstammung angehören, tragen die Hauptlast der Diskriminierung, da sie zusätzlich sexualisierte Belästigung und Gewalt erfahren. Das Zusammentreffen von Geschlecht, Klasse und Kaste macht Frauen und Mädchen zur Zielscheibe von Gewalt, einschließlich Vergewaltigung und Mord. Geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen und Mädchen dieser Gruppen wird normalisiert und als Mittel eingesetzt, um abweichende Meinungen zu unterdrücken oder eine Botschaft an die gesamte Gemeinschaft zu senden und ihr die "Lektion" zu erteilen, nicht für ihre Rechte einzutreten.
Wird im internationalen Rahmen gegen Diskriminierung von Gruppen bestimmter Abstammung vorgegangen?
Seit der UN-Weltkonferenz gegen Rassismus von Durban im Jahr 2001 stehen die Rechte von Gruppen bestimmter Abstammung auf der internationalen Tagesordnung. Im Jahr 2002 bekräftigte der UN-Ausschuss für die Beseitigung rassistischer Diskriminierung, dass die Diskriminierung aufgrund der Abstammung das Kastensystem und ähnliche Systeme des ererbten Status einschließt.
Welches Ziel verfolgt Amnesty bezüglich der Diskriminierung von Gruppen bestimmter Abstammung?
Das Engagement von Amnesty für Gleichheit, Vielfalt und Inklusion gilt allen Menschen, selbstverständlich auch Gruppen, die aufgrund ihrer Abstammung und Kastenzugehörigkeit diskriminiert werden.
Monica Vincent arbeitet für Amnesty International zur Diskriminierung aufgrund von Arbeit und Abstammung. Sie lebt in Colombo, Sri Lanka.