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Kein Pogo in Kairo
In Ägypten wurde eine der beliebtesten Musikrichtungen im Land verboten. Mahraganat ist die Stimme der marginalisierten Jugend aus den Vororten Kairos.
Von Hannah El-Hitami
Die Probleme begannen am Valentinstag. Im Kairoer Stadion sangen die ägyptischen Stars Hassan Shakosh und Omar Kemal vor Tausenden Zuschauern einen Song über die Liebe zur Nachbarstochter und erklärten der lyrisch Angebeteten: "Wenn du mich verlässt, trinke ich Alkohol und rauche Haschisch."
Die scheinbar harmlose Zeile hat zum Verbot einer ganzen Musikszene geführt: Mahraganat oder Electro-Schaabi heißt die Musik der marginalisierten Jugend aus Kairos Außenbezirken – sie ist die Ausdrucksform einer enttäuschten Generation und gleichzeitig der Soundtrack ihrer ausgelassenen Partys.
Im Februar reagierte das Musikersyndikat, das auf dem Papier eine Gewerkschaft ist, und entschied, Mahraganat-Künstlern die Lizenz zu entziehen und Veranstalter zu bestrafen, die diese auftreten lassen. Der Vorsitzende des Syndikats, Hany Shaker, forderte auch Online-Plattformen dazu auf, entsprechende Songs zu löschen, allerdings ohne Erfolg. Auf Soundcloud war das umstrittene Lied über die Nachbarstochter ("Bint al-Giran") Anfang 2020 der zweitmeistgehörte Song weltweit.
Dass eine Liedzeile so viel Gegenwind provoziert, ist mehr als eine Frage des Geschmacks. Denn Mahraganat-Musik ist nicht nur vulgär und provokant, sondern auch politisch und gesellschaftskritisch – sie passt weder den konservativen Künstlerkreisen Ägyptens in den Kram noch der Regierung des ehemaligen Militärs Abdel Fattah al-Sisi.
Informell gebastelt in Kairos Randbezirken
Mahraganat bedeutet übersetzt "Festivals". Der Begriff wird als Synonym für alles Laute, Bunte, Schrille verwendet. Die Musikrichtung ist eine Mischung aus volkstümlich-arabischen Liedern und modernen Computer- oder Keyboardklängen. Gesungen wird dazu mit einer großen Portion Autotune, das die Stimmen der Sänger verzerrt und künstlich klingen lässt.
Entstanden ist Mahraganat-Musik in den ärmeren und informellen Vierteln Kairos. Genauso informell wie die halbfertigen Gebäude und ungepflasterten Straßen, die prekären Jobs und die improvisierte Infrastruktur ist der kreative Prozess hinter den Liedern: In winzigen Wohnungen basteln die jungen DJs an alten Computern mit raubkopierter Software ihre Tracks und verbreiteten sie über das Internet. Anfangs legten sie vor allem bei Hochzeiten und Straßenfesten in Kairos Randbezirken auf, wo Massen an jungen Männern ekstatisch herumhüpften, Bengalo-Feuer schwenkten und Pogo tanzten.
Doch inzwischen ist Electro-Schaabi so beliebt, dass auch junge Leute aus der oberen Mittelschicht in den Clubs und Hotels der Hauptstadt dazu feiern. Und auf Kairos Straßen ist Mahraganat-Musik omnipräsent: Sie scheppert aus den motorisierten, dreirädrigen Tuk-Tuks, in denen meist Jugendliche in Flipflops sitzen und durch die Gassen ihrer Viertel rasen. Nachts schallt sie über den Nil, wo große Gruppen junger Frauen und Männer sich Boote mieten, tanzen und feiern – nur wenige Meter von den konservativen Regeln des Festlandes entfernt.
Der HipHop Ägyptens
Die alteingesessene Musikszene, repräsentiert vom Musikersyndikat, war bislang von einem ganz anderen Stil geprägt. Erfolgreiche Lieder trugen Titel wie "Wenn du wirklich liebst" oder "Mein Schmerz", gesungen wurde mit leidendem Blick über Liebe, Sehnsucht und Betrug. Der ungeschönte Realismus der Mahraganat-Künstler hört sich anders an.
