Amnesty Journal Iran 24. Februar 2020

Aufstand der Jungen und Zerlumpten

Junge Menschen versammeln sich während einer Demonstration unter einer Brücke, manche von ihnen sitzen auf Motorrollern, im Hintergrund ziehen Rauschschwaden an einer Moschee vorbei.

Zeitenwende im Iran: Zehn Jahre nach der Grünen ­Revolution 2009 sind Intellektuelle und Mittelschicht nur noch Zaungäste des Aufstands gegen das Regime. Nun wendet sich die arme Bevölkerung vom korrupten Establishment der Islamischen Republik ab.

Von Farhad Forouzandeh

Das Tränengas brannte in ihren Augen, doch Nahid Shirpisheh war noch immer euphorisch. Endlich wagten sich die Menschen auf die Straße, endlich revoltierten sie gegen dieses verfluchte Regime. "Tod dem Diktator!", riefen die Leute um sie herum, niemand schien mehr Angst zu haben. "Das ist die schönste Nacht meines Lebens", sagte Nahid Shirpisheh zu ihrer Tochter. Zehn Minuten später trugen Demonstranten die Leiche ihres Sohnes an ihr vorbei.

Das Jahr 2019 sollte für die iranischen Machthaber eigentlich ein Festjahr werden, denn die Islamische Republik wurde 40 Jahre alt. Doch stattdessen erlebte das Regime die größte Krise seiner Geschichte. Im November 2019 rebellierten Hunderttausende Menschen gegen die Herrschaft der Mullahs. In den Slums von Teheran ebenso wie in den verelendeten Dörfern der Provinz, vom Kaspischen Meer bis an den Persischen Golf, ein ganzes Land schien in Aufruhr. Ausländische Kommentatoren sahen bereits das Ende des Regimes gekommen.

Doch die Machthaber waren bestens vorbereitet. Zunächst knipsten sie überall im Iran das Internet aus, keine Bilder der Proteste sollten sich verbreiten können. Dann ließen sie die Demonstrationen niederschießen. Nahid Shirpisheh verlor ihren Sohn in Karadsch, einer Großstadt am westlichen Rand von Teheran. Eine Kugel hatte den 28-Jährigen am Kopf getroffen. Vermutlich war er ins Visier eines Scharfschützen geraten, weil er mit seinen 1,90 Meter aus der Menge herausragte.

Bis heute ist unbekannt, wie viele Menschen bei der Niederschlagung der Proteste ums Leben kamen. Die Machthaber setzten alles daran, die massenhaften Tötungen zu vertuschen. Eltern mussten unterschreiben, über den Tod ihrer Kinder nicht öffentlich zu sprechen. Anderen Familien wurden die Leichen ihrer Angehörigen nicht ausgehändigt. Amnesty International konnte durch die Analyse von Handyvideos nachweisen, dass mindestens 304 Menschen starben, die Nachrichtenagentur Reuters geht sogar von 1.500 Toten aus.

Schützenhilfe aus den USA
Ausgerechnet der Erzfeind USA kam dem Regime unverhofft zur Hilfe. Nur wenige Wochen nach Ausbruch der Proteste ließ Donald Trump den iranischen Top-General Kassem Soleimani töten. Der US-Präsident wollte damit die Führung um Ali Khamenei schwächen, doch bewirkte er zunächst das Gegenteil: Soleimani war für viele Menschen im Iran ein Volksheld, weil er die Terrororganisation Islamischer Staat im Irak besiegt hatte. Auch Regimegegner trauerten um den General und betrachteten seine Tötung als Aggression gegen ihr Land. Die Führung in Teheran konnte die Bevölkerung einmal mehr in nervöse Kampfbereitschaft versetzen und ihre Gegner als Agenten des Westens denunzieren.

Als Nahid Shirpisheh eine Trauerfeier für ihren getöteten Sohn abhalten wollte, marschierten vor dem Friedhof bewaffnete Männer in Uniform auf, in der Luft kreisten Helikopter. Die Sicherheitskräfte führten Nahid Shirpisheh und ihren Ehemann ab. Auch die Schwester des Getöteten verschleppten sie, ebenso seine Großeltern, zwei seiner Onkel und ein elfjähriges Kind. Bis heute fehlt von einem Großteil der Familie jede Spur. Es war kein Einzelfall: Mindestens 7.000 Menschen sind seit den Protesten verschwunden.

Die Repressionen der Machthaber zeigen, wie nervös die Führung in Teheran ist. Die Menschen begehrten auf, weil sie kaum noch etwas zu verlieren haben. Die Islamische Republik steckt in der schlimmsten Wirtschaftskrise ihrer Geschichte. Wegen der US-Sanktionen ist das Land vom Welthandel praktisch abgeschnitten. Die Landeswährung ist seit Jahren im freien Fall. Viele Familien können sich selbst Grundnahrungsmittel wie Hähnchen oder Rindfleisch nicht mehr leisten. Ein Drittel der Bevölkerung lebt inzwischen unter der Armutsgrenze.

