Amnesty Journal Deutschland 18. Januar 2023

"Rückgaben dürfen schmerzhaft sein"

Eine nigerianische Kunstskulptur, die eine menschliche Figur darstellt, die eine Kopfbedeckung trägt und Ringe um den Hals.

"An der Schwelle": Installation des nigerianischen Künstlers Emeka Ogboh.

Abseits der großen Diskussionen hat sich das Grassi-Museum für Völkerkunde in Leipzig zu einem Vorbild für deutsche Museen in Sachen Rückgabe und Aufarbeitung des kolonialen Erbes entwickelt.

Von Susanne Messmer

Mitte Oktober war eine Delegation von Sámi zu Besuch, Vertreter*innen des indigenen Volkes im Norden Skandinaviens, Museumsleute vor allem. Sie waren in Leipzig, um sich sechs Trommeln von großem spirituellem und historischem Wert anzusehen, die sich im dortigen Grassi-Museum für Völkerkunde befinden.

Sie waren nicht nur von den Trommeln begeistert, berichtet Friedrich von Bose, der die Abteilung Forschung und Ausstellungen leitet. Als sie in die beiden Ausstellungsräume kamen, die das Museum dem jungen Künstler*innenkollektiv Para zur Verfügung gestellt hat, waren sie sofort im Thema. "Die haben sich innerhalb von drei Minuten acht 'Skrupel' aus dem Automaten gezogen", freut sich von Bose.

Ethnologische Museen im Umbruch

"Skrupel" sind kleine Steine, die man im Museum für 20 Euro erwerben kann: Es sind Nachbildungen des Gipfelsteins, den der Leipziger Geograf Hans Meyer 1889 von seiner Besteigung des Kilimandscharo mitbrachte. Einen (inzwischen verschollenen) Teil schenkte er Kaiser Wilhelm II., der andere Teil wird derzeit im Antiquitätenhandel angeboten. Das Künstler*innenkollektiv hat mitten im Museum eine Fertigungsstraße aufgebaut, bei der Steine aus der Bausubstanz des Grassi abgebrochen werden, um da­raus die Repliken herzustellen. Mit dem Erlös der "Skrupel" will Para den erhaltenen Teil des Gipfelsteins kaufen und an Tansania zurückgeben. Knapp die Hälfte der für den Kauf benötigten 40.000 Euro hat das Künstler*innenkollektiv schon zusammen.

Die Steinaktion bringt etwas Leichtigkeit in die mitunter grimmigen Diskussionen um die Rückgabe von Kulturgütern aus der Kolonialzeit und zeigt zugleich, welchen Umbruch die ethnologischen Museen in Deutschland erleben. Unter dem Titel "Reinventing Grassi" hat sich das Leipziger Museum nach einem halben Jahr der Schließung einem radikalen Wandel unterzogen. Seine Direktorin Léontine Meijer-van Mensch, die zuvor Programmdirektorin am Jüdischen Museum Berlin war, geht Veränderungen politischer an als viele ihrer Kolleg*innen. Einen ähnlichen Ansatz verfolgen Nanette Snoep vom Kölner Rautenstrauch-Joest-Museum oder Inés de Castro vom Stuttgarter Linden-Museum.

Eine Kunstinstallation aus Beton, Holz und Metall; arrangiert wie eine Produktionsstrasse, vor der ein Mensch steht.

Gipfelsteine für Tansania: "Skrupel-Automat" des Künstlerkollektivs Para

Diesen Häusern geht es nicht mehr nur um die Frage nach Objekten, die aus kolonialen Unrechtskontexten stammen. Sie untersuchen auch, wie es in ganz Europa zu einer Verdrängung des Kolonialismus kommen konnte, die den Ursprung des heutigen Alltagsrassismus bildet. "Ich glaube, dass Museen eine gesellschaftliche Bedeutung haben. Hier liegt das Erbe der Menschheit, vielleicht auch der Schlüssel für die Zukunft der Menschheit", sagt Léontine Meijer-van Mensch. Diese Fragen wurden bereits in den 1960er Jahren gestellt – doch nahm die Diskussion in Deutschland erst unter dem wachsenden Druck der afrodiasporischen Zivilgesellschaft Fahrt auf. Befördert wurde sie auch durch den Streit um das Berliner Humboldt-Forum. In dem für mehr als 600 Millionen Euro rekonstruierten Schloss an zentraler Stelle werden seit 2021 Objekte aus dem Ethnologischen Museum gezeigt, die zuvor im entlegenen Stadtteil Dahlem ausgestellt waren.

Stur in Fragen der Dekolonialisierung

Der wichtigste Akteur im Humboldt-Forum, die Stiftung Preußischer Kulturbesitz, reagierte lange Zeit stur auf Fragen der Dekolonialisierung. Legendär ist eine Äußerung ihres Direktors Hermann Parzinger, der 2011 erklärte, das Ethnologische Museum in Berlin sei "auf legale Weise" entstanden und daher "rechtmäßiger Besitzer seiner Bestände". Auch die Rückgabe der berühmten Benin-Bronzen lehnte man dort bis vor Kurzem noch ab. Dabei ist erwiesen, dass mehrere Tausend dieser wertvollen Bronzen 1897 von britischen Soldaten geraubt und nach Europa verschleppt wurden, nachdem sie die Stadt Benin im heutigen Nigeria in Schutt und Asche gelegt hatten. Nigeria fordert die Bronzen seit Anfang der 1970er Jahre offiziell zurück, manche davon seit 1935. Als Frankreichs Präsident Emmanuel Macron 2017 Rückgaben im großen Stil ankündigte, stieg der Druck. 2021 zog die damalige Kulturstaatsministerin Monika Grütters nach. Auf eine Absichtserklärung der Bundesregierung folgte im Sommer 2022 ein Vertrag zwischen Deutschland und Nigeria über eine Rückgabe der Benin-Bronzen.

