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Aufrüstung im Zeichen der Ringe

Frankreich ist das erste Land in der Europäischen Union, das biometrische Überwachung zulässt. Aktivist*innen befürchten, dass diese Technologie nach den Olympischen Spielen von Paris zum Alltag gehören wird – auch in anderen Staaten Europas.
Aus Paris von Ronny Blaschke
Wenn man Natsuko Sasaki auf die Versprechen der Sportfunktionäre anspricht, dann schüttelt sie den Kopf, atmet tief durch und wirkt genervt. In einer Zeit, in der unter anderem in der Ukraine und in Gaza Tausende Menschen getötet werden, sollen die Olympischen Spiele in Paris für Weltoffenheit und Demokratie werben – das behaupten zumindest die Führungskräfte des Internationalen Olympischen Komitees (IOC). Doch die Aktivistin Natsuko Sasaki hält das für eine Illusion. "Die Olympischen Spiele können die Zivilgesellschaft sogar schwächen", sagt sie. "Denn der Sicherheitsapparat wird hochgerüstet."
Sasaki, die sich im Bündnis Saccage 2024 gegen Olympia stark macht, hebt vor allem die Videoüberwachung im öffentlichen Raum hervor. Im Mai 2023 hatte das französische Parlament ein Gesetz verabschiedet, das die Nutzung von Kamerasystemen mit Künstlicher Intelligenz (KI) erlaubt. Die Unterstützer*innen dieser Technik behaupten, Algorithmen würden dabei helfen, verdächtiges Verhalten früh zu erkennen. Dazu gehörten das Identifizieren von unbeaufsichtigtem Gepäck, gefährlichen Gegenständen oder schnell wachsenden Menschenansammlungen, in denen eine Massenpanik ausbrechen könnte.
Gefahr für die Meinungs- und Demonstrationsfreiheit
Einige Parlamentsabgeordnete aus der Partei von Präsident Emmanuel Macron behaupteten, diese Technologie hätte den Terroranschlag von Nizza im Jahr 2016 verhindern können. Mithilfe Künstlicher Intelligenz hätte der Lastwagen entdeckt und gestoppt werden können, bevor er in die Menge fuhr, so ihr Argument. Frankreich ist nun das erste Land der Europäischen Union, das biometrische Überwachung zulässt. Vorerst bis März 2025. Danach sollen die Erfahrungen während der Olympischen Spiele vom 26. Juli bis 11. August ausgewertet werden.
Natsuko Sasaki geht davon aus, dass die KI-gestützte Technologie auch nach 2025 in Frankreich genutzt wird. Sie ist in Japan aufgewachsen und hat genau verfolgt, wie die Sicherheitsarchitektur vor den Olympischen Spielen im Jahr 2020 in Tokio ausgeweitet wurde, die dann wegen Corona erst ein Jahr später stattfinden konnten. "Diese Technik ist sehr teuer", sagt die Aktivistin. "Wenn man sie erst einmal eingeführt hat, ist es unwahrscheinlich, dass man sie wieder aufgibt. Damit könnte unser Recht auf Privatsphäre langfristig geschwächt werden. Wir müssen uns gegen diese übertriebene Überwachung zu Wehr setzen."
Netzwerke wie Saccage 2024 bezeichnen die KI-gestützten Systeme als Gefahr für die Meinungs- und Demonstrationsfreiheit. Natsuko Sasaki hält es für möglich, dass sich Aktivist*innen und Menschenrechtler*innen mit Protesten zurückhalten werden: "Wenn man befürchten muss, dass man von der KI als verdächtige Person identifiziert wird, dann bleibt man dem öffentlichen Raum eher fern. Und wir wollen nicht, dass man diese Daten langfristig speichert."
15 Millionen Besucher erwartet
Bedenken wie die von Sasaki, die seit 2007 in Paris lebt, spielen in der öffentlichen Debatte Frankreichs eine untergeordnete Rolle. Denn noch immer prägen die islamistisch motivierten Anschläge aus den vergangenen Jahren den Diskurs: zum Beispiel der Angriff auf das Satiremagazin Charlie Hebdo im Januar 2015 oder der koordinierte Angriff im November desselben Jahres, unter anderem bei einem Konzert im Theater Bataclan und am Stade de France. Und auch danach kam es immer wieder zu Anschlägen, bei denen Menschen getötet oder verletzt wurden.
