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Widerstand aus Tradition
Unter den Aufständischen im Iran sind sehr viele Kurd*innen. Polizei, Milizen und Militär gehen deshalb in den kurdischen Gebieten besonders hart gegen Protestierende vor.
Von Hêlîn Dirik
Als Geburtsorte der derzeitigen Protestwelle gelten die Provinz Kurdistan und andere kurdische Gebiete im Iran. Ein Grund dafür ist, dass die 22-jährige Jina Mahsa Amini, die am 16. September 2022 in Polizeigewahrsam starb, Kurdin war. Bei ihrer Beisetzung in ihrer kurdischen Heimatstadt Saqqez protestierten Tausende Menschen gegen die Regierung und ihre Repressionsorgane. Von dort aus verbreitete sich der Aufstand im ganzen Land und entwickelte sich unter dem Slogan "Jin Jiyan Azadî" (Frau, Leben, Freiheit) zu einer Revolution. Überall wehren sich seither Frauen gegen die Zwangsverschleierung und staatliche Gewalt. Und dabei blieb es nicht: In allen 31 Provinzen des streng islamischen und überwiegend schiitisch geprägten Landes wurde in den vergangenen Monaten zum Sturz der politischen und religiösen Führung aufgerufen.
Radikale Forderungen nach einem Systemwandel kommen insbesondere aus den kurdischen Gebieten des Landes, von Kurd*innen selbst als Rojhilat (Osten) bezeichnet. Kurd*innen sind im Iran schon lange politisch organisiert. Sie wurden bereits während des Schah-Regimes, vor der Entstehung der Islamischen Republik 1979, unterdrückt und leisteten dagegen Widerstand. Die iranischen Behörden waren sich des Potenzials dieser Widerstandstradition sehr wohl bewusst, als sie versuchten, eine öffentliche Beisetzungszeremonie für Jina Mahsa Amini und damit auch Massenproteste zu verhindern.
"Kurdistan wird das Grab der Faschisten sein"
Doch konnte die Regierung den Beginn der "Jina-Revolution" nicht aufhalten. Die kurdischen Gebiete und die Region Belutschistan im Südosten (siehe Kasten), wo viel Armut herrscht und die Mehrheit der Bevölkerung der sunnitischen Minderheit angehört, sind nun Zentren des Aufstands. In Rojhilat wehrt sich die Bevölkerung seit Monaten entschlossen gegen die Sicherheitskräfte. Auf den Straßen sind Parolen zu hören wie: "Kurdistan wird das Grab der Faschisten sein". Jede Woche gibt es Streiks, und in vielen Stadtteilen bilden sich revolutionäre Jugendgruppen.
Die Regierung geht mit exzessiver Gewalt gegen die Proteste vor. Nach Angaben des Kurdistan Human Rights Network töteten die Sicherheitskräfte seit September 2022 mindestens 120 Kurd*innen. Unter den Menschen, denen die Hinrichtung droht, weil sie sich an Protesten beteiligten, sind sehr viele Kurd*innen. Der 22-jährige Kurde Mehdi Karami wurde bereits hingerichtet (siehe Seiten 18 und 19). Täglich machen Berichte über Verschleppungen kurdischer Protestierender die Runde, Informationen über ihren Verbleib gibt es nicht.
Die staatliche Gewalt eskaliert besonders dort, wo die Bevölkerung massenhaft auf die Straßen geht und Errungenschaften erzielt. So besetzten Protestierende zum Beispiel im kurdischen Bukan im November das Rathaus und mehrere Regierungsgebäude. Die Regierung reagierte darauf mit einer Truppenverstärkung in kurdischen Städten und tödlichen Schüssen auf Protestierende. In der Stadt Javanrud nahm die Repression nach Gedenkprotesten für ermordete Protestierende am 31. Dezember deutlich zu. In den beiden folgenden Wochen wurden nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Hengaw mindestens 40 Kurd*innen aus Javanrud verschleppt.
Angriffe auch außerhalb Irans
Die Gewalt der iranischen Sicherheitskräfte gegen Kurd*innen beschränkt sich nicht nur auf das Inland. Am 24. September begannen die iranischen Revolutionsgarden Stützpunkte kurdisch-iranischer Exilparteien im Nordirak zu bombardieren. Dabei wurde auch eine Siedlung von Geflüchteten in Koya angegriffen.