Taktische Toleranz
"Ali Khamenei spielt Gott, doch wir leben wie Bettler!", war bei den Demonstrationen zu hören. "Nieder mit Palästina!" und "Lasst Syrien in Ruhe!", skandierten andere. Das Regime solle sich um die Armut im Land kümmern, anstatt dem syrischen Diktator Baschar al-Assad beim Völkermord unter die Arme zu greifen oder die Hisbollah im Libanon aufzurüsten. Die meisten Menschen protestierten friedlich, andere setzten staatliche Banken, Militärbasen und islamische Seminare in Brand – als Symbole des verhassten Systems.

Die Proteste markieren für den Iran eine historische Zäsur: Die Ärmsten des Landes galten stets als die loyalsten Anhänger der Islamischen Republik. In der Vergangenheit wurden regimekritische Proteste fast ausschließlich von der Mittelschicht getragen, die Demonstrationen konzentrierten sich auf Teheran und ein Dutzend andere große Städte. So war es bei den Studentenunruhen 1999 und bei der Grünen Revolution im Jahr 2009. Doch dieses Mal waren die Intellektuellen und die Mittelschicht nur Zaungäste des Aufstands.
Das Bürgertum hat die Machthaber in Teheran schon immer von Herzen gehasst. Die Menschen sehnten sich nach Freiheit, Demokratie und kulturellem Wandel. Doch kaum jemand war bereit, dafür sein Leben zu opfern. Manche versuchten, das Land zu verlassen, andere flüchteten in Shopping, Sex und Drogen. Das Regime übte taktische Toleranz: Wir lassen euch Partys feiern, dafür lasst ihr uns an der Macht!

Die existenziellen Nöte der unteren Schichten sind für die Herrschenden dagegen sehr viel gefährlicher als der chronische Frust der Mittelschicht. Das wirtschaftliche Elend stellt die Legitimität der Islamischen Republik radikal in Frage. Denn die Islamisten waren einst mit dem Versprechen angetreten, im Iran soziale Gerechtigkeit zu schaffen. Wer die Revolution von 1979 im Rückblick als eine rein religiöse Massenbewegung versteht, unterliegt einer Täuschung: Die iranische Revolution war weniger ein islamischer als vielmehr ein proletarischer Aufstand.

Khomeini sprach die Sprache des Volks
Die Wut der armen Massen richtete sich damals gegen einen despotischen Schah, der in operettenhaftem Reichtum lebte, während seine Untertanen in den Slums der Großstädte und in verelendeten Dörfern hungerten. Als erstes begehrten die Marxisten und Liberalen gegen das Unrecht auf. Doch erst als Ajatollah Khomeini das Wort ergriff, wurde aus dem Protest des Bürgertums tatsächlich ein Aufstand des Volkes. Khomeini war Sohn eines armen Wanderpredigers, er sprach im Gegensatz zu den hochgebildeten Sozialisten die Sprache des Volkes. Seine Worte konnten auch Basarhändler, Tagelöhner und fromme Analphabeten verstehen. "Der Islam steht für die Bewohner der Slums, nicht für die Bewohner der Paläste!", versprach er ihnen. "All die Geknechteten, Ausgebeuteten und Hungernden werden endgültig die Freiheit erringen."

Die Barfüßigen und Zerlumpten wurden zu Khomeinis ­treusten Anhängern. Die Revolution schenkte ihnen Würde und Selbstbewusstsein – und brachte sie auch an die Macht. Fast alle Politiker, Staatsbeamte und Funktionäre, die durch die Revolution nach oben kamen, stammten aus den Armenvierteln der Großstädte oder dem Basar. Das gleiche gilt für ihre Schlägertrupps: In den Slums und Dörfern schlossen sich Millionen junge Männer den Revolutionswächtern an, um Khomeinis Herrschaft mit der Waffe zu verteidigen. Die Mullahs errichteten eine islamische Diktatur des Proletariats. Dass Khomeini nach der Machtergreifung weiter wie ein asketischer Mönch lebte, machte ihn für die armen Massen besonders glaubwürdig. Bis zu seinem Tod schlief der greise Diktator in einem schmucklosen Zimmer und ernährte sich fast ausschließlich von Reis und Jogurt.

