Amnesty Journal Ägypten 21. März 2018

"Auf der Straße mache ich mich unsichtbar"

Szene aus Graphic Novel zeigt eine eng gedrängte Masse von Männern

Fast jede Ägypterin ist schon sexuell belästigt worden – auch deshalb gilt Kairo als weltweit gefährlichste Millionenstadt für Frauen. Und obwohl viele als Alleinverdienerinnen für ihre Familien sorgen, ist die Dominanz von Männern in Politik und Gesellschaft ungebrochen. Ein Gespräch mit der Performerin und Theaterregisseurin Nora Amin über den Kampf der ägyptischen Frauen.

Interview: Hannah El-Hitami

In Ihrem Buch "Weiblichkeit im Aufbruch" beschreiben Sie, wie Sie mit neun Jahren das erste Mal sexuell belästigt wurden: Der Mitarbeiter eines Reinigungsgeschäfts starrte Ihren Körper an und drang so in Ihre Privatsphäre ein. Sie schreiben, dass Sie sich da zum ersten Mal als Frau wahrgenommen haben. Bedeutet sexuelle Belästigung für ägyptische Mädchen den Eintritt ins Erwachsenenleben?

Ja, für die meisten Frauen in Ägypten endet die Kindheit mit sexueller Belästigung. Der übergriffige Blick zeigt dir, dass du anders bist. Und gleichzeitig drückt er dir den Stempel der Scham auf. So tritt die gesellschaftliche Definition von Weiblichkeit offen zutage: Unsere Körper haben etwas, das Männer dazu einlädt, uns weh zu tun. Weibliche Identität besteht demnach darin, dass dir Schmerz und Leid zugefügt wird, was dazu führt, dass du früh das Kämpfen, Widersetzen und Beschützen lernst. Als Kind und Teenager wuchs ich in den Kreisen ägyptischer Feministinnen auf. Meine Mutter nahm mich als Elfjährige zu allen Treffen mit. Dort begegnete ich den Pionierinnen des Feminismus: Nawal al-Saadawi, Fatheyya al-Assal, Ingiy Rushdi und andere. Für mich als Kind war das überwältigend. Ich erkannte damals den Unterschied zwischen meiner privaten Erziehung zuhause und der gesellschaftlichen Erziehung auf der Straße, die das Verhalten von Frauen in der Öffentlichkeit prägt.

Dieses zurückhaltende Auftreten in der Öffentlichkeit beschreiben Sie in Ihrem Buch mit den Worten: "Die Arme baumeln nicht, und es werden nur kleine Schritte gemacht." Ich habe aber auch die gegenteilige Erfahrung gemacht, dass ich als Frau in Ägypten besonders selbstbewusst  auftrete, um nicht Opfer von Übergriffen zu werden. Glauben Sie, dass sexuelle Belästigung Frauen schwächer macht?

Nein, Opfer sind die Frauen dieses Landes sicherlich nicht. Im Gegenteil: Sie sind wahre Heldinnen, weil sie diese ganze Gewalt überleben. Hinzu kommt ja noch die Genitalverstümmelung: Eine Frau, die immer gelernt hat, ihren Körper zu hüten, keine Haut zu zeigen, wird plötzlich völlig entblößt vor Fremden, die ohne Betäubung einen Teil ihres Körpers abschneiden. Das ist eindeutig Folter. Und diese Folter zieht sich durch das ganze Leben. Nicht nur, weil es das Sexualleben schwierig macht, sondern auch wegen des psychischen Schmerzes. Es hinterlässt ein Trauma, das von mehr als 90 Prozent der Ägypterinnen geteilt wird. Dieses kollektive Trauma muss anerkannt werden.

Szene aus Graphic Novel "Doigts d'Honneur" zeigt Demonstrierende in Kairo

Was war während der Proteste auf dem Tahrirplatz in Kairo Anfang 2011 anders für Frauen?

