Amnesty Journal Afghanistan 08. November 2024

Therapeutin contra Taliban

Eine afghanische Frau mit Kopftuch, draußen.

Voller Hilfsbereitschaft und Neugier: Batool Haidari, 2022 in Rom

Die Psychologin und Frauenrechtsaktivistin Batool Haidari musste 2021 vor den Taliban fliehen. Im europäischen Exil setzt sie ihre Arbeit fort, auch indem sie Frauen und Mädchen in Afghanistan unterstützt. 

Von Elisabeth Wellershaus

Auf dem Handybildschirm ­begleite ich Batool Haidari durch einen Londoner Park. In ihren schnellen Bewegungen liegt etwas Flüchtiges. Immer wieder dreht sie sich während des Telefonats um, scheint sich nur im schnellen Schritt sicher zu fühlen. Denn sicher war sie in den vergangenen Jahren selten. 

Noch immer wirkt die Psychologin fassungslos, wenn sie über die erneute Machtübernahme der Taliban im Jahr 2021 spricht. "Ich hatte vorsichtig hoffnungsvoll in die Zukunft geschaut", sagt sie über die Jahre vor ihrer Flucht. Über die Zeit, als sie sich in Kabul noch mehr oder weniger frei bewegen konnte und an der Universität arbeitete. Noch im Jahr 2018 hatte Präsident Ashraf Ghani sie als Beraterin der Konferenz "Women’s Symposium" eingeladen. Haidari publizierte Texte zu Frauenrechten, engagierte sich für LGBTI-Communities, schrieb ihre Dissertation, verfasste literarische Texte und arbeitete als Psychologin. Auf wissenschaftlicher und therapeutischer Ebene befasste sie sich insbesondere mit sexuellen Funktionsstörungen.

Familie bedroht

Natürlich gab es schon damals Menschen, denen ihre Arbeit ein Dorn im Auge war. Vor allem Ehemänner von Frauen, die Haidari beriet. "Viele von ­ihnen haben meine Arbeit schlechtgeredet", sagt sie, während sie kurz stehen bleibt. "Sie haben versucht, ihre Frauen von mir fernzuhalten, haben sich vor meinem Einfluss gefürchtet. Mir wurde geraten, das Thema meiner Doktorarbeit zu ändern, es gab Warnungen seitens der Polizei, ich solle vorsichtiger sein." Doch Haidari setzte ihre Arbeit fort.

Währenddessen spitzten sich die Verhältnisse in Afghanistan zu. Die Taliban wurden in den Städten immer präsenter und bedrohten auch Haidari. In einem Brief an die Schriftstellerin Marica Bo­drožić schildert sie, dass eines Tages ein Geländewagen der Taliban neben ihr und ihrem Sohn anhielt. Ein Soldat packte den Jungen und teilte der Mutter grinsend mit, ihr Sohn gehöre ab jetzt zu den Taliban. Sie sei zunächst wie versteinert gewesen, schreibt Haidari, bis die Energie plötzlich wieder durch ihren Körper geflossen sei. Sie wimmelte die Männer ab, indem sie behauptete, ihr Mann sei krank und brauche seinen Sohn, sie würde ihn aber bald persönlich bei ihnen vorbeibringen. 

Die Bedingungen im Land, die Drohungen und die Gewalt nahmen immer stärker zu. Es war keine Seltenheit, dass die Taliban Jungen und junge Männer in den Straßen Kabuls aufgabelten, um sie, oft ohne Wissen der Eltern, zu Kämpfern zu machen. Mädchen und Frauen waren und sind durch gewaltsame Übergriffe gefährdet, auch Haidaris damals 13-jährige Tochter. Irgendwann wurde die Flucht der Familie unausweichlich. 

Von Rom nach London

Nachdem sie das Land überstürzt verlassen hatte, reiste Haidari noch einmal zurück, um ihren Laptop mit ihren Forschungsergebnissen zu holen, die sie zurückgelassen hatte. Erst als auch die wertvollen Daten zu psychologischen Fragen, für die sie jahrelang gearbeitet und viel riskiert hatte, in Sicherheit waren, verließ sie Afghanistan 2021 endgültig. 

