DEINE SPENDE KANN LEBEN RETTEN!
Mit Amnesty kannst du dort helfen, wo es am dringendsten nötig ist.
DEINE SPENDE WIRKT!
Unhold Leopold
Denkmalkritik und politische Entschuldigungen: Nach Jahrzehnten der Ignoranz nimmt die Debatte um die Folgen der belgischen Kolonialzeit an Fahrt auf.
Von Till Schmidt
"Mörder", "Entschuldigung" oder schlicht blutrote Farbe – auch in Belgien haben Aktivisten während der jüngsten Black-Lives-Matter-Proteste historische Statuen mit antirassistischen Botschaften gekennzeichnet. In der Brüsseler Innenstadt wurde das berühmte Reiterstandbild von König Leopold II. mit Slogans besprüht. In Antwerpen sah sich die Stadtverwaltung sogar gezwungen, eine stark beschädigte Statue des Monarchen aus der Öffentlichkeit zu entfernen.
Im gesamten Land existieren mehr als 25 Statuen, Büsten und Monumente, die dem ehemaligen belgischen König huldigen. Dazu kommen nach ihm benannte Straßen, Plätze und Parks. Im Zuge der jüngsten Proteste unterzeichneten Zehntausende Menschen Petitionen, in denen die Entfernung einiger oder aller Leopold-II-Statuen gefordert wurde. "Es ist unvorstellbar, dass in Deutschland Statuen von Adolf Hitler stehen oder Plätze nach einem Massenmörder benannt sind", sagt Mireille-Tsheusi Robert von der antirassistischen NGO Bamko-Cran.
Brutale Ausbeutung
Die belgische Kolonialherrschaft im Kongo begann 1885 – als Privatunternehmen von Leopold II., der nie einen Fuß auf afrikanischen Boden setzte, sich aber als Philanthrop gerierte mit dem Ziel, Afrika zu "zivilisieren". In Wirklichkeit ließ er die kongolesische Bevölkerung brutal ausbeuten. Die Zahl der Todesopfer während seiner Regentschaft wird auf bis zu zehn Millionen geschätzt, was beinahe der Hälfte der damaligen Bevölkerung entspräche. Die Chicotte, eine Peitsche aus Nilpferdleder, sowie verstümmelte Gliedmaßen wurden zu Symbolbildern dieser Zeit.
Die Ausbeutung des Kongo führte in Belgien insbesondere während des Kautschukbooms zu einem wirtschaftlichen Aufstieg. Angesichts internationaler Proteste gegen die "Kongo-Gräuel" sah sich Leopold II. allerdings gezwungen, seine Privatkolonie an den belgischen Staat zu übergeben. In Belgisch-Kongo, wie das Land ab 1908 hieß, gingen die Ausbeutung der Rohstoffvorkommen und die Zwangsarbeit weiter. Auch der Rassismus blieb.
"Von offizieller Seite gab es in Belgien bisher keine intensive Auseinandersetzung mit der eigenen Kolonialgeschichte", sagt Julien Bobineau vom Afrikazentrum der Universität Würzburg. Der Historiker Pedro Monaville spricht sogar von einer "kollektiven Amnesie", die bis in die 1990er Jahre vorgeherrscht habe. Dass sich das inzwischen geändert hat, führt er auf die zahlreichen Filme, Bücher und Kunstprojekte der vergangenen Jahre zurück. Vor allem aber hebt er die unermüdliche Arbeit zivilgesellschaftlicher Initiativen hervor.
Eine dieser Organisationen ist das Collectif Mémoire Coloniale et Luttes contre les Discriminations (CMCLD), das sich ehrenamtlich für eine Dekolonisierung des öffentlichen Raumes einsetzt. "Vor allem in Brüssel bieten wir postkoloniale Stadtführungen an, die der vorherrschenden Geschichtsschreibung etwas entgegensetzen", erzählt Projektmanagerin Nabila Habbida. Derzeit steige die Nachfrage nach den mehrmals monatlich stattfindenden Touren. Geschichtsinteressierte, Schülerinnen und Schüler, Studierende sowie vermehrt auch politisch Verantwortliche nehmen daran teil.
