Amnesty Journal Italien 28. April 2025

Francesca Melandri: "Das Gegenteil von Krieg ist nicht Frieden"

Eine mittelalte Frau mit offenen Haaren, die ihr bis auf die Schultern fallen.

Francesca Melandri, geboren 1964 in Rom, gehört zu den beliebtesten italienischen Autorinnen der Gegenwart

Die Schriftstellerin Francesca Melandri über den Ukrainekrieg, ihren Vater und die Erinnerung an den Faschismus in Italien.

Interview: Till Schmidt

Sie haben mit "Kalte Füße" einen viel beachteten Essay über den Krieg gegen die Ukraine veröffentlicht. Eines Ihrer Hauptziele war, herauszufinden, was Krieg ist. Ist Ihnen das gelungen?

Ich werde nie wissen, was Krieg ist, bis zu dem Tag, von dem ich hoffe, dass er nie kommen wird: Solange mein Körper oder die Körper der Menschen, die ich liebe, nicht einem Krieg ausgesetzt sind, werde ich nicht in der Lage sein zu verstehen, was Krieg wirklich ist.

Sie haben kurz nach Kriegsbeginn mit dem Schreiben begonnen. Wie blicken Sie heute auf diesen Krieg?

Ich bin immer noch schockiert über das mangelnde Verständnis vieler Westeuropäer für die katastrophalen Ausmaße, die Bedeutung, die Relevanz, die Folgen und den schieren Horror dieses Krieges auf unserem Kontinent. Die italienischen ­Medien berichten zum Beispiel weder über den Krieg in seinen konkreten Einzelheiten noch erklären sie der Öffentlichkeit, welche Auswirkungen er wirklich hat. In "Kalte Füße" versuche ich auch klarzumachen, dass die giftigen Auswirkungen eines solchen Krieges nicht durch Wunschdenken eingedämmt werden können. Putin muss in der Ukraine gestoppt werden. Ansonsten sehe ich nicht, wie ein größerer Konflikt vermieden werden kann. Putins Hauptziel ist es, die Idee der westlichen Demokratie zu untergraben – das sagt er uns seit einigen Jahren in sehr deutlichen Worten. Der Preis unserer Untätigkeit wäre, die Existenz eines demokratischen, vereinten Europas zu gefährden, einschließlich unseres Lebensstils, unseres Wohlstands und unserer Freiheiten. Die Menschen in den baltischen Staaten, in Finnland und in Polen verstehen sehr gut, dass die Ukrainer*innen auch für uns alle kämpfen.

Wie hat sich Ihr Bezug zur ukrainischen Kultur und Geschichte verändert?

Ich habe erkannt, dass ich aufgrund meiner westeuropäischen Erziehung blind war, was die Ereignisse und die osteuropäische Geschichte insgesamt betrifft. Seit ich vier Jahre alt bin, stecke ich meine Nase in Bücher, und ich habe eine enge Beziehung zur russischen Literatur. Doch bis vor Kurzem hatte ich keine Ahnung, wie viele meiner geliebten Schriftsteller tatsächlich Ukrainer waren und welchen Anteil die ukrainische Kultur und Geschichte an der Gestaltung dessen hatte, was wir in Westeuropa verallgemeinernd "russische Kultur" nennen.

Die Generation meiner Kinder wird die volle Wucht der kommenden Stürme abbekommen.

Francesca
Melandri

Woher kommt diese Ignoranz?

Sie ist Teil eines kulturellen Ökosystems. Es gab und gibt die Auslöschung des Konzepts der Ukraine – in topografischer, ­nationaler, kultureller und in ethnischer Hinsicht. Das hat historische, politische und ideologische Gründe. Russland hat es in den vergangenen 250, 300 Jahren geschafft, seine Geschichte uns Westeuropäern so darzustellen, dass wir sie für wahr halten. Ich habe mich zum Beispiel für meinen Roman "Alle, außer mir" zehn Jahre lang mit Studien zum Kolonialismus beschäftigt, dieses Phänomen aber nie auf Russland bezogen. Das ist doch erstaunlich, oder?

In "Kalte Füße" gehen sie auch der Geschichte Ihres Vaters nach, der im Zweiten Weltkrieg als Teil der ­faschistischen Armee Mussolinis in der Ukraine kämpfte. Wann haben Sie davon erfahren?

