Amnesty Journal Deutschland 24. März 2021

Zu allem Unrecht Nein sagen

Eine ältere Frau mit grauweißem Haar sitzt an einem Küchentisch auf dem ein Radio steht, an der Wand hängt ein Gemälde, auf einem Bord stehen Fotos in Rahmen.

Trude Simonsohn ist eine große Mahnerin: Mit zahlreichen Vorträgen setzte sie sich dafür ein, dass Auschwitz sich nicht wiederholt. Nun wird sie 100.

Von Lea De Gregorio

Wenn die jüdische Holocaust-Überlebende Trude Simonsohn ihre Geschichte erzählte, riss sie andere mit. Und sie ermahnte. Immer wieder wies sie öffentlich darauf hin, wie wichtig es sei, zu widersprechen. "Zu allem Unrecht sofort Nein sagen", lautete ihre Devise. "Wenn du denkst: 'Jetzt hätte ich etwas tun müssen', ist schon etwas gewonnen. Vielleicht klappt es beim zweiten Mal. Die Leute, die Unrecht tun, wissen, dass sie Unrecht tun."

1921 in der Ersten Tschechoslowakischen Republik geboren, wuchs Simonsohn in einem demokratischen Elternhaus auf. Früh lernte sie, sich zu wehren. "Ich habe immer schon für Gerechtigkeit gekämpft und für Menschenrechte", sagte sie bei einem Treffen 2017 im Alten- und Pflegeheim der Henry und Emma Budge-Stiftung in Frankfurt am Main, wo sie auch heute lebt.

In dem Jahr war ihr Kalender noch voll. An Schulen, an Universitäten und in anderen Institutionen sprach sie immer wieder über die Verfolgung im Nationalsozialismus. Sie erinnerte sich, um andere zu alarmieren. Mit klaren Worten kämpfte sie gegen das Vergessen. "Es gibt immer noch Leute, die nicht wissen, was passiert ist", sagt Simonsohn. "Das Verschweigen ist hier die Sünde."

"Kein Talent zu hassen"

Bei ihren Vorträgen sprach Simonsohn von Theresienstadt, wo sie Berthold Simonsohn, ihren späteren Mann, kennenlernte. Sie erzählte davon, wie sie anschließend nach Auschwitz kam und in zwei Außenlager des Konzentrationslagers Groß-Rosen. Sie sprach über Schrecken und Ohnmacht: "Wenn man große Schmerzen hat, kann ein Körper ohnmächtig werden, und ich glaube, dass auch eine Seele ohnmächtig werden kann." Ihre Eltern wurden von Nationalsozialisten ermordet.

Sie selbst hatte trotz allem Glück – immer wieder. Als tschechische Zwangsarbeiterin, als die sie sich ausgab, überlebte sie den Krieg. "Noch ein Glück" heißt deshalb ihre Biografie, die sie gemeinsam mit Elisabeth Abendroth verfasste.

Nach dem Krieg engagierte sich Simonsohn in der jüdischen Flüchtlingshilfe in der Schweiz und zog schließlich nach Deutschland. Berthold Simonsohn und sie kannten viele Widerstandskämpfer_innen. Der Umzug fiel deshalb nicht schwer. "Die Leute sagen immer: 'Sie müssen die Deutschen doch hassen.' Dann sage ich, 'ich habe kein Talent zum Hassen'." Ihr unermüdliches Engagement wird in Frankfurt am Main sehr geschätzt. 2016 hat die Stadt ihr die Ehrenbürgerwürde verliehen – als erster Frau. 2010 bekam sie den Ignatz-Bubis-Preis für Verständigung.

Wenn man große Schmerzen hat, kann ein Körper ohnmächtig werden, und ich glaube, dass auch eine Seele ohnmächtig werden kann.

Trude
Simonsohn
Holocaust-Überlebende

Inzwischen ist Simonsohns Kalender leerer – nicht nur wegen Corona. Anlässlich des 9. Novembers habe sie 2018 in der Westend-Synagoge in Frankfurt ihren letzten Vortrag gehalten, erzählt Elisabeth Abendroth am Telefon. Abendroth hat Simonsohn bei Vorträgen begleitet. "Sie ist gesundheitlich sehr angegriffen", sagt sie. Interviews gibt Simonsohn nicht mehr. Für ihr Alter gehe es ihr jedoch noch gut, wie Abendroth beteuert.

Am 25. März feiert Trude Simonsohn ihren 100. Geburtstag. Abendroth sagt: "Sie strahlt immer noch", sei heiteren Gemüts. Wer Simonsohn kennt, weiß, dass sie Menschen nicht nur mit Worten über die Gräueltaten der Nazis mitreißt: Sie berührt auch mit ihrem Lächeln.

Doch Simonsohn sei auch in Sorge. Abendroth erzählt, wie sie der steigende Antisemitismus in Deutschland bewegt. Und nicht nur der: "Auch der Hass auf Fremde". All das mache ihr "wirklich Angst". Jetzt, wo Simonsohn nicht mehr öffentlich spricht, braucht es andere, die in diesen Zeiten mahnen. Und zum Glück gibt es ihr bewegendes Buch. 

Trude Simonsohn mit Elisabeth Abendroth: Noch ein Glück. Erinnerungen, 14,90 Euro, Wallstein-Verlag.

Lea De Gregorio ist Redakteurin des Amnesty Journals. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder.

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