Amnesty Journal Deutschland 06. Oktober 2021

Mit Worten nach Hause finden

Eine syrische Frau mit schulterlangem dunkelblondem gesträhntem Haar lächelt.

Die syrische Lyrikerin Lina Atfah ist vor sieben Jahren vor dem Assad-Regime geflohen. Sie lebt nun in Wanne-Eickel. Inzwischen befassen sich ihre Gedichte mit ihrem Leben in Deutschland.

Von Elisabeth Wellershaus

Salamiyya ist hässlich", sagt Lina Atfah. "Aber auf eine ganz romantische Art". Ihr Mund verzieht sich zu einem breiten Lächeln, das die Zweidimensionalität des Bildschirms für einen Moment auszuhebeln scheint. Die 32-Jährige sitzt in ihrem Wohnzimmer in Wanne-Eickel, ich aus Mangel eines ruhigen Raums in meinem Badezimmer in Berlin. Und ihre Erzählungen transportieren uns an einen Ort, der sie bis heute nicht loslässt. Ihre Heimatstadt habe sie als Schriftstellerin und Lyrikerin stark geprägt, erzählt Atfah. Auf den ersten Blick sei die kleine syrische Stadt am Rande der Wüste nichts Besonderes. Zwar gebe es eine große kulturelle Vielfalt, ansonsten aber vor allem unfruchtbares Land und seit jeher zu wenig Arbeit. Nur eines sei an Salamiyya bemerkenswert: die Dichte an schriftstellerischem Talent. "In meiner Kindheit schienen fast alle Menschen um mich herum zu schreiben", erzählt Atfah. "Gedichte, Kurzgeschichten oder Romane – alles, was die Situation in der Stadt und im Land reflektierte. Es gab einfach nicht viel anderes zu tun."

Atfahs Familie wohnte in Salamiyya direkt neben einem Friedhof. Zwischen den Gräbern tobte sie zusammen mit ihrer Schwester und den Kindern aus der Gegend umher. Im Dezember zog sie mit ihnen durch die Stadt, wenn ihr Onkel – je nach Stimmungslage – als Weihnachtsmann oder Gorilla verkleidet, in Salamiyya Geschenke verteilte. Im Frühling saß sie unter dem Orangenbaum im Innenhof ihres Hauses und ersann erste Gedichte. Als der Friedhof irgendwann in einen "kahlen Park" umgewandelt wurde, hatte sie sich bereits mit dem Tod ausgesöhnt, sagt Atfah. Doch da begannen die Probleme gerade erst.

Wegen eines Gedichts zum Verhör

Bereits als Jugendliche trat Atfah regelmäßig im Literaturhaus der Stadt auf, das ihr Großonkel vor seiner Inhaftierung geleitet hatte. Sie war vier Jahre alt gewesen, als er nach zwölf Jahren Haft unter dem damaligen Präsidenten Hafiz al-Assad entlassen wurde, und zwölf Jahre, als sie ihr erstes Gedicht vortrug. Die "oppositionelle Gesinnung" innerhalb der Familie war ausgeprägt, und das spiegelte sich in ihrem Schreiben. ­Atfah war mit einem Bewusstsein für die politischen Verhältnisse aufgewachsen, auch mit dem Wissen um die ständige Gefahr von Verhören und Verhaftungen. Und doch war sie nicht darauf vorbereitet, eines Tages selbst ins Visier der Behörden zu geraten.

"Das Gedicht, das alles für mich verändert hat, war eigentlich nichts Besonderes", sagt Atfah heute. Das Werk einer 17-Jährigen, die sich über den desolaten Zustand ihrer Umgebung ausließ, das Militär kritisierte und sich leise fragte, ob Gott sich nicht schlecht fühle, bei all der Ungerechtigkeit. Kurz nachdem sie es vorgetragen hatte, wurde sie zum Verhör geladen. Auch ihr politisch engagierter Vater wurde in der folgenden Zeit immer häufiger verhört, Jahre später inhaftierte man ihre Schwiegermutter. Irgendwann ging es für Atfah nur noch darum, den richtigen Zeitpunkt abzupassen, um die Flucht anzutreten und ihrem Mann nach Deutschland zu folgen.

