Amnesty Journal Deutschland 27. Februar 2025

"Erinnern ist mehr als Gedenken"

Jemand zeigt mit dem Zeigefinger auf ein Foto, darauf eine Gruppe von Menschen vor einem eingerüsteten Haus.

Grausame Erinnerung: Das Haus der Familie Arslan wurde durch den rechtsextremen Brandanschlag vollständig zerstört, drei Menschen starben.

Martina Priessner gewann mit "Die Möllner Briefe" den Amnesty-Filmpreis bei der Berlinale. Ein Film mit besonderer Bedeutung.

Interview: Jürgen Kiontke

Frau Priessner, Ihr Film handelt von Briefen, die Menschen nach den rassistischen Brandanschlägen 1992 in Mölln an die Angehörigen der Opfer schrieben. Jahrzehntelang lagen sie unbeachtet im Stadtarchiv. Wie sind Sie auf die Möllner Briefe aufmerksam geworden?

Vor fünf Jahren habe ich Ibrahim Arslan kennengelernt, dessen Schwester, Großmutter und Cousine bei dem Brandanschlag von Neonazis auf zwei Wohnhäuser in Mölln 1992 ermordet wurden, als er sieben Jahre alt war. Von den Hunderten von Briefen, die Menschen aus Solidarität an die Stadt Mölln gesandt haben, die aber nie weitergeleitet wurden, habe ich da zum ersten Mal gehört. Zwei Wochen später habe ich ihn kontaktiert und ihm ein Dokumentarfilmprojekt vorgeschlagen. Ich fand es unfassbar, dass die Briefe die Angehörigen der Opfer nie erreichten, sie hätten wirklich eine gesellschaftliche Kraft entfalten können. Die Menschen hatten alles verloren, und da gab es so viele, die Anteilnahme zeigten, ihre Solidarität ausdrückten und Unterstützung anboten. Nichts hätten die Überlebenden mehr gebraucht in dieser Situation.

Wie haben die Verantwortlichen bei der Stadt auf ihre Drehanfragen reagiert?

Sie haben uns die Türen geöffnet, waren kooperativ. Wir haben dort dreimal gedreht. Als wir mit dem Drehen begannen, hatte Ibrahim die Briefe schon abgeholt. Es stellte sich aber dann heraus, dass noch weitere Briefe im Archiv liegen. Es ist nur einem Zufall zu verdanken, dass die Briefe überhaupt gefunden wurden. Eine Bekannte von Ibrahim war bei einer Recherche im Stadtarchiv darauf gestoßen. Sie rief ihn an und fragte: "Ibrahim, warum liegen diese wichtigen Dokumente hier im Archiv?" 

Warum wurden die Briefe nicht weitergegeben?

Der damalige Bürgermeister Joachim Dörfler, der dazu etwas sagen könnte, wollte leider nicht mit uns sprechen. Wir haben ihn mehrmals gefragt. Der jetzt amtierende Bürgermeister Ingo Schäper sagt, er könne dazu nichts sagen, da es vor seiner Zeit war. Als Ibrahim die Briefe abholte, wurde ihm gesagt, er hätte die Briefe ja immer einsehen können. Für mich ist das ein Beispiel für strukturellen Rassismus.

Oder Schlamperei.

Warum schlampt man? Weil man etwas nicht wichtig nimmt, weil man es sich leisten kann, sich nicht dafür zu interessieren. Weil man sich nicht hineinversetzen kann in die Betroffenen und das, was sie erlebt haben. Absicht, Ignoranz, Interesselosigkeit, Überforderung oder eine Mischung aus allem: Es gab 27 Jahre lang jedes Jahr Gedenkveranstaltungen in der Stadt Mölln. Leider eben ohne Einbeziehung der eigentlich Betroffenen und Überlebenden. Nichtsdestotrotz bin ich sehr froh, dass der Archivar die historische Bedeutung der Briefe erkannt und für die Archivierung gesorgt hat. Sie hätten ja auch vernichtet werden können. Das zeigt auch deutlich, dass Archive keine neutralen Orte sind, hinter jeder Ordnung stehen Machtstrukturen.

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Was steht in den Zuschriften?

Das ist ganz unterschiedlich. Klassische Trauerkarten, Briefe mit wenigen Sätzen, manche mit Gedichten, lange Briefe. Arslan wollte die Schreiber*innen kennenlernen, viele sind jedoch schon gestorben. Im Film kommen drei zu Wort. Das sind berührende Momente, in denen man sich fragt, was hätte anders laufen können, was möglich gewesen wäre. 

Ihr Film ist ein Erinnerungsprojekt. Dass ein Trauma den ganzen Körper betreffen kann, zeigt das Beispiel von Ibrahims Bruder Namık. Er ist stark übergewichtig, hat sich sprichwörtlich "hinter dem Essen versteckt", wie er sagt. Während der Filmarbeiten macht er eine Magen-Verkleinerung, nimmt danach stark ab.

