Aktuell 10. November 2021

Äthiopien: Berichte über Vergewaltigungen durch TPLF-Kämpfer im Tigray-Konflikt

Das Bild zeigt mehrere Soldaten die durch einen Fluß waten

Bei der Offensive der TPLF im sogenannten Tigray-Konflikt in Äthiopien haben Angehörige der TPLF Frauen in der Region Amhara vergewaltigt, gedemütigt und rassistisch beleidigt. Dies belegen Recherchen von Amnesty International. Mehrere Frauen berichteten Amnesty International, dass TPLF-Angehörige die Vergewaltigungen als Racheakte für die sexualisierte Gewalt von äthiopischen Streitkräften gegenüber Frauen in Tigray bezeichneten.

Sechzehn Frauen aus der Stadt Nifas Mewcha in der äthiopischen Region Amhara berichteten Amnesty International, dass sie von Kämpfern der Volksbefreiungsfront (Tigray People's Liberation Front - TPLF) vergewaltigt wurden, als diese die Stadt Mitte August 2021 angriffen.

Die Überlebenden gaben an, dass sie von TPLF-Kämpfern mit vorgehaltener Waffe vergewaltigt, ausgeraubt und beleidigt wurden. Außerdem zerstörten und plünderten diese die medizinischen Einrichtungen der Stadt. Vierzehn der 16 von Amnesty International befragten Frauen berichteten außerdem, dass sie von mehreren Männern vergewaltigt worden waren.

Im Rahmen einer laufenden Offensive in Teilen der Regionen Amhara und Afar hatte die gegen die Regierungstruppen kämpfende TPLF zwischen dem 12. und 21. August 2021 neun Tage lang die Kontrolle über Nifas Mewcha im Bezirk Gaint übernommen. Vertreter_innen der Regionalregierung berichteten Amnesty International, dass sich später mehr als 70 Frauen bei den Behörden gemeldet hatten, um eine Vergewaltigung in diesem Zeitraum anzuzeigen.

"Die Aussagen der Überlebenden beschreiben verabscheuungswürdige Taten der TPLF-Kämpfer, die Kriegsverbrechen und möglicherweise Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen. Diese Handlungen entbehren jeglicher Moral. Hier ist kein Fünkchen Menschlichkeit mehr zu erkennen", sagte Agnès Callamard, internationale Generalsekretärin von Amnesty International. "Die TPLF-Kämpfer müssen unverzüglich alle Menschenrechtsverstöße und Verletzungen des humanitären Völkerrechts, einschließlich sexualisierter und geschlechtsspezifischer Gewalt, einstellen. Ihre Führungskräfte müssen deutlich machen, dass solche Übergriffe nicht geduldet werden und mutmaßliche Täter aus ihren Reihen entfernen."

Tweet von Conor Fortune, Co-Direktor beim Amnesty Crisis Team:

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Massenvergewaltigungen und Schläge

Amnesty International nutzte eine sichere Videokonferenz-Anwendung, um mit 16 Überlebenden sexualisierter und geschlechtsspezifischer Gewalt aus Nifas Mewcha einzeln sprechen zu können. Amnesty befragte außerdem die Leitung des Krankenhauses von Nifas Mewcha sowie lokale und regionale Regierungsvertreter_innen, die etwas zu dem Überfall und seinen Folgen berichten konnten.

Überlebende gaben an, dass die Angriffe sofort begannen, nachdem die TPLF am 12. August 2021 die Kontrolle über die Stadt übernommen hatte. Die Frauen konnten die Täter anhand ihres Akzents, ihrer rassistischen Beleidigungen, sowie deren eigenen Angaben, dass sie zur TPLF gehörten, als TPLF-Kämpfer identifizieren.

Gebeyanesh*, eine 30-jährige Lebensmittelverkäuferin, berichtete Amnesty International: 

"Es ist nicht leicht, zu erzählen, was sie mir angetan haben. Sie haben mich vergewaltigt. Drei von ihnen vergewaltigten mich, während meine Kinder zusahen und weinten. Mein älterer Sohn ist zehn und der andere neun Jahre alt. (…) [Die Kämpfer] haben gemacht, was sie wollten und dann sind sie gegangen. Sie haben mich auch geschlagen und Shiro und Berbere [lokale Lebensmittel] mitgenommen. Sie haben mich geohrfeigt [und] getreten. Sie haben ihre Gewehre entsichert, als ob sie mich erschießen wollten."