Kurz vor der Flucht im Jahr 2014 hatte der syrische Geheimdienst Atfah ein Angebot gemacht: Sie müsse lediglich ein Lobgedicht auf Baschar al-Assad schreiben und man würde sie mit Freuden in Syrien behalten, ihr Talent und Schreiben fördern und feiern. Atfah entschied sich dagegen, und so gab man ihr eine Warnung mit auf den Weg: "Du hast immer noch Familie hier, also pass gut auf, was Du in Deutschland schreibst."

Ihre Eltern, Geschwister, der Ehemann – sie alle leben heute in Deutschland. Atfahs 87-jährige Großmutter aber lebt noch in Salamiyya. Ihr Onkel Thaer, der sich nicht mehr als Weihnachtsmann verkleidet, arbeitet heute als Totenwäscher. Ihr Großonkel liegt seit zwei Jahren in Salamiyya begraben. Bis heute prägt sein Schicksal ihre Arbeit als Lyrikerin. Er hat sie in die Welt der Worte eingeführt, hat ihre Verbindung zur Lyrik geprägt, auch weil diese Welt ihm selbst nie ganz zugänglich war. Sein Vater hatte ihm das Dichten mit der Rute ausgetrieben, als er in der Religionsstunde anstatt einer Freitagsrede ein Gedicht vortrug. "Ich glaube, er hat mich deshalb schon als Kind ermutigt, mich in meinen Texten auszudrücken", sagt Atfah heute. Aktuell schreibt sie einen Roman über jenen Mann, den sie Großvater nennt. Doch das Schreiben fällt ihr schwer. "Die Erinnerungen an Salamiyya sind übermächtig", sagt sie und hebt hilflos die Schultern. Sie erzählt von Alpträumen, in denen die Straßen von Salamiyya mit denen von Wanne-Eickel verschmelzen. Davon, dass der Schmerz über das Zurückgelassene einen Raum braucht, in dem er sich sortieren kann.

Schlafstörungen im Gepäck

Als Lina Atfah in Deutschland ankam, trug sie ein weißes Kleid, ihren Hochzeitsschleier und hatte Schlafstörungen im Gepäck. Noch immer hat sie sich nicht gänzlich vom Schock des Verlusts und des Ankommens erholt. Aber die Lyrik hat sie zurück ins Leben geholt. Über Literaturinitiativen und Kontakte fand sie Möglichkeiten, ihre Texte in Deutschland zu veröffentlichen. Nach zehn Jahren steht sie endlich wieder auf Bühnen, tauscht sich mit anderen Autorinnen aus. Manchmal schreibt Atfah noch über die Vergangenheit, aber sie schreibt auch über Wanne-Eickel, wo sie mit ihrem Ehemann Osman Yousufi lebt, der ihre Gedichte ins Deutsche übersetzt. Sie schreibt darüber, wie sie in der Stille des ersten Corona-Jahres Fahrradfahren gelernt hat oder über ihr Unbehagen mit der deutschen Einwanderungspolitik.

Ohne ihren Großonkel, sagt sie, wäre es vermutlich nie soweit gekommen. Ohne ihn hätte sie als Zwölfjährige vermutlich kaum ihre erste Lesung gehalten. In den Jahren bis zur Flucht – als sie nicht mehr auftreten durfte – war er ihr Publikum, vor dem sie sich literarisch ausprobieren konnte. Vielleicht stünden ihre Geschichten sonst heute nicht in der Vogue und auf Zeit Online. Und alte Gedichte von ihr lägen nicht zusammen mit dem Hochzeitsschleier im Auswandererhaus in Bremerhaven.

Doch mittlerweile wird Atfahs Stimme in Deutschland gehört. Sie hat den LiBeraturpreis und den Kleinen Hertha Koenig-Literaturpreis gewonnen – für letzteren hatte Nino Haratischwili sie vorgeschlagen. In den literarischen Briefwechseln der beiden Autorinnen lässt sich eine außergewöhnlich starke Verbindung herauslesen. "Schreib’ mir Nino", heißt es in einem von Atfahs Briefen, "weil ich jedes Mal, wenn ich deine Worte lese, den Rückweg nach Hause finde". Es ist der Austausch mit anderen Autorinnen, der Atfah das Gefühl von Zugehörigkeit vermittelt: Mit dem Schreiben ist sie angekommen.

Elisabeth Wellershaus ist Autorin, Übersetzerin und freie Journalistin. Sie lebt in Berlin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder.

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