Zu den Olympischen Spielen werden 15 Millionen Besucher*innen erwartet, darunter zwei Millionen aus dem Ausland.
11.000 Sportler*innen nehmen an 35 Wettkampfstätten teil, 25.000 Medienschaffende sind im Einsatz, es werden mehr als 100 Staatschefs erwartet. Der französische Innenminister Gérald Darmanin bezeichnete die Spiele als "die größte logistische und sicherheitstechnische Herausforderung, die wir je zu organisieren hatten". Und Aldric Ludescher, Sicherheitschef des IOC, sprach vom "größten Sicherheitsereignis der Welt in Friedenszeiten".
Wie sieht das nun in der Praxis aus? Die Militärparade am französischen Nationalfeiertag am 14. Juli 2023 wirkte wie ein Probelauf für die Sicherheitsvorkehrungen bei Olympia. "In 11 der 20 Pariser Arrondissements galt ein teilweises Parkverbot", berichtet der Journalist Thomas Jusquiame in Le Monde diplomatique. Auf fünf Quadratkilometern war der Autoverkehr gesperrt, etliche Metrostationen blieben geschlossen. Nahe der Prachtstraße Champs-Élysées war "jede Kundgebung mit Protestcharakter" und "das absichtliche Verbergen des kompletten Gesichts oder eines Teils davon" untersagt.
Auf fünf Prozent der Stadtfläche gelten Antiterrorgesetze
Die Olympischen Spiele werden eine neue Dimension erreichen, schreibt Jusquiame. Die Eröffnungsfeier soll nicht, wie es Tradition ist, in einem Stadion stattfinden, sondern im Zentrum von Paris an der Seine, und das mit mehr als 300.000 Zuschauer*innen. Während der Zeremonie soll der Autoverkehr weiträumig gestoppt werden, das gilt auch für Anwohner*innen, Pflegedienste und die Beförderung von Menschen mit Behinderung. Es wird eine Flugverbotszone eingerichtet, und auf fünf Prozent der Stadtfläche sollen Antiterrorgesetze wirksam werden.
Maßnahmen wie diese tragen dazu bei, dass im Großraum Paris die Ablehnung wächst. Bei einer Umfrage hielten 44 Prozent der Befragten die Spiele für eine "schlechte Idee". Das IOC geht darauf öffentlich nicht ein. Dessen Präsident Thomas Bach hält die Spiele weiterhin für "einen Wendepunkt in der Geschichte: nachhaltiger, urbaner, inklusiver".

Die Wahrheit ist komplexer, sagt der US-amerikanische Autor und Olympia-Experte Jules Boykoff: "Seit Jahrzehnten werden die Olympischen Spiele von der Entwicklung strenger Sicherheitspraktiken begleitet. Nicht nur in autokratisch regierten Staaten wie Russland und China, sondern auch in Demokratien." Vor den Sommerspielen im Jahr 1996 in Atlanta erließ der US-Bundesstaat Georgia Verordnungen, die vor allem wohnungslose Menschen trafen. Betteln, Kampieren und Urinieren in der Öffentlichkeit wurden mit Geldstrafen belegt. 30.000 Menschen wurden aus dem Zentrum von Atlanta verdrängt.
Die Terroranschläge in New York und Washington 2001 sowie in Madrid 2004 ließen Sicherheitskosten für Sportgroßereignisse massiv steigen. Athen, Gastgeber der Olympischen Spiele 2004, bat die Nato um Unterstützung und richtete eine Flugverbotszone ein. Und vor den Spielen in Rio de Janeiro im Jahr 2016 forcierte die Lokalpolitik die Bekämpfung der Kriminalität in den Favelas. Die Zahl afrobrasilianischer Männer, die durch Polizeikugeln getötet wurden, stieg in den folgenden Jahren rasant an. Es ließen sich viele weitere Beispiele für eine Aufrüstung im Zeichen der Olympischen Ringe nennen.
Und nun Frankreich. Bei den Spielen in Paris sollen mindestens 70.000 Sicherheitskräfte zum Einsatz kommen, darunter 35.000 Polizist*innen, 15.000 Soldat*innen und 20.000 Beschäftigte privater Sicherheitsdienste. Das französische Innenministerium hat befreundete Staaten gebeten, Personal bereitzustellen. Vor dem Hintergrund dieser hohen Zahlen gehen die KI-gesteuerten Überwachungssysteme etwas unter.