Der Druck steigt
Viele Touren des CMCLD starten am Place Royal in der Brüsseler Innenstadt. "Hier nahm das koloniale Projekt seinen Ausgang, denn an dieser Stelle befand sich die Kolonialbehörde", erklärt Habbida. 2018 gelang es einer lokalen Initiative unter Beteiligung des CMCLD, einen nahegelegenen Platz nach Patrice Lumumba zu benennen, dem ersten Ministerpräsidenten nach der Unabhängigkeit des Kongo. Er wurde 1961 mit Unterstützung belgischer Geheimdienste ermordet. König Baudouin und Teile der Regierung kannten die Pläne zur Tötung Lumumbas.
Bei der Dekolonisierung des öffentlichen Raumes ist für das CMCLD die Beteiligung von Gruppen und Einzelpersonen aus der afrikanischen und kongolesischen Diaspora zentral. "Es darf nicht sein, dass wieder einmal ohne uns entschieden wird", sagt Habbida. Das CMCLD unterstützt die Forderung, die Hauptverkehrsachse Boulevard Léopold II in Brüssel umzubenennen. Kürzlich plädierte die Bürgermeisterin der Gemeinde Molenbeek, Catherine Moureau, für ein entsprechendes Referendum in der gesamten Region Brüssel.
Zaghafte Auseinandersetzung
Neben der Arbeit im öffentlichen Raum hat sich das CMCLD auf eigene Angebote und politische Beratung im Bildungsbereich spezialisiert. Das liegt auch daran, dass das Thema belgische Kolonialgeschichte nicht zum verpflichtenden Teil der Lehrpläne in weiterführenden Schulen gehört. Auch an den Universitäten gab es lange Zeit große Defizite, erzählt der Historiker Romain Landmeters von der Universität Saint-Louis in Brüssel: "Man musste sich bereits stark für das Thema interessieren, um Wege zu finden, sich damit auch wissenschaftlich auseinanderzusetzen." Landmeters zufolge haben die Black-Lives-Matter-Proteste den Druck verstärkt, sich der Kolonialvergangenheit zu stellen. Er begrüßt es, dass das Parlament der Region Brüssel beschlossen hat, ein Komitee zur Dekolonisierung des öffentlichen Raums einzusetzen, und dass Abgeordnete die Kolonialgeschichte stärker in den Schullehrplänen verankern wollen.
"Königshaus und Regierung äußerten sich in Bezug auf die koloniale Vergangenheit bisher sehr zaghaft", erklärt Julien Bobineau. Im Jahr 2000 gestand der damalige Ministerpräsident Guy Verhofstadt zwar ein, man habe dem Genozid in Ruanda 1994 tatenlos zugesehen. Unbeachtet blieben dabei jedoch die Auswirkungen der eigenen Kolonialherrschaft in Ruanda-Urundi von 1918 bis 1961. In dieser Zeit wurden dort Gruppenidentitäten der "Hutu" und "Tutsi" extrem verstärkt und rassistisch fixiert. Daraus entstand eine ideologische Grundlage für den späteren Genozid.
Systematischer Rassismus
Aufsehenerregende Buchveröffentlichungen wie Adam Hochschilds "King Leopold’s Ghost" (1998) oder Ludo de Wittes Enthüllungen über die belgischen Verstrickungen in den Mord an Lumumba (2001) erhöhten Bobineau zufolge den Druck auf das Königshaus und die Regierung, sich konkreter zur eigenen kolonialen Vergangenheit zu äußern. 2002 entschuldigte sich der damalige Außenminister Louis Michel für die Verwicklung belgischer Amtsträger in den Mord an Lumumba.
2019 folgte eine offizielle Entschuldigung dafür, dass 20.000 Kinder weißer belgischer Väter und kongolesischer Mütter am Ende der Kolonialzeit entführt worden waren. Anlässlich des 60. Jahrestages der Unabhängigkeit des Kongo im Juli dieses Jahres äußerte König Philippe in einem Brief an den kongolesischen Präsidenten Félix Tshisekedi sein "tiefes Bedauern" über die "Akte der Gewalt und Grausamkeit" unter Leopold II. Diese "Wunden der Vergangenheit" brachte Philippe zudem in Zusammenhang mit dem Rassismus im heutigen Belgien.
"Für das Königshaus ist das ein sehr großer Schritt, für uns aber nur ein kleiner", kommentiert Mireille-Theusi Robert. Allein durch die Äußerungen des Königs dürfte sich die Lebenssituation der etwa 250.000 in Belgien lebenden Menschen mit familiärem Hintergrund in der Demokratischen Republik Kongo, in Ruanda und Burundi kaum verbessern. Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt, schlechterer Zugang zur Gesundheitsversorgung und rassistische Polizeigewalt sind für People of Color auch in Belgien alltäglich.