Amnesty Journal 07. Juli 2025

Ost-Jerusalem: Solidarisch lesen

Ein Mann sitzt in einem Buchladen hinter der Ladentheke, blättert in einem Buch, lächelt, um ihn herum Bücheregale und -tische

Mahmoud Munas Buchladen ist ein Zentrum kultureller und politischer Debatten in Ost-Jerusalem. Er will palästinensischen Stimmen eine Plattform geben. Das ist in Zeiten des Krieges nicht immer einfach.

Von Hannah El-Hitami

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Kann ein Buchladen politisch sein? Wenn es nach Mahmoud Muna geht, muss er das in bestimmten Situationen sogar. Der von vielen schlicht "Buchhändler von Jerusalem" Genannte ist davon überzeugt, dass Kulturschaffende einen Raum für Debatten öffnen müssen – vor allem dann, wenn der Staat es nicht tut. "Wir übernehmen Verantwortung, weil sowohl die palästinensische als auch die israelische Führung versagt haben", erklärte der 42-Jährige bei einem Besuch in Berlin im Januar 2025. Was er zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen kann: Etwa einen Monat ­später wird die israelische Polizei seinen Buchladen durchsuchen und Muna festnehmen.

Mahmoud Muna betreibt den Educational Bookshop (Bildungsbuchladen) in Ost-Jerusalem. Dort informieren er und seine Familie seit mehr als 40 Jahren auf Arabisch und Englisch über den Nahostkonflikt. Mit regelmäßigen Kulturveranstaltungen haben sie den ­Laden zudem zu einem Zentrum für ­kulturelle und politische Debatten ­gemacht. 

"Ich bin quasi im Buchladen aufgewachsen"

Der Educational Bookshop wurde 1984 von Munas Vater gegründet. Er war Lehrer an einer Schule im Shuafat-Flüchtlingslager in Ost-Jerusalem. Vormittags unterrichtete er dort Kinder, auch seine Söhne, in Mathematik, nachmittags betrieb er seinen Buchladen in der Salah ad-Din Straße, der Hauptstraße Ost-Jerusalems, wo vor allem palästinensische Israelis wohnen. "Ich bin quasi im Buchladen aufgewachsen", erzählt Mahmoud Muna, der seinen Vater nach der Schule stets dorthin begleitete.

Angefangen hat der Laden als arabischer Buch- und Schreibwarenladen. Das änderte sich während der ersten Intifada Ende der 1980er Jahre: "Ausländische Journalist*innen und internationale Organisationen strömten in die Region und suchten nach Informationen über den Konflikt auf Englisch", erzählt Mahmoud Muna. Damals habe sein Vater begonnen, auch englische Bücher anzubieten: "Unser Laden wurde zu dem Ort, an den Menschen gingen, die Informationen über die palästinensische Geschichte auf Englisch suchten." 

Als die Regale zu voll wurden, eröffnete Munas Familie einen eigenen Laden für englische Bücher auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Es ist ein Familienbetrieb: Sein Vater schließt nach wie vor morgens auf, Mahmoud Muna und seine drei Brüder arbeiten dort in Vollzeit. Mittlerweile bringen sie ihre eigenen Kinder mit, auch ein Urenkel krabbelt durch den Laden. Journalist*innen, Studierende oder Diplomat*innen vertrauen bei Recherchen auf die Buchempfehlungen von Munas Familie. Ein Buch, das der Buchhändler gern empfiehlt, ist etwa "Der Hundertjährige Krieg um Palästina" von Rashid Khalidi: "Ein historisches Buch für jede Art von Leser*in und die beste Quelle, um den aktuellen Moment zu kontextualisieren." Mehr als 2.000 ­Titel führt der Laden, von Autor*innen unterschiedlicher Nationalitäten. Dennoch betont Muna: "Wir sind ein palästinensischer Buchladen mit der Mission, palästinensische Stimmen zu fördern."

Familienbetrieb mit Mission

Wenn Mahmoud Muna von seinem Laden erzählt, sind sein Stolz und seine Begeisterung zu spüren. Er beschreibt einen hellen Raum im Erdgeschoss mit einer Galerie, auf der Kaffee getrunken, gelesen, gelernt und diskutiert wird. Herzstück des Ladens ist der Veranstaltungsraum, in dem regelmäßig Lesungen und Gespräche mit Autor*innen stattfinden. Inspiriert von den Schriften des palästinensischen Literaturwissenschaftlers Edward Said glaubt Muna, "dass es die Rolle des Intellektuellen ist, den Mainstream herauszufordern und immer wieder die unangenehmen Fragen zu stellen. Wenn alle glauben, dass Krieg und Nationalismus die Antwort sind, müssen wir andere Lösungen vorschlagen." Daher lade er am liebsten Autor*innen ein, die alte Denkmuster infrage stellen.