Ihre Musik ist der HipHop Ägyptens: die Stimme einer marginalisierten Jugend am Rande der Stadt, gefürchtet von den Bewohnern und Autoritäten im Zentrum. Wie im Rap wird bei Mahraganat zwar sehr viel und durchaus auch rüde gesprochen, aber nicht nur über Frauen, Alkohol und Drogen. Die Musik thematisiert auch die Perspektivlosigkeit, die Armut und den Alltag am Rande der ägyptischen Gesellschaft.
Gerade diese unkontrollierbaren Teile der Bevölkerung machen der militärnahen Regierung Sorgen. Mahraganat-Musik repräsentiert die gedrängten, unübersichtlichen Stadtviertel mit ihren solidarischen Nachbarschaften und vielen jungen, frustrierten Menschen. Die Hälfte der ägyptischen Bevölkerung ist unter 25 Jahren alt. Auch daraus speisten sich 2011 die großen Proteste.
"Das Volk will fünf Pfund Handy-Guthaben", singt MC Sadat in einem Song und greift dabei den Hauptslogan der ägyptischen Revolution auf, der 2011 lautete: "Das Volk will den Sturz des Regimes." Weiter singt er: "Das Volk ist so verdammt müde, es lebt von der Hand in den Mund." Revolutionen scheitern, so deuten diese Zeilen an, wenn ein Großteil der Bevölkerung wirtschaftlich zermürbt wird. Seit 2016 steckt Ägypten in einer tiefen Wirtschaftskrise. Die Preise für Grundnahrungsmittel sind rasant gestiegen, während die ohnehin schon geringen Löhne nur bedingt angepasst wurden.
Kunstschaffende im Gefängnis
Wie viele kreative Strömungen wuchs die Mahraganat-Szene nach der Revolution 2011 rasant – und wie andere auch droht sie nun an der nationalistisch-reaktionären Wende zu zerbrechen, die die Regierung seit dem Militärputsch vor sieben Jahren eingeschlagen hat. Jede Kritik daran wird im Keim erstickt, vermeintliche oder tatsächliche Oppositionelle verschwinden und tauchen in Gefängnissen oder Polizeistationen wieder auf. Amnesty International schätzt, dass Ägypten bis zu 60.000 politische Gefangene in seine Haftanstalten gesperrt hat.
Kunstschaffende bleiben davon nicht verschont, wie erst Anfang Mai der Tod des 24-jährigen Filmemachers Shady Habash im Tora-Gefängnis in Kairo zeigte. Er saß zuvor mehr als zwei Jahre ohne Prozess ein, nachdem er einen satirischen Musikclip gedreht hatte.
Ob den Mahraganat-Musikern auch so harte Strafen drohen, ist noch unklar. Kurz nach dem Konzert am Valentinstag sagte der ägyptische Parlamentarier Faraj Amer in einer Talkshow, dass er sich um härtere Gesetze gegen Mahraganat-Musiker und andere Künstler bemühe, die "der ägyptischen Kunst, Tradition und Moral schaden". Er wolle die Strafe bei Verwendung unangemessener Sprache auf bis zu drei Jahre Gefängnis erhöhen.
Hassan Shakosh und Omar Kemal haben sich inzwischen für ihre kontroverse Liedzeile entschuldigt. In einem Statement auf YouTube erklären sie, dass der Skandal nur auf einem Missverständnis beruhe: Sie hätten eigentlich eine Version des Liedes ohne die besagte Liedzeile spielen wollen, doch vor Ort habe man die beiden Tracks auf dem USB-Stick verwechselt. "Wir hatten versprochen, die Zeile zu ersetzen und waren überrascht, als plötzlich die alte Version gespielt wurde", verkündete Shakosh mit schuldbewusster Miene.
Vielleicht ist sein kürzlich neu erschienener Song ein Versuch, wieder die Gunst der Regierung zu gewinnen: "Unser reines Militär hat ein reines Herz", singt er darin zu den sanften Klängen eines Klaviers, und weiter: "Tausend Dank an die Armee."
Hannah El-Hitami ist freie Journalistin und lebt in Berlin.
Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder.