Amnesty Journal 14. Januar 2025

Krieg, Verfolgung und Konflikte überwinden

Eine gemalte Landschaft, ein Mädchen in einem Rock steht an einem Flussufer, über den Fluss geht eine Brücke, der Mond steht am Himmel, am Flussufer ein Stein: "Don´t forget", steht darauf geschrieben.

Was braucht es, damit Versöhnung möglich ist und ein dauerhafter Frieden gelingen kann?

Wie können sich Gesellschaften ihrer historischen Verantwortung stellen und daraus Lehren für die Zukunft ziehen? Drei kleine Geschichten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz.

Fünf Kilometer Konflikte

Amnesty International Deutschland ist in Berlin umgezogen, in die Sonnenallee. Sie ist seit 140 Jahren eine Straße der Proteste und der politischen Auseinandersetzungen.

Von Maik Söhler

"Freundschaft!" Mit diesem Wort begrüßt in Leander Haußmanns Filmko­mödie "Sonnenallee" eine Lehrerin ihre Schulklasse. Dass dieser Begriff, wenn man ihn laut und autoritär ausspricht, wie eine Drohung klingt, macht klar: Dies ist der offizielle Ton einer Pädagogin in der DDR der 1970er Jahre gegenüber ihren Schüler*innen. 

Amnesty International in Deutschland ist im Sommer 2024 in die Sonnenallee 221 C gezogen, und Freundschaft – leise und ohne autoritäre Geste – könnte ein ­geeignetes Mittel sein, um sich unauffällig unter all jene zu mischen, die dort bereits länger ­leben und die konfliktreiche Geschichte dieser fünf Kilometer langen Berliner Straße besser kennen als die Zugezogenen.

Ein Stück deutscher Geschichte

Seit 140 Jahren schreibt sich die Sonnenallee in die Berliner Stadtgeschichte ein; sie hat das Kaiserreich, die Weimarer Republik, den Nationalsozialismus und die Teilung Berlins überlebt, von der sie auch selbst betroffen war: 400 Meter der Straße im Ostberliner Stadtteil Treptow wurden durch den Bau der Mauer am 13. August 1961 vom Rest der Sonnenallee im Westberliner Stadtteil Neukölln abgetrennt. Und auch der letzte Mauertote ist mit der Sonnenallee verbunden: Chris Gueffroy wurde im Februar 1989 am ­nahegelegenen Britzer Zweigkanal von Grenztruppen der DDR auf der Flucht ­erschossen. Nicht weit entfernt, in der Sonnenallee 187, erinnert eine Gedenk­tafel an Lager für Zwangsarbeiter*innen, die in der vom NS-Regime in Braunauer Straße umbenannten Sonnenallee lagen. 

Heute ist die Straße gekennzeichnet durch ein Sammelsurium aus deutschen, türkischen und arabischen, aus verarmten und mittelständischen, aus alteingesessenen und urban-hippen Milieus, die meist nebeneinander existieren. Sie ist eine Straße der Proteste und der politischen, sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Konflikte. Feministinnen ­haben hier einst das Frauenwahlrecht ­gefordert. Arbeiter*innen demonstrierten rund um den Hermannplatz jahrzehntelang für ihre Rechte. Kundgebungen gegen Rassismus gehören heute zum Neuköllner Alltag. 

Täglich sind politische Forderungen in der Sonnenallee zu vernehmen, darunter leider auch solche, die Menschenrechte wie das Recht auf Leben oder die Meinungsfreiheit einschränken oder gar abschaffen wollen. Doch von den Tausenden Menschen, die den Alltag in dieser Straße prägen, geben die meisten ihr Bestes, damit das friedliche Zusammenleben gelingt. Sie ist daher ein guter Ort für ­Amnesty, um die Nachbar*innen mit "Freundschaft!" zu umwerben, die Idee der Menschenrechte zu verbreiten und dabei Konflikte auch mal auszuhalten. Freundschaft bedeutet ja: Man muss sich nicht lieben, Zugewandtheit und Respekt reichen völlig aus.

Eine ältere Frau im Porträt, Stil ist der einer Illustration, sie trägt ein schulterloses Kleid.

»Bleibt misstrauisch«

Lucia Heilman, Jg. 1929, gehört zu den Überlebenden des Holocaust. Als die Situation für die in Wien verbliebenen Juden und Jüdinnen 1941 immer gefährlicher wurde, versteckte ein Handwerker sie und ihre Mutter. Nach dem Krieg wurde Heilman ­Ärztin.

Von Antonio Prokscha

Eine der wichtigsten Fragen, die Lucia Heilman bei ihren Besuchen als Zeitzeugin in Schulen immer wieder gestellt wird, lautet: Haben Sie keine Angst, dass sich die Gräuel des Holocaust wiederholen könnten? "Als ich diese Frage erstmals hörte, war ich entsetzt. Was muss in dem Schüler vorgegangen sein, dass er ­erwog, so eine Sache könne sich wiederholen? Ich habe keine Antwort darauf ­gewusst", erzählt sie. 

Doch die Frage tauchte immer wieder auf. "Vielleicht sehen die Schüler die Welt realistischer als ich. Bis heute kann ich keine Antwort darauf finden." Denn bis heute fühlt sich Lucia Heilman in Österreich nicht sicher. Antisemitismus empfindet sie als ständige Bedrohung. Schon nach 1945 war es schwer, sich in einem Land zu Hause zu fühlen, in dem so viele ihre Verfolgung unterstützt hatten. Ihre Mutter kämpfte lange, um wieder als Chemikerin arbeiten zu können, ihre enteignete Wohnung erhielten sie erst vor Gericht zurück. Nach Jahren im Versteck wollte Lucia Heilman wieder lernen, doch die Rückkehr in die Schule war von Ablehnung geprägt: "Als ich sagte, ich sei Jüdin, erstarrte die Klasse." 

