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Damit Geschichte sich nicht wiederholt

Bäume pflanzen, um nicht zu vergessen: Schüler*innen einer ehemaligen Residential School in Brantford, Kanada, 2022
© Carlos Osorio / Reuters
In Kanada wurde 2008 eine Wahrheits- und Versöhnungskommission eingesetzt, um die Verbrechen aufzuarbeiten, die im 19. und 20. Jahrhundert an Indigenen begangen wurden. Doch die Umsetzung ihrer Vorschläge steht weiterhin aus.
Von Natalie Wenger
"Wir mussten immer beten, kniend. Sie sagten uns, wir seien kleine, dumme Wilde, die erzogen werden müssten", sagte Elaine Durocher.
"Wir haben viel gearbeitet, in der Molkerei und im Hühnerstall. Dazu kam die Hausarbeit: waschen, putzen, kochen", gab Josephine Eshkibok zu Protokoll.
"Die Schulleiterin steckte ein großes Stück Seife in meinen Mund, als sie mich dabei erwischte, wie ich meine Sprache sprach. Sie presste ihre Hand auf meinen Mund. Ich musste schlucken. Sie sagte mir, sie habe meinen Mund waschen müssen, da ich die schmutzige Sprache des Teufels benutzt habe", erinnerte sich Pierrette Benjamin.
Mehr als 3.000 starben
Elaine Durocher, Josephine Eshkibok und Pierrette Benjamin zählen zu den mehr als 150.000 Indigenen, die zwischen 1850 und 1996 als Kinder von ihren Eltern getrennt und in Internate gesteckt wurden, sogenannte Residential Schools. Die Heime wurden von der kanadischen Regierung und der katholischen Kirche betrieben, um die Schüler*innen an die Mehrheitsgesellschaft zu assimilieren. Die Kinder mussten Englisch sprechen, wurden körperlich und psychisch misshandelt, mussten schuften. Nach Angaben der kanadischen Regierung starben 3.201 Schüler*innen in den Erziehungsanstalten.
Dass die Aussagen von Überlebenden an die Öffentlichkeit kamen, ist auch der Wahrheits- und Versöhnungskommission (Truth and Reconciliation Commission, TRC) zu verdanken, die 2008 gegründet wurde. Denn bis in die 1990er Jahre hatten Regierung und katholische Kirche die Zustände in den Residential Schools geheim gehalten und Aussagen von Überlebenden als übertrieben abgetan.
Erst nachdem Phil Fontaine aus Manitoba 1990 öffentlich über seine Erfahrungen an der Fort Alexander Indian Residential School in Winnipeg sprach, machten viele Überlebende ihre Geschichten publik. Bis 2007 reichten 15.000 Personen Klage wegen sexuellen und körperlichen Missbrauchs ein. Die Regierung war gezwungen, zu handeln. Der damalige Premierminister Stephen Harper entschuldigte sich 2008 offiziell für die Politik der Assimilation, die sich bis heute negativ auf indigene Gemeinschaften auswirkt. Im selben Jahr nahm die TRC ihre Arbeit auf.
Das Leid protokolliert und im ganzen Land gezeigt
Die in die TRC gesetzten Hoffnungen waren groß: Die Mehrheit der Bevölkerung fand es wichtig, dass die dunkle Vergangenheit ans Licht kam. Der Kommission ging es weniger um Schuldzuweisungen als vielmehr darum, ein sicheres Forum zu schaffen, in dem Beschwerden geäußert und zu Protokoll gegeben werden konnten. Mehr als 6.500 Überlebende erzählten dort ihre Geschichten und enthüllten erschütternde Details über das Leben in den Residential Schools. Ihre Aussagen wurden im Fernsehen ausgestrahlt und im ganzen Land verbreitet.
Doch gab es auch Widerstand. Die Regierung zensierte Dokumente, die sie selbst belastet hätte, die Kirche verweigerte die Herausgabe von Daten, Akten wurden vernichtet. Betroffene weigerten sich, vor der TRC auszusagen, weil sie der Regierung nicht vertrauten. Viele hatten Angst, sich erneut in einer Opferrolle wiederzufinden. Mehrere indigene Gemeinschaften kritisierten, dass die TRC sich auf die Residential Schools konzentriere, den kolonialen Hintergrund und den andauernden institutionalisierten Rassismus jedoch nicht berücksichtige.