Ein Buchladen voller Menschen, die sich zwischen den Regalen und Büchertischen drängen.

Wenn alle glauben, dass Krieg und Nationalismus die Antwort sind, müssen wir andere Lösungen vorschlagen.
 

Mahmoud
Muna

Zusammen mit dem Journalisten Matthew Teller gab Muna im September 2024 selbst ein Buch heraus: "Daybreak in Gaza" ("Morgengrauen in Gaza"), in dem mehr als 100 Menschen aus Gaza ihre Geschichten erzählen. "Uns war sehr wichtig, dass das kein Tagebuch des Krieges ist, das die Leser*innen zum Weinen bringt", sagt Mahmoud Muna. "Wir wollen, dass das Publikum die Bewohner*innen Gazas als das sieht, was sie sind: als Menschen." 

Da ist zum Beispiel die Lehrerin, die in Zelten unterrichtet und Nachwuchslehrkräfte ausbildet. Oder der Anwalt, der Gerechtigkeit statt Rache ins Zentrum seiner Nachkriegsvision stellt. "Es ist beruhigend zu wissen, dass die Menschen in Gaza solchen Prinzipien folgen, dass sie sich für Bildung einsetzen und an Gerechtigkeit glauben", sagt Muna, der den Erlös des Buches für medizinische Hilfe in Gaza spendet. Einige der Autor*innen sind seit Entstehung des Buches getötet worden, die meisten leben noch immer im Kriegsgebiet. 

Dreistündige Razzia

Der Krieg in Gaza beeinflusst auch den Alltag im Buchladen. Es kommen ­weniger internationale Reisende nach ­Jerusalem. Zudem sei es schwierig, im ­aktuellen Klima Veranstaltungen zu planen: "Die Leute möchten nicht zu einem unterhaltsamen oder feierlichen Event gehen, während ihre Brüder und Schwestern ganz in der Nähe getötet werden", sagt Muna. Außerdem sei die Realität ­düster genug: "Warum sollte man da noch eine düstere Veranstaltung besuchen wollen?"

Kurz nachdem Mahmoud Muna im Januar in Berlin von diesen Herausforderungen erzählte, geriet er selbst ins Visier: Aufnahmen der Überwachungskameras im Buchladen vom 9. Februar zeigen, wie zwei Polizisten in Zivil die Regale durchsuchen. Muna ist im Hintergrund zu ­sehen. Er lehnt am Treppenaufgang, die Hände in den Taschen und beobachtet ­ruhig, wie die Polizisten Bücher durchblättern und in Tüten packen. "Sie konnten weder Englisch noch Arabisch und versuchten mithilfe des Google-Übersetzers die Titel zu verstehen", erzählt er später bei einem Telefonat. Die dreistündige Razzia endete damit, dass die Polizei etwa 300 Bücher konfiszierte – und den Buchhändler zusammen mit seinem 33-jährigen Neffen Ahmed festnahm.

Die Männer verbrachten zwei Nächte in Polizeigewahrsam, begleitet von weltweiter Berichterstattung und Solidarität. Anschließend mussten sie fünf Tage unter Hausarrest verbringen und durften den Buchladen drei Wochen lang nicht betreten. Was genau gegen sie vorliegen soll, bleibt unklar. Ursprünglich warf die Polizei ihnen vor, Bücher zu verkaufen, die "Anstiftung und Unterstützung von Terrorismus" enthielten. Als sich herausstellte, dass dafür jegliche Grundlage fehlte, wurde ihnen stattdessen "Störung der öffentlichen Ordnung" angelastet. Inzwischen arbeiten Muna und sein Neffe längst wieder im Buchladen. Über den aktuellen Stand der Ermittlungen haben sie keine Informationen.

Muna glaubt nicht, dass die Razzia dem Educational Bookshop oder ihm persönlich galt. Vielmehr sieht er den Auftritt der Polizei als Teil einer zunehmend rechtsgerichteten Politik in Israel, die Einschränkung von Kultur- und Meinungsfreiheit normalisiert, ähnlich wie in den USA: "Allein die Tatsache, dass ein Polizist einen Buchladen betritt und Bücher überprüft, ist in einer Demokratie ein No-Go. Die rechte Regierung schafft ein Klima, in dem das plötzlich in Ordnung ist und in dem Polizisten sich so ein Verhalten erlauben können."

Hannah El-Hitami ist freie Journalistin und lebt in Berlin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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