Von den sozialen Versprechen der Revolution ist nicht mehr viel übriggeblieben. Der Iran gilt heute als eines der korruptesten Länder der Welt. Wer es zu etwas bringen will, braucht die richtigen Kontakte. Die Eliten des Landes beherrschen bis zu 80 Prozent der iranischen Wirtschaft, schätzt das Auswärtige Amt in Berlin. Mullahs, die einst die westliche Dekadenz des Schahs verurteilten, leben heute wie russische Oligarchen. Die führenden Kleriker des Landes setzen mit Banken, Hotels und Fabriken jedes Jahr Milliarden um. Weil sie ihre Konzerne als "religiöse Wohltätigkeitsstiftungen" tarnen, müssen sie weder Steuern zahlen noch ihre Bücher offenlegen.

Wirtschaftsmacht Revolutionswächter
Auch die Revolutionswächter sind längst ein mafiöses Wirtschaftsimperium, das unter anderem den Immobilienmarkt in Teheran dominiert. Die Wächter kontrollieren zudem alle See- und Flughäfen des Iran und können damit entscheiden, welche Waren ins Land gelangen. Auch der Schwarzmarkt ist daher fest in ihrer Hand. Die US-Sanktionen sind gut fürs Geschäft: Viele Güter aus dem Westen gelangen nur noch über ihre Schmuggelrouten ins Land. Das gilt selbst für Waren wie Alkohol oder Satellitenschüsseln, die im Iran verboten sind.

Schon in den neunziger Jahren kursierten im Iran erste Gerüchte über die Raffgier der Mullahs und Militärs. Doch galt lange das ungeschriebene Gesetz, Reichtum in der Öffentlichkeit nicht zu zeigen. Die neuen Eliten gaben sich alle Mühe, weiterhin als arme Schlucker zu erscheinen: Männer trugen abgewetzte Anzüge, wenn sie ihre Villen verließen, Frauen versteckten ihre Dior-Kleider unter dem Tschador.

Erst in den vergangenen Jahren kam das ganze Ausmaß der staatlichen Korruption und Vetternwirtschaft ans Licht. Eine große Rolle spielte dabei das Internet: Die Kinder des Establishments haben keine Scheu mehr, ihren extravaganten Lebensstil in den sozialen Netzwerken zur Schau zu stellen. Zum Beispiel Sasha Sobhani, einer der meist gehassten Menschen im Iran. Der 32-Jährige ist Sohn eines früheren Diplomaten, auf Instagram hat er mehr als eine Million Follower. Er postet Bilder seiner knallbunten Ferraris, jede Woche scheint er sich einen neuen zuzulegen. Und er zeigt, wie wenig fromm es auf seiner Jacht in Dubai zugeht: Sobhani feiert dort im Bademantel mit Champagner, hartem Techno und jungen Frauen in Dessous.

Die Doppelmoral der Eliten erfüllt viele im Iran mit Zorn – besonders die Jugendlichen ohne Zukunftsperspektiven empfinden inzwischen nur noch Abscheu für das Establishment. Unter den jungen Menschen ist mindestens jeder Vierte arbeitslos, manche Experten gehen gar von 40 Prozent aus. Andere haben zwei, drei Berufe gleichzeitig und können ihre Rechnungen trotzdem nicht mehr bezahlen. Ihre Armut wird zur Anklage gegen das System.

Die Ohnmacht der Herrschenden
Dass die Herrschenden den sozialen Protest blutig niedergeschlagen haben, ist kein Zeichen der Stärke, sondern Beweis ihrer Ohnmacht. Sie haben keine andere Wahl mehr, als sich mit Waffengewalt gegen die eigene Bevölkerung zur Wehr zu setzen. Doch die Proteste reißen nicht ab. Als der Konflikt mit den USA im Januar zu eskalieren drohte, schossen die Revolutionswächter versehentlich ein Passagierflugzeug über Teheran ab, alle 176 Passagiere starben. Die iranische Führung sprach zunächst von einem technischen Unfall, um das Versagen ihres Militärs zu vertuschen. Die Menschen im Iran sind es gewohnt, von ihrer Regierung angelogen zu werden. Doch dieses Mal gingen Tausende auf die Straße, um gegen die Lüge zu demonstrieren. Selbst Vertreter des Establishments gingen nach der Flugzeugkatastrophe auf Distanz zur Führung, die Risse im System werden tiefer.

Solange der Unterdrückungsapparat noch loyal ist, wird das Regime wohl weiter überleben können. Aber der Widerstand wird nicht mehr verstummen. Keines der wirtschaftlichen Probleme ist gelöst. Teheran hat sich international weiter isoliert und sich vor den Augen aller massiv ins Unrecht gesetzt. Vor allem die Repression im November 2019 wird sich tief ins kollektive Gedächtnis des Landes eingraben – so wie einst die Massaker des Schahs, die den Despoten schließlich zu Fall brachten.

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