Die TPLF-Kämpfer beschimpften die Frauen mit erniedrigenden rassistischen Begriffen. Sie nannten sie "Amhara-Esel" oder "gierige Amhara". Mehrere Frauen berichteten Amnesty International, dass TPLF-Angehörige die Vergewaltigungen als Racheakte für die sexualisierte Gewalt von äthiopischen Streitkräften gegenüber Frauen in Tigray bezeichneten. Amnesty International hat bereits früher weit verbreitete Vergewaltigungen und sexualisierte Gewalt durch regierungsnahe Truppen und Milizen in Tigray dokumentiert.

Nach den Vergewaltigungen sollen die TPLF-Kämpfer die Häuser der Frauen geplündert haben. Die Überlebenden berichteten von Kämpfern, die Lebensmittel, Schmuck, Bargeld und Mobiltelefone gestohlen haben. Viele der Betroffenen leben von der Hand im Mund und arbeiten in schlecht bezahlten und informellen Jobs, betreiben kleine Unternehmen oder sind in der Sexarbeit tätig.

Schwere gesundheitliche Folgen

Fünfzehn der 16 von Amnesty International befragten Frauen gaben an, infolge der Übergriffe unter körperlichen und psychischen Problemen zu leiden. Sie beschrieben eine Vielzahl von Symptomen, darunter Rückenschmerzen, Blut im Urin, Schwierigkeiten beim Gehen, Angstzustände und Depressionen.

Zwei der Frauen sind nach der Vergewaltigung im privaten Rahmen notdürftig medizinisch versorgt worden. Doch da das Krankenhaus und die Gesundheitsstation der Stadt im Zuge des TPLF-Angriffst beschädigt und geplündert wurden, hat keine der befragten Überlebenden Zugang zu einer umfassenden Behandlung. Es stehen weder Notfallverhütungsmittel noch eine Notfallprophylaxe für HIV und sexuell übertragbare Infektionen zur Verfügung. Eine Beurteilung und die Behandlung von Verletzungen sowie eine gezielte Psycho-Therapie sind unmöglich. 

Die Regierung muss dafür sorgen, dass alle Vorwürfe im Zusammenhang mit sexualisierter Gewalt unverzüglich, wirksam, unabhängig und unparteiisch untersucht werden.

Agnès
Callamard
Generalsekretärin von Amnesty International

Vertreter_innen der Regionalregierung von Amhara teilten Amnesty International mit, dass die Bewohner_innen von Nifas Mewcha – darunter 54 Überlebende von Vergewaltigungen – seit dem Angriff Unterstützung für ihren Lebensunterhalt erhalten hätten. Außerdem planten sie, die geplünderten Krankenhäuser und Einrichtungen in der Region mit medizinischer Ausrüstung und anderen Hilfsgütern zu versorgen und den Überlebenden Beratung und psychosoziale Dienste anzubieten.

"Die äthiopische Regierung muss ihre Bemühungen um eine umfassende Unterstützung von Überlebenden sexualisierter Gewalt und anderen Opfern des Konflikts beschleunigen. Als ersten Schritt muss sie dringend den sofortigen und ungehinderten Zugang für humanitäre Hilfe zu allen vom Konflikt betroffenen Gebieten in Nordäthiopien ermöglichen", sagte Agnès Callamard.

"Die Regierung muss außerdem dafür sorgen, dass alle Vorwürfe im Zusammenhang mit sexualisierter Gewalt unverzüglich, wirksam, unabhängig und unparteiisch untersucht werden. Sie muss die mutmaßlich Verantwortlichen vor öffentlich zugängliche Zivilgerichte stellen, die die internationalen Standards für faire Gerichtsverfahren erfüllen und in denen nicht auf die Todesstrafe zurückgegriffen wird. Außerdem muss es für die Überlebenden eine Wiedergutmachung geben."

*Hinweis: Die Namen aller Befragten wurden aufgrund von Sicherheitsbedenken pseudonymisiert. 

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