Sinti*zze und Rom*nja: "Das verfolgt mich"
Ein Teil des Berliner Denkmals für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti*zze und Rom*nja Europas soll einer Bahntrasse weichen. Dabei ist ein respektvolles Andenken wichtiger denn je. Die Bevölkerungsgruppe erleidet in Deutschland Gewalt und Diskriminierung. Betroffene berichten.
Protokolle: Lena Reich
"Wäre unser Mahnmal eine andere Gedenkstätte"
Delaine le Bas, Künstlerin:
"Es war der 27. Januar 2012, Holocaust-Gedenktag, die Deutschlandflaggen hingen auf Halbmast, und jedes andere Denkmal, an dem wir – rund zehn Leute aus der Community – an diesem Tag vorbeikamen, war geschmückt. Auf der Baustelle unseres Mahnmals, das neun Monate später eröffnet werden sollte, lag Müll. Es war schrecklich kalt. Ich dachte an die Menschen in den Konzentrationslagern, die die Eiseskälte überlebt hatten. Ich schaute hinauf zu den Baumwipfeln, und es war, als ob Tausende von Stimmen zu mir sprachen. Das ist mir seither mehrmals im Winter auch an anderen Orten passiert, wenn ich in den Himmel schaue und Baumspitzen ohne Blätter sehe. Das verfolgt mich. Als wir im April 2025, 13 Jahre später, zum Tag der Roma vom Mahnmal zur Volksbühne marschierten und so den öffentlichen Raum für unsere Sache beanspruchten, dachte ich: Wäre das Mahnmal eine andere Gedenkstätte, wäre diese Störung durch die Deutsche Bahn überhaupt in Erwägung gezogen worden? Hätte es sie gegeben?"
"Mir macht die Situation in Deutschland eine Riesenangst"
Gianni Jovanovic, Autor und Aktivist:
"Alle scheinen sich einig zu sein, dass Sinti*zze und Rom*nja nicht nach Deutschland gehören. Man unterstellt uns, kriminell und nicht sozialfähig zu sein, dass wir Clans errichten und nicht in die Sozialkassen einzahlen. Diese böswilligen Vorurteile haben schon die Nazis als Begründung genutzt, um mehr als eine halbe Million von uns umzubringen. Und die alten Motive und Narrative werden bis heute reproduziert, wenn Lehrkräfte und Medienstars das Z-Wort benutzen. Die Diskriminierungen nehmen zu – ob in Grundschulen oder Behörden, bei der Job- oder Wohnungssuche. Aber nicht nur unsere Gruppe ist betroffen: Nicht-weiße Menschen werden doppelt so häufig von der Polizei kontrolliert wie weiße Menschen. Erst im April wurde in Oldenburg der 21-jährige Schwarze Lorenz A. von einem Polizisten im Dienst getötet – mit drei Schüssen von hinten. Wir haben ein echtes strukturelles Gewaltproblem. Gleichzeitig gewinnt eine rechtsextreme Partei immer mehr Stimmen. Mir macht die politische Situation in Deutschland eine Riesenangst."
"Traumata bis heute"
Alfred Ullrich, Künstler:
"Ich entstamme einer Wiener Sinti-Familie. Seit meiner Kindheit habe ich Kontakt zu Angehörigen der Roma, verbinden mich gemeinsame Erlebnisse und künstlerische Aktivitäten mit ihnen. Die wenigen Überlebenden meiner Großfamilie klagten über das 'Lager'. Die damals entstandenen Traumata setzten sich in den nachfolgenden Generationen fort – bis heute. 1980, zur Zeit des Hungerstreiks der Sinti in der Evangelischen Versöhnungskirche auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte Dachau, bin ich in die Nähe gezogen, um meine Kupferdruckwerkstatt zu eröffnen. Damals wusste ich noch nicht, dass drei meiner Onkel dort während der NS-Diktatur inhaftiert waren und nur einer von ihnen die Zwangsarbeit überlebte. Der Hungerstreik der elf Sinti, unter ihnen Romani Rose, heute Vorsitzender des Zentralrats der Deutschen Sinti und Roma, zusammen mit der Sozialarbeiterin Uta Horstmann war ein Wendepunkt in der öffentlichen Wahrnehmung von Antiziganismus: Sie forderten die Beendigung der polizeilichen Sondererfassung und die Herausgabe der NS-Akten, die die Behörden weiter verwendeten. Zwei Jahre später erkannte Bundeskanzler Helmut Schmidt den Völkermord an den Sinti und Roma durch die Nationalsozialisten an."