Das eigene Leben und das ihrer Familie sind vorerst gerettet. Doch die Ankunft in Europa ist bis heute nicht leicht. In Rom, wo Haidari mit ihrem Mann und den Kindern zunächst lebte, gab es engagierte Menschen wie die Journalistin Maria Grazia Mazzola, die ihr halfen, sich ein wenig heimisch zu fühlen. Doch die Auseinandersetzung mit Afghanistan ließ sie auch in Italien nicht los. "Ich schrieb weiter ­Artikel über Frauenrechte und habe zwei Jahre lang fast Tag und Nacht an meiner Dissertation gearbeitet", sagt Haidari. Die Verteidigung dieser Arbeit fand schließlich online statt, eine Publikation ihrer Forschungsergebnisse ist in Planung. 

Diese Mädchen sind in einer sehr sensiblen Entwicklungsphase, voller Wut und Ängste, können sich aber kaum ausleben – Suizidgedanken sind da keine Seltenheit. Jedes Gespräch ist eine Herausforderung.

Batool
Haidari
Psychologin und Frauenrechtsaktivistin

In den drei Jahren, die sie jetzt in Europa lebt, hat die Psychologin nicht nur promoviert. Sie zog nach Großbritannien um, begleitete andere Geflüchtete therapeutisch und beschäftigte sich weiterhin mit Frauenrechtsfragen. Mit großer Hingabe und Online-Angeboten unterstützt sie bis heute junge Mädchen, die in Afghanistan nicht zur Schule gehen dürfen. "Eine meiner härtesten Aufgaben", erzählt sie. "Diese Mädchen sind in einer sehr sensiblen Entwicklungsphase, voller Wut und Ängste, können sich aber kaum ausleben – Suizidgedanken sind da keine Seltenheit. Jedes Gespräch ist eine Herausforderung. Immer geht es darum, den richtigen Ton zu treffen, vor allem, wenn man nur online präsent ist." 

Eine Zeit lang arbeitete sie mit bis zu 100 Mädchen. Im Austausch mit ihnen fungierte sie als Therapeutin und Privatlehrerin. Sie stellte ihnen Aufgaben, sprach mit ihnen über ihre Sorgen und Nöte, beriet sie bei sexualisierten Übergriffen, versuchte, sie mit Angeboten aus der Ferne am und im Leben zu halten. "Nach jeder Sitzung musste ich erstmal spazieren gehen, um mich zu sortieren und um neue Lösungsansätze zu finden", sagt Haidari. Ein Hindernis bei der Arbeit waren häufig die Familien der Mädchen. Der Kontakt zu ihnen musste behutsam über das Telefon aufgebaut werden. "In der ­Regel waren die Eltern oder ein älterer Bruder bei den Beratungen dabei, um ­sicherzustellen, dass ich die Mädchen nicht animierte, gegen die Taliban zu demonstrieren oder das Land zu verlassen. Vieles wurde nur indirekt angesprochen, manchmal habe ich auch separat per WhatsApp mit den Mädchen kommuniziert. Ich bin froh, dass es am Ende immer irgendwie funktioniert hat." 

Im Gespräch klingt an, dass die Verantwortung, die sie in diesen Momenten spürte, auch eine Belastung war. Doch vielleicht hält der Einsatz für andere auch Haidari selbst im Leben. Derzeit lernt sie an einer Londoner Sprachschule Englisch und arbeitet ehrenamtlich in einem Alzheimer-Präventionszentrum, wo sie die Patient*innen bei kognitiven Übungen unterstützt – "auch um in der praktischen psychologischen Arbeit zu bleiben". Sie engagiert sich in zahlreichen Initiativen, von informeller Stadtbegrünung bis zur Sprachvermittlung, um Menschen kennenzulernen und ihre neue Umgebung zu verstehen. Bei Hai­dari verbinden sich Hilfsbereitschaft, Neugier und der professionelle Blick der Psychologin. Ihr Interesse an anderen Menschen scheint schier unerschöpflich zu sein.

Elisabeth Wellershaus ist Autorin, Übersetzerin und freie Journalistin. Sie lebt in Berlin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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