Der Schlussbericht der TRC umfasste nicht nur Geschichten der Überlebenden, sondern auch 94 Vorschläge, wie das Geschehene aufgearbeitet und entschädigt werden könnte. Premierminister Justin Trudeau versprach 2015, die Vorschläge umzusetzen, doch wurden laut dem kanadischen Medienhaus CBC bis Ende 2023 nur 13 Vorschläge vollständig ausgeführt, 18 wurden noch gar nicht angegangen. "Die Regierung greift auf Symbolpolitik zurück, setzt aber kaum substanzielle Reformen durch", sagt Guy Freedman, Berater für indigene Angelegenheiten. "Indigene werden in Kanada systematisch benachteiligt, mehr als 60 indigene Gemeinden haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Solange sich ihre Lebensumstände nicht bessern, ist eine langfristige Heilung schwierig."
Anfängliche Euphorie
Nach anfänglicher Euphorie geriet die Umsetzung der 94 Forderungen merklich ins Stocken. Eine Studie des Yellowhead Institute, einem von indigenen Völkern geleiteten Forschungs- und Bildungszentrum, stellte fest, sollte es beim derzeitigen Tempo bleiben, wären die Ziele erst im Jahr 2081 erreicht. "Kanada muss akzeptieren, dass es viele institutionalisierte Systeme gibt, die Indigenen aktiv schaden. Ansonsten kann die Diskussion über Versöhnung nicht weiterkommen", schreiben Eva Jewell und Ian Mosby in ihrem Bericht für das Yellowhead Institute.
Weltweit gab es bislang mehr als 50 Wahrheits- und Versöhnungskommissionen. Doch viele von ihnen führten zu Enttäuschungen. Die erste wurde in Uganda eingesetzt. Sie sollte Tötungen und Fälle von Verschwindenlassen durch die Regierung untersuchen, endete 1974 aber ohne konkrete Forderungen, ein Bericht wurde nie erstellt. Die wohl bekannteste Wahrheitskommission wurde 1995 in Südafrika gebildet, um die Verbrechen während der Apartheid aufzuarbeiten. Auch sie rief Kritik hervor. Bemängelt wurde vor allem, dass die Täter*innen nach öffentlichen Reuebekundungen begnadigt wurden und die Opfer keine angemessene Entschädigung erhielten. Dennoch war das Ergebnis dieser Kommission historisch bedeutsam: Erstmals wurden die Apartheidverbrechen in Südafrika öffentlich bezeugt und als Menschenrechtsverbrechen anerkannt.
Strafrecht allein heilt nicht
Obwohl Wahrheitskommissionen kein Allheilmittel sind, haben sie Gesellschaften geholfen, kollektive Traumata und Missbrauch aufzuarbeiten und scheinbar unlösbare Konflikte anzugehen, indem sie systembedingte Ungerechtigkeiten öffentlich anerkennen. Klar ist: Für ein erfolgreiches Zusammenleben nach einer traumatischen Vergangenheit braucht es mehr als die Anwendung des Strafrechts. Wahrheitskommissionen wollen den komplexen Prozess der "Vergangenheitsbewältigung" nicht allein mit der Bestrafung der Täter*innen vorantreiben, sondern auch ermitteln, wie es dazu kommen konnte. Denn nur so kann verhindert werden, dass sich die Geschichte wiederholt.
Wahrheitskommissionen können durchaus positive Veränderungen mit sich bringen. So unterzeichnete das kanadische Parlament fünfeinhalb Jahre nach dem Schlussbericht der TRC im Juni 2021 die UNO-Deklaration über die Rechte der indigenen Völker. Sie erkennt das Recht auf Selbstbestimmung und Erhalt indigener Kulturen an und verbietet Diskriminierung und Marginalisierung. Bereits zwei Jahre zuvor hatte die kanadische Regierung den Indigenous Languages Act erlassen, der den Gebrauch von indigenen Sprachen fördern soll. Die Aufarbeitung der Geschichte der Residential Schools führte auch dazu, dass sich der Papst im Juli 2022 für die Vergehen der Kirche entschuldigte. Diese Entwicklungen inspirierten Länder wie Australien und Neuseeland dazu, sich ebenfalls mit Verbrechen an Indigenen auseinanderzusetzen.
Es gibt jedoch kein Patentrezept, das Erfolg garantiert. "Jede Wahrheitskommission muss sich selbst erfinden", sagte Marie Wilson, die die Kommission in Kanada mitleitete, im Jahr 2020. Doch sollten alle Kommissionen die Opfer in den Mittelpunkt rücken. Erst dann eröffne sich ein Raum für Dialoge über Mitgefühl, Verantwortung und Transformation.
Natalie Wenger ist Redakteurin des Magazins von Amnesty Schweiz.