Vor etwa zehn Jahren, als ich mich bei der Recherche für "Alle, außer mir" mit Massimo Rendina traf, einem Helden des Partisanenwiderstands. Er gehört mehr oder weniger zur selben Generation wie mein Vater und konnte mir viel über dessen Geschichte erzählen. Insgesamt war mein Vater weder ein Antifaschist, wie ich es aufgrund seiner Erzählungen lange Zeit angenommen hatte, noch ein überzeugter Faschist. Ich bekam eine Vorstellung davon, wie kompliziert die Dinge im Krieg und in totalitären Regimen sein können. Für uns, die wir in Demokratien geboren und aufgewachsen sind, ist es schwer, die Angst und Indoktrination nach Jahren totalitärer Herrschaft zu verstehen. Wir können uns nicht vorstellen, dass man für eine abweichende Meinung einen hohen Preis bezahlen muss – bis hin zum eigenen Tod.

Wie wurde "Kalte Füße" in Italien diskutiert?

Ich habe viele Briefe von Menschen bekommen, deren Väter oder Großväter im Zweiten Weltkrieg Soldaten waren. Alle gehen offen damit um, dass es ein faschistischer Krieg war. Manche haben mir geschrieben, dass sie es sehr schwierig finden, mit ihren linksliberalen Freunden und Familienangehörigen über den gegenwärtigen Ukrainekrieg zu diskutieren. 

In "Kalte Füße" kritisieren Sie den Pazifismus. Warum?

Ich liebe den Frieden, wer tut das nicht? Und niemand liebt den Frieden mehr als die Menschen, die im Krieg sind. Denn es sind ihre Körper, die verletzt und getötet werden, und die Körper ihrer Angehörigen. Pazifismus ist heutzutage aber ein leeres Konzept, denn das Gegenteil von Krieg ist nicht Frieden, sondern die Herrschaft des Rechts. Krieg ist die Herrschaft der Stärkeren, derjenigen, die mehr Menschen töten. Das Gegenteil der Herrschaft des Stärkeren wiederum ist die Herrschaft des Rechts – der Menschenrechte, der Freiheit und der Gleichheit vor dem Gesetz.

Sie befassen sich als Schriftstellerin häufig mit kontroversen und verdrängten Themen. Was bewegt Sie dazu?

Es sind keine politischen Motive, die mich dazu bewegen, sondern die menschliche Erfahrung. Selbst die intimsten, persönlichsten und emotionalsten Aspekte unseres Lebens haben auch sehr politische Anteile, wie etwa die Beziehung zu meinem Vater. Umgekehrt wirken sich politische Ereignisse immer auch auf das Intime und Persönliche aus – auf die Menschen, ihre Körper, ihre Beziehungen, ihre Liebe und ihre Angehörigen. Die Themen meiner Arbeit haben eher damit zu tun; dass ich neugierig bin und mich immer auch ein bisschen fehl am Platze fühle – in einem positiven Sinn. Ich bin ein sehr optimistischer Mensch, und manchmal kann ich einfach nicht glauben, dass Menschen so selbstzerstörerisch sind. Wenn ich auf dieses Jahr blicke, mache ich mir große Sorgen. Wir treten in eine Zeit ein, in der sich ein neues Gleichgewicht, eine neue Weltordnung abzeichnet.

Befinden wir uns in einem "Interregnum", wie Antonio Gramsci das nannte, in einer Zwischenzeit, in der die alte Ordnung stirbt, eine neue aber noch nicht geboren ist?

Ein Interregnum ist in der Regel ziemlich kompliziert, chaotisch und blutig. Die Generation meiner Kinder wird leider die volle Wucht der kommenden Stürme abbekommen, und ich würde es sehr begrüßen, wenn meine Generation weniger Energie darauf verwenden würde, sich wegen der Vergangenheit schuldig zu fühlen, sondern diese Energie nutzen würde, um mehr Verantwortung für die Zukunft zu übernehmen.

Till Schmidt ist freier Journalist. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

HINTERGRUND

Zur Autorin

Francesca Melandri, geboren 1964 in Rom, gehört zu den beliebtesten italienischen Autorinnen der Gegenwart. Mit ihrem ersten Roman "Eva schläft" wurde sie auch einem breiten deutschsprachigen Lesepublikum bekannt. Ihr zweiter Roman "Über Meereshöhe" wurde von der italienischen Kritik als Meisterwerk gefeiert. Ihr dritter Roman "Alle, außer mir" thematisiert politische und familiäre Verstrickungen während des italienischen Kolonialismus und stand in Deutschland zehn Wochen lang auf der Spiegel-Bestsellerliste. Melandris Bücher sind auf Deutsch im Verlag Klaus Wagenbach erschienen. Ihr Essay "Kalte Füße" (dt. 2024) kritisiert den westeuropäischen Blick auf den Ukrainekrieg und schildert die Geschichte ihres Vaters, der als italienischer Soldat im Zweiten Weltkrieg in der Ukraine kämpfte.

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