Amnesty Journal China 28. Februar 2022

Gold oder Teilhabe?

Die Biathlonstrecke in China bei den Olympischen Spielen 2022 führt in engen Kurven durch die Landschaft, es ist Nacht, sie wird angestrahlt vom Licht zahlreicher Scheinwerfermasten, im Hintergrund steht die beleuchtete Skisprungschanze.

Die Paralympics könnten die gesellschaftliche Lage von Menschen mit Behinderung verbessern. Beim aktuellen Gastgeber China geht es aber mehr um Medaillen als um Menschenrechte.

Von Ronny Blaschke

Bei keinem anderen Sportereignis konnte das chinesische Regime seine politischen Rivalen so weit hinter sich lassen wie bei den Paralympics im Sommer 2021 in Tokio: Die Chines_innen belegten Platz eins des Medaillenspiegels. Sie gewannen 96 Goldmedaillen, 55 mehr als der Zweitplatzierte Großbritannien. "China hat unbegrenzte Möglichkeiten und wird die paralympische Bewegung langfristig prägen", sagt der Sportwissenschaftler Karl Quade, der seit 1996 das deutsche Team bei den Weltspielen des Behindertensports anführt. "China betreibt eine brutale Talentsichtung, die sich andere Länder nicht leisten können und wollen."

Sport wurde schon öfter und von vielen als Plattform für Nationalismus benutzt. In diesem Winter könnte die Volksrepublik mit dieser Verbindung aber eine neue Dimension erreichen: Zunächst mit den Olympischen und ab dem 4. März mit den Paralympischen Winterspielen 2022. Der Aufstieg basiert auf einem langfristigen Plan. Bei den Sommer-Paralympics 2000 in Sydney stand China noch auf Platz sechs des Medaillenspiegels. Doch 2001 wurde entschieden, die Olympischen und damit auch die Paralympischen Sommerspiele für 2008 nach Peking zu vergeben.

Weltweit größtes paralympisches Sportzentrum

In einem Vorort der Hauptstadt entstand das weltweit größte paralympische Sportzentrum, fortan wurden in China Zehntausende Menschen mit Behinderung für den Leistungssport gesichtet. Chi Jian, Präsident der Sportuniversität in Peking, beschreibt in einem Aufsatz, wie sich ein Netzwerk herausbildete: Krankenhäuser, Schulen und Wohltätigkeits­organisationen meldeten behinderte Jugendliche mit potenziellen Talenten an lokale Sportverbände. In China leben schätzungsweise 100 Millionen Menschen mit einer Behinderung, das entspricht der Summe der Einwohnerzahl Deutschlands, Österreichs und der Schweiz.

Seit den Sommer-Paralympics 2004 in Athen dominieren die Chines_innen den Medaillenspiegel. Politiker_innen in China werten diese Erfolge auch als Ausdruck des ökonomischen Aufstiegs der Volks­republik. Und der historische Medaillenspiegel scheint ihnen recht zu geben: Von den zehn erfolgreichsten Nationen kommen acht aus Europa und Nordamerika. Die ersten drei – USA, Großbritannien, Deutschland – blicken auf 16 Paralympics-Teilnahmen zurück. China liegt mit zehn Teilnahmen seit seiner Premiere 1984 bereits auf Rang vier, als einziges Land der Top Ten, das sich kulturell nicht mit dem Westen identifiziert. Nun dürfte China auch bei den Winterspielen 2022 zur Weltspitze vorstoßen. Bedeutet das, dass Menschen mit Behinderung in China besser akzeptiert werden als vor 20 Jahren?

China betreibt eine brutale Talentsichtung, die sich andere Länder nicht leisten können und wollen.