Darüber könnte man ein ganzes Buch schreiben, und das habe ich ja auch versucht. Zunächst müssen wir uns fragen, wie kann es sein, dass in einer Gesellschaft, in der die meisten Frauen von Kindesbeinen an sexuell belästigt werden, es während der 18 Tage der Revolution keine solche Gewalt gab? In einem Land wohlgemerkt, das die Liste der Länder mit den schlimmsten Lebensbedingungen für Frauen anführt. Die Antwort auf diese Frage erklärt, was sexuelle Belästigung bedeutet und was Revolution bedeutet.

Und wie lautet die Antwort?

Meiner Ansicht nach gibt es eine organische, untrennbare Verbindung zwischen dem Regime und dem patriarchalen System. Im patriarchalen System werden Frauen zu Objekten degradiert – und zum Eigentum der Männer, sodass sie ihre eigenen Körper nicht besitzen. Genauso ist es im autoritären Staat: Da besitzt das Regime seine Bürgerinnen und Bürger. Auch ihnen gehören ihre Körper nicht, weder Männern noch Frauen. Wenn es dann zu einer Revolution kommt, begehren alle gegen den obersten Patriarchen auf, und damit gegen das System der Unterdrückung. Die Befreiung von Mann und Frau ist nur möglich, wenn sich alle vereinen.

Szene aus Graphic Novel zeigt zwei Frauen während einer Demonstration im Gespräch über den Präsidenten

Wie erklären Sie die Massenvergewaltigungen, die es sowohl am Ende der Proteste gegen Hosni Mubarak 2011 als auch 2013 beim Aufstand gegen Mohammed Mursi gab?

Es geht bei sexueller Gewalt und Belästigung nicht um Sex, sondern um Macht, sei es die des Mannes, des Patriarchen oder des politischen Machthabers. Wenn wir die Massenvergewaltigungen aus diesem Blickwinkel betrachten, dann war es besonders wichtig, dass sie auf dem Tahrirplatz stattfanden. Natürlich gab es auch viele Angreifer, die bei diesen Vergewaltigungen spontan mitmachten – als Teil eines primitiven, bestialischen Rituals. Doch das eigentliche Ziel der Vergewaltigung war nicht, den Körper des Opfers zu misshandeln, sondern die Macht des alten Regimes über den Platz zu demonstrieren, ihn wieder in Besitz zu nehmen, und damit auch die Kontrolle über Ägypten zurückzuerlangen.

Hat sich seit dem Aufstand gegen Mubarak nichts verbessert?

Ich habe lange darüber nachgedacht und bin mittlerweile überzeugt davon, dass sich über Nacht nicht wirklich etwas verändern lässt, auch nicht in 18 Tagen oder Jahren. Es ist ein sehr langer Prozess, der hundert Jahre dauern könnte. Aber ich bin überzeugt davon, dass sich etwas verändern wird, wenn auch mit Schwankungen und Rückschlägen. Wir können an die Utopie der 18 Tage vom Tahrirplatz anknüpfen, indem wir ein progressives politisches System schaffen. Das ist eine Frage der Bildung, der Wirtschaft, der Medien und der politischen Parteien. Ein riesiger bleibender Erfolg der Revolution ist die Erkenntnis aller Bürgerinnen und Bürger, dass sie etwas verändern können, dass sie Macht haben, und wenn es nur die gemeinsame Macht ihrer Körper ist. Die uralte Angst vor der Staatsgewalt haben wir gebrochen.

Es geht bei sexueller Gewalt und Belästigung nicht um Sex, sondern um Macht.

Nora
Amin
Autorin und Theaterregisseurin

Wie steht es sieben Jahre nach dem Sturz Mubaraks um die Frauenrechte?

Ich merke schon, dass sich etwas verändert, wenn auch sehr langsam. Zum Beispiel gab es die tapferen Frauen, die auf dem Platz vergewaltigt wurden und das gemeldet haben. Eine von ihnen ist Yasmine al-Baramawi, eine wahre Superheldin. Sie ist eine ägyptische Musikerin und Aktivistin, die am Tahrirplatz von einer großen Gruppe Männer angegriffen und vergewaltigt wurde, als sie gegen die Muslimbrüder und Mohammed Mursi demonstrierte. Erst hat sie niemandem davon erzählt. Als dann anderen Frauen das gleiche widerfuhr, trat sie live im Fernsehen auf und sprach über ihre Erfahrung. Das war ein politisches Statement.