Die iranische Regierung warf den kurdischen Parteien vor, die Aufstände angestiftet zu haben. Seit Jahrzehnten stellen die Behörden jegliche kurdische Organisierung als terroristische und separatistische Verschwörung dar. Kurd*innen werden regelmäßig aufgrund solcher Anschuldigungen inhaftiert und hingerichtet. Die jüngste Behauptung des hochrangigen Klerikers Ahmad Khatami, Kurdisch sei "die offizielle Sprache der Hölle", unterstreicht die antikurdische Haltung der politischen und geistlichen Führung im Iran.
Kurdische Parteien werteten die Angriffe in Nordirak als ein Manöver, um zu verhindern, dass sich der Aufstand ausbreitet. Zudem wolle die Regierung davon ablenken, dass er sich nicht auf die kurdischen Gebiete beschränkt, sondern große Teile der Bevölkerung umfasst. Sanaz*, eine kurdische Aktivistin aus Saqqaz, erklärt: "Das Regime hat Angst davor, dass andere Teile des Landes sich ein Beispiel an Kurdistan nehmen. Denn Kurdistan war schon immer eine Quelle revolutionärer Ideen."
"Jin Jiyan Azadî" – Slogan aus kurdischer Bewegung
Der Slogan "Jin Jiyan Azadî" etwa, der zum zentralen Slogan des Aufstands geworden ist, stammt aus der kurdischen Bewegung, die seit mehr als 40 Jahren gegen die Unterdrückung der Kurd*innen in den Staaten Syrien, Irak, Türkei und Iran kämpft. Bekanntheit erlangte die Parole durch die Frauenrevolution in Rojava im Norden Syriens, wo die Frauenverteidigungseinheiten YPJ erfolgreich gegen die bewaffnete Gruppe Islamischer Staat (IS) kämpften.
Dass diese Parole nun auch in der Revolution im Iran eine bedeutende Rolle spielt, verdeutlicht den grenzübergreifenden Charakter der Kämpfe und Ideen von Kurd*innen in verschiedenen Staaten, die sich gegenseitig beeinflussen. Auf die Frage nach Perspektiven für die Zukunft des Iran antwortet Sanaz: "Direkte Demokratie durch ein Rätesystem ist der einzig sichtbare Ausblick." Die aus dem kurdischen Kirmaşan stammende Aktivistin Sana* betont die Notwendigkeit eines grundlegenden sozialen Wandels: "Die Grausamkeit geht nicht nur vom Regime aus. Frauen müssen sich zum Beispiel auch gegen ihre Ehemänner oder Väter wehren. Es wird noch ein langer Kampf – und wir alle müssen zu Freiheitskämpfer*innen werden."
* Die Namen wurden zum Schutz der Personen abgekürzt.
Hêlîn Dirik ist freie Journalistin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.
HINTERGRUND
Auch in Sistan-Belutschistan finden große Demonstrationen gegen die Regierung statt. Dafür gibt es mehrere Gründe. Die Provinz im Osten, an der Grenze zu Afghanistan, zählt zu den ärmsten Regionen des Irans. Die Mehrheit der Bevölkerung gehört der ethnischen Minderheit der Belutschen an, die überwiegend Sunniten sind. Diese Glaubensrichtung wird im Iran, wo der schiitische Islam Staatsreligion ist, zwar geduldet, aber benachteiligt.
Hinzu kommt, dass es in Sistan-Belutschistan separatistische Kämpfer*innen gibt. Die Staatsmacht sieht daher nahezu jeden Protest als Unterstützung des Terrorismus an. Amnesty International hat ermittelt, dass etwa ein Viertel der Personen, die im ersten Halbjahr 2022 im Iran hingerichtet wurden, Belutsch*innen waren, obwohl deren Bevölkerungsanteil bei nur fünf Prozent liegt.
Die jüngsten Proteste begannen, nachdem ein 15-jähriges Mädchen im September 2022 mutmaßlich durch einen Polizeikommandanten vergewaltigt worden war. Der 30. September ging als "blutiger Freitag" in die iranische Geschichte ein. In der Provinzhauptstadt Zahedan töteten Sicherheitskräfte durch gezielte Schüsse mindestens 66 Demonstrierende, darunter zehn Minderjährige. Der jüngste Getötete, Javad Pousheh, war elf Jahre alt.