"Was für eine Sicherheit haben wir?"
Kenan Emini, Roma Center Göttingen:
"Der institutionelle Rassismus ist das Ergebnis dessen, dass der Holocaust gegen Roma in Deutschland nur in Teilen anerkannt worden ist. Heute leben 1,2 Millionen Roma in Deutschland. Wir sind alle Nachfahren von Holocaust-Überlebenden, die von Deutschen und ihren Verbündeten in ganz Europa umgebracht wurden. Das Mahnmal in Berlin ist für uns der zentrale Ort, an dem wir erinnern und mit unseren Kindern gemeinsam trauern können. Wir leisten Bildungsarbeit, organisieren den Bundes-Roma-Kongress und klären in Institutionen auf. Trotz allem begegnen uns noch immer dieselben Diskriminierungen, die uns seit sechs Jahrhunderten begleiten: allen voran das fehlende Bleiberecht. Den Roma, die in den 1990er Jahren vor den Bürgerkriegen in Jugoslawien flüchteten und nach dem Kosovokrieg 1999 ethnisch gesäubert worden sind, wurde der Anspruch auf Asyl verwehrt. Sie sind häufig nach wie vor temporär geduldet, ohne Existenzgrundlage und permanent von Abschiebung bedroht. Jetzt steigt der Druck von Rechts, den wir ja schon aus Osteuropa kennen, auch wieder in Deutschland. Wir fragen uns: Wie geht das weiter? Was für eine Sicherheit haben wir? Roma müssen endlich ein Bleiberecht bekommen!"
"Behördensprache ist sehr mächtig"
Nermina, Sozialberatung Menschen im Mittelpunkt e. V. Berlin:
"Zu unserer Sozialberatung kommen Menschen aus Südosteuropa, denen wir vor allem Papiere übersetzen. Das sind Briefe vom Jobcenter, juristische Aufforderungen, Einladungen zu Sprachtests oder Schuluntersuchungen. Deutsch ist eine schwere Sprache, die Behördensprache ist sehr mächtig und auch als Muttersprachler wirklich schwer zu verstehen. Da muss man tief im Thema stecken, um den Sinn zu begreifen, aber auch, um selbstbewusst aufzutreten und zu sagen: 'Das, was ihr da schreibt, versteh ich nicht!' Viele Frauen aus der Community, die zu uns kommen, sind nie zur Schule gegangen und haben auch nicht gelernt, einer Obrigkeit zu widersprechen."
HINTERGRUND
Zwischen 1938 und 1945 ermordeten die Nationalsozialisten eine halbe Million Sinti*zze und Rom*nja in Europa. Daran erinnert jedes Jahr ein europäischer Gedenktag am 2. August. Bis heute ist die Bevölkerungsgruppe Gewalt und Diskriminierung ausgesetzt. Die Melde- und Informationsstelle Antiziganismus (MIA) hat für das Jahr 2024 bundesweit 1.678 antiziganistische Vorfälle dokumentiert – ein Anstieg um 40 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Gemeldet wurden 666 Fälle von Diskriminierung, aber auch 57 Angriffe und zehn Fälle extremer Gewalt . Die Organisation weist darauf hin, "dass deutlich mehr antiziganistische Straftaten verübt werden, als die behördliche Statistik aufweist".
Diskriminierung und Ausgrenzung führen zu Gewalt. Mit der Kampagne #MenschenrechtsRuck möchte Amnesty International dem etwas entgegensetzen und fordert dazu auf, für eine solidarische Gesellschaft aktiv zu werden.
Zudem macht Amnesty deutlich: Veränderung im Sinne der Menschenrechte braucht Protest. Marginalisierte Gruppen stehen oft an der Spitze von Protestbewegungen. Sie gehen dabei ein hohes Risiko ein und erleben häufig Repressionen. Um das Recht auf Protest für alle Menschen zu stärken und notwendige Veränderungen einzufordern, setzt sich Amnesty mit zahlreichen Partner*innen für die Rechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit ein.
Weitere Infos: amnesty.de/menschenrechtsruck und amnesty.de/protest