Szene aus Graphic Novel zeigt eine Frau mit grünem Kopftuch in einer Behörde

Warum ist es so wichtig, darüber öffentlich zu sprechen?

Frauen, die vergewaltigt wurden, dürfen nicht als entehrte Opfer betrachtet werden, denn sie sind Überlebende und Heldinnen. Die mächtigste Waffe des Angreifers ist die Garantie, dass das Opfer sich schämt. Eigentlich sollte sich ja der Angreifer schämen. Aber wenn das Täter-Opfer-Verhältnis umgekehrt wird, wird das Opfer niemals wagen, aufzubegehren. Seit der Revolution haben Menschen angefangen, über sexuelle Gewalt zu reden. Mehr Frauen hatten den Mut, sexuelle Belästigung zu melden und sich zu wehren. Die damit verbundene Scham wird allmählich kleiner. Das ist kein offensichtlicher Wandel, aber man spürt ihn daran, wie Frauen sich im Fernsehen oder in den sozialen Medien äußern.

Szene aus Graphic Novel zeigt eine Frau mit grünem Kopftuch im Gespräch mit einem Polizisten

Als Performance-Künstlerin treten Sie vor einem Publikum auf, das Sie beobachtet. Wie unterscheidet sich das von dem Gefühl, auf der Straße angestarrt zu werden?

In meinem Buch schreibe ich, dass ich zwei verschiedene Körper habe. Wenn ich auf der Bühne stehe, fühle ich eine gewisse Präsenz und Stärke. Das Theater ist zwar auch ein öffentlicher Raum, aber das Gegenteil von der Straße. Auf der Bühne ist es mein Job, gesehen zu werden, zu performen, meinen Körper darzubieten. Auf der Straße ist es mein Ziel als Frau, unsichtbar zu sein. Die Bühne ist ein Ort der Ermächtigung für die unsichtbaren Körper. Auf der Bühne herrscht eine andere Realität mit bestimmten Regeln und Grenzen. Auf der Straße bist du du selbst, während du auf der Bühne eine Rolle spielst. Wenn ich die Bühne verlasse und auf die Straße hinaustrete, spüre ich im ersten Moment, dass ich in eine unsichere Welt gehe. Anfangs bin ich noch erfüllt von der Würde der Bühne, aber dann sehe ich diese Würde langsam verpuffen. Mein Traum wäre es, die Freude und Erfüllung der Bühne immer in mir zu tragen.

Szene aus Graphic Novel zeigt die Frau mit grünem Kopftuch, die aus der Polizeiwache geworfen wird

Der Ruf von Performance-Künstlern, Schauspielerinnen und Tänzerinnen in Ägypten ist denkbar schlecht. Hatten Sie Schwierigkeiten, Ihre Leidenschaft fürs Tanzen auszuleben?

Ich persönlich nicht. Aber jeder, der tanzt, Mann oder Frau, muss damit zurechtkommen, dass dieser Beruf traditionell als schändlich betrachtet wird. Für Frauen ist es noch schlimmer als für Männer. Die Menschen lieben Unterhaltung, aber verurteilen sie zugleich. Sie können eine Tänzerin verehren, aber niemals akzeptieren, dass die eigene Tochter Tänzerin wird. Das wäre die absolute Schande. Ebenso kann ein Mann Stunden in einem Bordell verbringen und sich vielleicht sogar in eine der Frauen verlieben, die dort arbeiten. Aber niemals würde er sie heiraten. Die weibliche Schönheit und Sexualität wird verurteilt, um sie zu unterwerfen. Nur so fühlt sich der Verehrer nicht von ihr beherrscht. Es ist eine Machtstrategie. Und das erklärt wiederum, warum wir Frauen unsere Weiblichkeit im selben Moment entdecken, in dem die Belästigung beginnt.

Wie politisch ist Ihre Kunst?