Auch das Humboldt-Forum hat sich inzwischen bewegt. Noch Ende 2020 ­sollte rund die Hälfte der mehr als 500 "Berliner" Benin-Objekte ausgestellt werden, nun sind es noch rund 30. Allerdings ist in den Texten zu den verbleibenden Bronzen immer noch von "gesammelten" Objekten und der "Einnahme der Stadt Benin" die Rede. Geplündert und verbrannt wäre die korrekte Wortwahl. Das Grassi-Museum in Leipzig ist da deutlich weiter. Anstatt seine 262 Benin-Bronzen zu zeigen, wird die Geschichte ihres Raubs dargestellt. Der nigerianische Künstler Emeka Ogboh widmet ihnen ­seine Installation "An der Schwelle": In einem abgedunkelten Raum begegnen die Besucher*innen Fotos der Benin-Bronzen.

Haben westliche Besucher*innen das Recht, diese Objekte zu genießen?, fragt das Grassi-Museum. Und was bewirkt ihr Fehlen im heutigen Nigeria? "Rückgaben dürfen schmerzhaft sein", sagt Friedrich von Bose. "Aber wir sind davon überzeugt, dass wir das Richtige tun – und da­raus erwachsen so viele Prozesse und Kooperationen. Die Angst vor einem leeren Museum ist mir völlig unverständlich." Das Grassi stelle längst nicht mehr nur "schöne, bunte Objekte" in den Mittelpunkt, auch wenn diese nie ganz aus der Ausstellung verschwinden würden, erklärt von Bose. Stattdessen reflektiere das Museum sich selbst: "Es operiert am offenen Herzen."

Museen als Ort des Streits

Die Entstehung der Ethnologie war mit kolonialen Strukturen verwoben. Die Völkerkundemuseen haben ihren Teil dazu beigetragen, dass rassistische Ressentiments populär wurden. Im Grassi-Museum entstehen die Ausstellungen nun in Zusammenarbeit mit Expert*innen aus den Herkunftsländern. Und vieles, was sonst hinter den Kulissen passiert – wie das Restaurieren der Objekte – findet nun hinter Glas für alle sichtbar statt. "Wir haben erfolgreich die Generation Z ins Museum geholt", sagt von Bose. Diese Generation will, dass im Museum gestritten wird. Und gestritten wird im Grassi gern. Hier ist man sich dessen bewusst, dass die Objekte in Europa keineswegs gerettet, sondern ihrer früheren Funktion beraubt wurden. Auch sind sie keiner breiten internationalen Öffentlichkeit zugänglich, wie etwa das British Museum behauptet, das bislang nichts zurückgeben will. Denn junge Leute aus Afrika oder Ozeanien, die in ihren Museen kaum Zeugnisse ihrer eigenen Geschichte finden, können sich keine Flüge nach Europa leisten. All das erzählt das Leipziger Museum auch.

Ein Museumsraum, in dem Tische stehen, Bilder an der Wand hängen; auf einem Tisch ist ein Kopfhörer auf einem Bügel aufgehängt.

Der "Raum der Erinnerung" dient feierlichen Rückgabezeremonien.

Außerdem wird nicht mehr alles gezeigt, was man hat. In einem Raum mit historischen Vitrinen hängen nur 120 der 120.000 Objekte, über die das Museum verfügt. Und alles, was man darüber weiß, wird ebenso offengelegt wie das, was man nicht weiß. Die Leipziger Museumsverantwortlichen überlegen, nicht nur Objekte zurückzugeben, die eindeutig geraubt wurden, sondern auch solche, die an ihrem Herkunftsort einfach sinnvoller aufgehoben sind, so von Bose.

Im "Raum der Erinnerung" können Delegationen aus aller Welt im Rahmen von Ritualen "Human Remains", also menschliche Überreste ihrer Vorfahren, oder andere Objekte in Empfang nehmen. Es ist der einzige Raum dieser Art in einem deutschen Museum. Ausgestellt sind hier derzeit ein Rindenschäler, ein Fischernetz, ein Speer und eine Keule, die einst First Australians gehörten. Diese Exponate kamen schon ein knappes halbes Jahrhundert vor dem Beginn der deutschen Kolonialgeschichte nach Sachsen – durch vier Missionare, die von den Kaurna, einer Bevölkerungsgruppe der australischen Ureinwohner*innen, herzlich aufgenommen wurden und eine Grammatik des Kaurna schrieben, die bis heute zur Wiederbelebung der Sprache genutzt wird. 2023 werden die Gegenstände nach Australien zurückgehen. "Wie genau diese Objekte angeeignet oder übergeben wurden, können wir viel zu oft nicht sagen", berichtet Friedrich von Bose. "Und dennoch muss die Frage der Rückgabe immer im Raum stehen, wenn wir das Museum neu denken möchten."

Susanne Messmer ist freie Autorin, Redakteurin und Filmemacherin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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