Karl
Quade
Sportwissenschaftler

"Die Paralympics in Peking 2008 haben in China zu einem Bewusstseinswandel geführt", sagt Andrew Parsons, Präsident des Internationalen Paralympischen Komitees (IPC). "Ob Hotels, Busse oder Metros: Es gibt inzwischen deutlich weniger Barrieren." Parsons beschreibt die Paralympics als eine globale Plattform für Menschen mit Behinderung: "Der Sport schafft Sichtbarkeit und kann Berührungsängste abbauen. Es geht dabei nicht nur um Höchstleistungen. Die Paralympics können behinderte Menschen auch im Alltag zu mehr Bewegung animieren."Dieser Anspruch hat Tradition. Bereits in den 1940er Jahren betonte der deutsche Neurologe Ludwig Guttmann die positive Wirkung des Sports für behinderte Menschen. In der englischen Kleinstadt Stoke Mandeville organisierte er 1948 ­einen Wettkampf im Bogenschießen für Kriegsveteranen – das Fundament der späteren Paralympics, die seit 1960 alle vier Jahre stattfinden, seit 1976 auch im Winter. Doch die Entwicklung verlief nicht linear. 1980, nach den Olympischen Sommerspielen in Moskau, weigerte sich die Sowjetunion, die Paralympics auszutragen. 1984 lehnte Los Angeles die Spiele ebenfalls ab. Die Begründung: Sie passten nicht zum makellosen Image der Stadt.

Leistungssport in Ruinen

1996 ließen die Organisatoren in Atlanta etliche Sportstätten nach Olympia abbauen, sodass behinderte Athlet_innen in Ruinen auftreten mussten. "Doch danach war die Professionalisierung nicht mehr aufzuhalten", sagt Karl Quade. "Die Paralympics haben sich als Motor für gesellschaftliche Veränderungen etabliert. Aber es gibt auch Rückschläge."

Nach den Sommer-Paralympics 2000 in Sydney erweiterte die australische Regierung die Bauvorgaben für Barrierefreiheit, aber die Sportförderung wurde zurückgefahren. In Sotschi galten 2014 die Sportstätten als Musterbauten, doch fernab der russischen Metropolen sind behinderte Menschen in der Gesundheitsvorsorge und bei der Jobsuche im Nachteil. Vor den Sommerspielen in Rio de Janeiro 2016 erarbeitete die brasilianische Regierung ein differenziertes Antidiskriminierungsgesetz, in den Favelas aber  können Menschen mit Behinderung ihre Wohnungen oft nicht verlassen. "Paralympics können nur ein Anstoß sein", sagt Andrew Parsons vom IPC. "Der gesellschaftliche Wandel kann Jahrzehnte dauern."

Auch in China? Noch unter Diktator Mao Zedong sollten Paraden mit Tausenden trainierten Körpern die Kraft der kommunistischen Nation symbolisieren. In der Politik gab es wenige Fürsprecher, etwa Deng Pufang. Der Sohn des Reformers und ehemaligen Staatschefs Deng Xiaoping gründete 1988 den Chinesischen Behindertenverband und machte sich auch für Sport stark. Während der Kulturrevolution war Deng Pufang gefoltert und 1968 zu einem Sprung aus dem dritten Stock gedrängt worden. Seitdem ist er querschnittsgelähmt und auf einen Rollstuhl angewiesen.

Benachteiligung aufgrund Behinderung

Politiker wie Deng Pufang bewerten paralympische Medaillen seit den heimischen Spielen 2008 als Beleg für die Fürsorge des Sozialstaats. Doch Experten wie Stephen Hallett aus Großbritannien widersprechen vehement. Hallett lebte mit einer Sehbehinderung mehrere Jahre in China. Er dokumentierte für die BBC, dass behinderte Chines_innen in der Bildung und am Arbeitsmarkt benachteiligt sind. Eine seiner Thesen lautet: Mit der Vermarktung paralympischer Erfolge wolle die Regierung Menschen mit Behinderung unter Druck setzen, damit sie mehr zur Produktivität beitrügen.

In den Werbevideos für die Winterspiele 2022 verweisen die Gastgeber in ­Peking auf moderne Rampen und Fahrstühle. "Doch es sollte nicht nur um abgesenkte Bordsteinkanten gehen. Wichtig sind auch Medienangebote für Menschen mit Seh- oder Hörschädigung", sagt Thomas Abel, Paralympics-Experte der Deutschen Sporthochschule in Köln. "Sport kann in der Gesundheitsvorsorge und Rehabilitation von behinderten Menschen eine wichtige Rolle spielen." Beim Thema Inklusion, der gleichberechtigten Teilhabe behinderter Menschen, sind andere Nationen auch im Sport weiter als China. In Großbritannien, Kanada oder den Niederlanden profitieren Athlet_innen mit und ohne Behinderung von den gleichen Angeboten in Training, Medizin und  Berufsfortbildung. In China gibt es solche Kooperationen selten. Stattdessen zielt alles auf die Produktion von Medaillen.

Ronny Blaschke ist freier Journalist. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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