Zuflucht bei anderen jüdischen Menschen

Lucia Heilmann plante auszuwandern. Doch wollte sie Ärztin werden, und in Österreich gab es keine Studiengebühren. Zudem lernte sie ihren Mann kennen, der für beide in Österreich ein neues Leben aufbauen wollte. Ihr ganzes Leben lang suchte sie Zuflucht bei anderen jüdischen Menschen. Nur unter ihnen hatte sie das Gefühl, frei sprechen zu können und verstanden zu werden. 

Auch wenn derzeit oft von einer Zunahme des Antisemitismus die Rede ist, betont Lucia Heilman, dass er nie verschwunden sei: "Antisemitismus ist immer da. Viele erkennen diese Bedrohung nicht. Aber wenn man Jude ist, spürt man das." Der Schmerz aus der Zeit der Verfolgung sitzt noch immer zu tief, um an Versöhnung zu denken: "Wenn man gedemütigt und angespuckt wurde, wie kann man sich mit diesen Menschen versöhnen? Gar nicht, auch wenn man sich ­bemüht."  

Obwohl ein Christ, der Kunsthand­werker Reinhold Duschka, ihr damals das Leben rettete, betont Lucia Heilman, dass solche Tapferkeit selten gewesen sei. In einem Land mit Millionen Menschen gab es um die 90 Personen, die aktiv jüdisches Leben schützten, schätzt sie. Lucia Heilman bleibt skeptisch, ob sich die Einstellung gegenüber Jüdinnen und Juden in Österreich jemals ändern wird. Sie wünscht sich, dass Menschen zumindest anfangen, den Schaden zu erkennen, den ­Antisemitismus anrichtet. Ihr Rat an die kommenden Generationen: "Bleibt misstrauisch."

Ein dunkles Kapitel Schweizer Geschichte

Ein Genozid in der Schweiz? Genau das muss die Schweizer Regierung nun klären: Jahrzehntelang wurden der fahrenden Gemeinschaft der ­Jenischen die Kinder weggenommen.

Von Baptiste Fellay

Vor 52 Jahren brachte es die Zeitschrift Der Beobachter ans Licht: Das Kinderhilfswerk Pro Juventute hatte mehr als 50 Jahre lang Kinder von Jenischen ihren Eltern entrissen und in Heimen oder Pflegefamilien untergebracht – im Auftrag der Behörden und mit finanzieller Unterstützung der Regierung. Die Jenischen sind ein Volk von Fahrenden, die insbesondere im deutschsprachigen Alpenraum der Schweiz leben.

Erst 14 Jahre nach den Enthüllungen, am 3. Juni 1986, entschuldigte sich der Bundespräsident im Namen des Landes für das Unrecht. Der lange Prozess der Aufarbeitung ist bis heute nicht abgeschlossen. 2024 stellten jenische Organisationen einen Antrag auf Anerkennung des kulturellen Genozids an ihrer Gemeinschaft. "Das Ziel war die Entfremdung der Kinder von der jenischen Kultur und Sprache, indem sie von ihrem Umfeld getrennt wurden", erklärt der Historiker Thomas Huonker, ein Spezialist für dieses dunkle Kapitel der Geschichte. 

"Expertisen" zu rassistischen Vorurteilen

Im Europa der Zwischenkriegszeit waren eugenische Theorien weit verbreitet. Ulrich Wille, Gründungsmitglied von Pro Juventute, war ein Freund von Nazi-Größen und ein Befürworter der Eugenik. Die Psychiater Joseph und Johann Benedikt Jörger lieferten "Expertisen" zu den rassistischen Vorurteilen gegen Fahrende: Die jenische Bevölkerung sei minderwertig und von Natur aus kriminell; man müsse ihre Lebensweise zum Verschwinden bringen. 

Pro Juventute gründete deshalb auf Antrag des Schweizer Bundesrats das Projekt "Kinder der Landstraße": Bis in die 1970er Jahre wurden rund 600 Kinder ihren Familien weggenommen. Die meisten wuchsen unter Bedingungen auf, in denen sie körperlicher, psychischer und sexualisierter Gewalt ausgesetzt waren. Viele von ihnen starben jung, manche begingen Suizid. 1988 und 2018 wurden Beträge von bis zu 25.000 Franken an die Opfer gezahlt, die Jenischen werden mittlerweile als nationale Minderheit anerkannt. 

Eines der betroffenen Kinder war Uschi Waser. Das Mädchen wurde kurz nach ihrer Geburt der Mutter entrissen. Wie steht sie zu den "Wiedergutmachungsaktionen"? "Das ist nicht genug. Der Staat sollte die Kosten für gesundheitliche und soziale Probleme übernehmen, unter denen die Opfer leiden", sagt Waser. Für sie ist vor allem die Erinnerungsarbeit wichtig: "Es ist unerlässlich, dass das Wissen über dieses große Unrecht in den Schulunterricht integriert wird." 

Für Huonker ist klar, dass die Verfolgung mehrere Merkmale des Tatbestands Völkermord gemäß der UNO-Genozidkonvention umfasst. "Eine Versöhnung wird nur auf der Grundlage der Anerkennung dieser Verfolgung als versuchter ­Genozid und daraus resultierender Garantien möglich sein."

Hier geht es zum Amnesty Journal 01/2025 mit dem Schwerpunkt Konflikte und Versöhnung.

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