Anfang der 1990er Jahre herrschte in migrantischen Communities die pure Angst. Im Land gab es eine pogromartige nationalistische Stimmung, mit täglichen Angriffen auf Geflüchtetenheime und "Das Boot ist voll"-Debatten. Nach dem Anschlag in Mölln, der erste im wiedervereinigten Deutschland, bei dem Menschen ermordet wurden, kauften sich die Leute Strickleitern, um flüchten zu können, wenn es brennt. Sie hielten Wache und ließen die Kinder nicht mehr nach draußen. Diese Angst wurde generationenübergreifend weitergegeben. 

Namık, der damals acht Monate alt war, überlebte den Anschlag, weil er von seiner Mutter aus dem Fenster geworfen und draußen aufgefangen wurde. Er hat bis heute massive Verlustängste und fragt sich, warum er überlebt hat und nicht seine Schwester. Die sogenannte Überlebensschuld ist etwas, das viele Menschen betrifft, die aus einer extremen Situation lebend herauskommen. Rational weiß auch Namık, dass er keine Schuld trägt. Aber auf der emotionalen Ebene fühlt es sich anders an. Oft meinen Menschen auch, dass jemand mit acht Monaten keine Erinnerung habe, aber das Gegenteil ist der Fall. Solche Traumata werden von einer Generation zur nächsten weitergegeben. Ein Kind, das in einer Familie aufwächst, die so etwas Schreckliches erlebt hat, übernimmt dieses Trauma. 

Diese Briefe hätten wirklich eine gesellschaftliche Kraft entfalten können.

Eine Frau trägt eine Brille mit einem dünnen Titanrahmen, eine Wollmütze, ein Hasltuch aus Seide mit Spitze an den Rändern und einen fein gewebten Wollpullover.

Die Regisseurin und Autorin Martina Priessner lebt in Berlin.

Empfinden Sie es als Ihre Aufgabe, davon zu erzählen?

Diese vielen unerzählten Geschichten müssen bekannt werden. Sonst kann keine Empathie entwickelt werden. 

Wie haben Sie die rassistischen Brandanschläge damals wahr­genommen?

Mölln war eine Zäsur. Ich war 23, als es passierte. Der Anschlag war für mich der Beginn der Auseinandersetzung mit Rassismus und Antisemitismus, mit einer Kontinuität in diesem Land, die nicht mit Mölln anfängt. Wie gehen wir als Gesellschaft mit den Opfern um, dass wir ihnen nicht zuhören? In Deutschland gedenken wir sehr viel, wehren aber gleichzeitig die Perspektive der Betroffenen ab. Das Gedenken in Mölln ist dafür das beste Beispiel.

Sie sagen, Erinnern ist etwas anderes als Gedenken.

Es ist mehr als Gedenken: Es bedeutet, Verantwortung zu übernehmen, Strukturen zu hinterfragen und zu verändern. Wir sind sehr täterfixiert. Bei Anschlägen kennt man schnell die Namen der Täter, aber nicht die der Opfer. Mein Film ist ein Plädoyer dafür, hinzuschauen. Deshalb ist der Amnesty International-Filmpreis sehr wichtig, er verschafft dem Film Aufmerksamkeit. Ich wünsche mir sehr, dass ihn so viele Menschen wie möglich sehen.

"Die Möllner Briefe". D 2025. ­Regie: Martina Priessner. Der Filmstart ist für den frühen Herbst geplant. Mehr zur Auszeichnung mit dem Amnesty-Filmpreis finden Sie hier.

Jürgen Kiontke ist freier Autor, Journalist und Filmkritiker. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

MEHR ZUM FILM

Martina Priessner

Die Regisseurin und Autorin Martina Priessner lebt in Berlin. Bei den Berliner Filmfestspielen 2025 zeichnete die Jury mit Florence Kasumba, Soleen Yusef und Myriam Vitovec ihren Film "Die Möllner Briefe" mit dem mit 5.000 Euro ­dotierten Filmpreis von ­Amnesty International aus.

Hintergrund zum Film "Die Möllner Briefe"

Im Herbst 1992 wurde die Familie Arslan Opfer eines Brandanschlags Rechtsextremer. Drei Menschen wurden dabei ermordet, neun Menschen verletzt. Die Stadt Mölln erhielt Hunderte Briefe mit Solidaritätsbekundungen, die jedoch nicht an die Familie weitergeleitet wurden. Der Film folgt İbrahim Arslan bei der Entdeckung dieser Briefe. Im Mittelpunkt steht, welche komplexen Folgen der Anschlag auf die Familie hatte. "Wenn wir damals von der Anteilnahme und Solidarität in der Gesellschaft gewusst hätten, hätte uns das damals geholfen und ein wenig Trost gespendet", sagt Ibrahim Arslan.

 

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