Meine Performance mit dem Titel "Resurrection" ist ein Beispiel für den Zusammenhang zwischen Kunst und politischem Aktivismus. Die Geschichte beginnt mit einem Brand in einem Theater am 5. September 2005 im oberägyptischen Beni Suef, bei dem fast 50 Menschen starben. Einer von ihnen war Saleh Saad, der Vater meiner Tochter. Er war Theaterregisseur und Mitglied der Jury des Festivals, das in dem Theater stattfand. Es gab dort weder Notausgänge noch Brandschutzmaßnahmen, und die Feuerwehr sowie die Rettungskräfte kamen viel zu spät. Das zeigt, wie wenig der Staat für seine Bürger sorgt, wie wenig er tut, um ihnen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Der Kultusminister beschuldigte die Opfer, weil die Kerze, die den Brand verursacht hatte, Teil einer Performance war. Der Brand war ein Schlag ins Gesicht der Theater-Community. Wir erkannten damals, dass wir selbst politisch aktiv werden und unsere Rechte erkämpfen müssen. Mit diesem Vorfall begann der erste organisierte Protest von Künstlerinnen und Künstlern in Ägypten. Ich habe damals dafür plädiert, dass wir neben Demonstrationen und Petitionen auch auf die Bühne zurückkehren müssen. Ich wollte mit meinem Stück den Ort des Traumas zum Ort der Heilung machen.

Die weibliche Schönheit und Sexualität wird verurteilt, um sie zu unterwerfen.

Nora
Amin
Autorin und Theaterregisseurin

Waren diese Proteste ein Vorläufer des Aufstands 2011?

Ich denke schon. Die kollektive Erfahrung des Todes setzt Menschen unter Druck und ist der zuverlässigste Katalysator für Revolutionen. Wenn Menschen getötet und gefoltert werden, dann bröckelt die Macht des Regimes. Die Menschen schließen sich zusammen. Solch eine starke Gemeinschaft macht Mut gegen die Übermacht der Polizei, selbst wenn man keine andere Waffe als den eigenen Körper hat. Jeder Staat möchte große Versammlungen am liebsten verbieten – deswegen galten in Ägypten mehr als dreißig 30 Jahre lang Notstandsgesetze. Versammlungen bedrohen den Staat, weil die Masse der Körper stark ist. Die versammelten Körper auf dem Tahrirplatz waren stärker als Waffen. Denn noch so viele Patronen können nicht alle töten.

Wie haben Sie das Theater während der Revolution neu entdeckt?

Ich habe viel Straßentheater gemacht, was vorher verboten war. Ich habe von Augusto Boal in Brasilien das "Theater der Unterdrückten" kennengelernt. Er ist einer meiner Mentoren. Er nutzt das Theater, um gesellschaftlichen und politischen Wandel voranzutreiben. In seiner Theatermethode wird das Publikum aktiv. Zuschauer können in das Stück einsteigen, eine der Rollen übernehmen und versuchen, Konfliktsituationen zu lösen. Ich habe das nationale ägyptische Projekt für das Theater der Unterdrückten im November 2011 in Alexandria gegründet. Dann bin ich in andere Landesteile gereist und habe insgesamt 600 Menschen ausgebildet. Zu erfahren, dass der Verstand letztendlich bei allen Menschen gleich funktioniert, war sehr beeindruckend. Und zu beobachten, wie der öffentliche Raum zu einer Bühne für Ausdruck, Partizipation und Transformation wurde, ist eine meiner wichtigsten Erinnerungen.

Portrait von Nora Amin

Nora Amin, 1970 in Kairo geboren, ist Autorin, Performerin und Theaterregisseurin. Sie verfasst Romane, Kurzgeschichten, Essays und Gedichte. Im Jahr 2000 gründete sie die Lamusica Independent Theatre Group in Kairo, um mit neuen Formen des körperlichen Ausdrucks zu experimentieren und die Unterdrückung von Frauen und die soziokulturelle Repression zu thematisieren. Seit 2015 lebt sie in Berlin, wo sie im Sommersemester 2018 Gastprofessorin für Tanzwissenschaft an der Freien Universität ist. Soeben ist ihr Buch "Weiblichkeit im Aufbruch" erschienen.

Am 8. März liest Nora Amin ab 19:30 in der Werkstatt der Kulturen, Berlin, aus ihrem Buch.

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