In Paris wurde diese Technologie in den vergangenen Monaten bei mehreren Veranstaltungen getestet: zum Beispiel bei Konzerten der Gruppen Depeche Mode und The Black Eyed Peas sowie bei einem Fußballspiel zwischen Paris Saint-Germain und Olympique Lyon. Auf vier Bahnhöfen sollen die Bilder von rund 100 Überwachungskameras analysiert worden sein. "Bis heute gibt es aber keine Studie, die belegen kann, dass eine KI-gestützte Überwachung tatsächlich einen Terroranschlag hätte verhindern können", sagt Lena Rohrbach, Amnesty-Referentin für Menschenrechte im digitalen Zeitalter.
Was aber in Ländern wie den USA auch dank Recherchen von Amnesty belegt wurde: Durch Fehler bei der biometrischen Überwachung wurden überproportional viele Schwarze Menschen, wohnungslose Menschen und Menschen mit Behinderung ohne Grund von der Polizei kontrolliert. "Für ein Sicherheitsgefühl in der Gesellschaft benötigen wir nicht mehr Überwachung, sondern eine gut ausgebildete Polizei", sagt Lena Rohrbach.
Protest gegen zunehmende Überwachung
Doch in Staaten, in denen es einflussreiche rechte Parteien und Bewegungen gibt, stößt die Mobilisierung gegen KI-gesteuerte Überwachung mitunter auf Widerstände, auch in Frankreich. Dennoch fordern NGOs wie La Quadrature du Net, die sich für Bürgerrechte im Internet einsetzen, mit Kampagnen und Kundgebungen mehr Aufklärung. "Wir müssen immer wieder deutlich machen, dass die Nachteile der biometrischen Überwachung klar überwiegen", sagt auch Patrick Breyer, der seit 2019 für die Piratenpartei im Europaparlament saß, aber bei der Wahl 2024 nicht mehr antrat. Der Jurist und Bürgerrechtler Breyer gehörte in Brüssel wohl zu den lautesten Stimmen gegen eine zunehmende Überwachung, insbesondere in den Debatten über das neue EU-Gesetz zur Regulierung Künstlicher Intelligenz, das im Mai 2024 endgültig verabschiedet wurde. Überdies wandte sich Breyer im März 2023 mit 40 anderen EU-Abgeordneten in einem offenen Brief an das französische Parlament – als eine Art Protest gegen die Einführung der biometrischen Überwachung bei den Olympischen Spielen in Paris.
Patrick Breyer beschäftigt sich seit Jahren mit digitaler Überwachung, und er glaubt, dass andere demokratische Staaten mit dem Verweis auf Frankreich ebenfalls biometrische Systeme etablieren könnten: bei Großveranstaltungen, auf Flughäfen oder in Gefängnissen. Im nächsten Schritt könnte dann die – bislang verbotene – Gesichtserkennung etabliert werden. "Wir dürfen uns nicht an die zunehmende Überwachung gewöhnen", sagt Breyer. "Ansonsten leben wir irgendwann in einer Gesellschaft, in der sich alle konform und unauffällig verhalten. Dadurch kann Innovation und Kreativität verloren gehen."
Wegen der biometrischen Überwachung gehen die Olympischen Spiele in Paris schon jetzt in die Geschichte ein. Ob die Technologie in Paris nach 2025 wieder zurückgebaut wird? Die Debatte geht weiter, denn es ist möglich, dass die Olympischen Winterspiele 2030 im Südosten von Frankreich stattfinden. "Frankreich wird sich mit der Technik als modern und sicherheitsbewusst präsentieren", sagt die Aktivistin Natsuko Sasaki. Und sie vermutet, dass an diesem Wissen auch andere Staaten großes Interesse haben. Darunter auch Regierungen, die weit weniger Freiheit dulden.
HINTERGRUND
Die Olympischen Spiele in Paris beginnen am 26. Juli mit einer Eröffnungszeremonie und enden am 11. August. Nach 1900 und 1924 richtet Paris damit zum dritten Mal die Sommerspiele aus. Qualifiziert sind Athlet*innen aus 152 Ländern. Sportler*innen aus Russland und Belarus dürfen wegen des russischen Angriffskrieges in der Ukraine nur als "autorisierte neutrale Athlet*innen" antreten. Sie tragen ein neutrales Trikot, dürfen ihre Nationalfarben nicht zeigen und keine Staffeln bilden. Bei Siegerehrungen wird die Nationalhymne ihres Landes nicht gespielt.