Pressemitteilung Aktuell Ukraine 07. April 2022

Ukraine: Amnesty-Recherchen belegen weitere Verbrechen durch russische Truppen

Das Bild zeigt drei provisorische Gräber, mit Holzkreuzen

Gräber von Zivilpersonen in der ukrainischen Stadt Butscha, die Augenzeugenberichten zufolge von russischen Soldaten getötet wurden (Aufnahme vom 5. April 2022).

++ Dieser Artikel wurde am 7. April 2022 um 14:51 Uhr mit einer deutschen Übersetzung aktualisiert. ++

 

­Russisches Militär hat wiederholt unbewaffnete Menschen in deren Häusern oder auf offener Straße erschossen und in mindestens einem Fall eine Frau mehrfach vergewaltigt, nachdem ihr Mann getötet wurde. Einige dieser Tötungen stellen außergerichtliche Hinrichtungen dar. Das belegen neue Amnesty-Recherchen in der Region um Kiew.

Trigger-Warnung: Die nachfolgende Pressemitteilung enthält explizite Beschreibungen tödlicher und sexualisierter Gewalt.    ­

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In den vergangenen Wochen hat ein Amnesty-Team in der Gegend rund um die ukrainische Hauptstadt Kiew Belege für mutmaßliche Kriegsverbrechen des russischen Militärs gesammelt. "Die schockierenden Bilder aus Butscha sind ganz offensichtlich nur die Spitze eines Eisbergs der Grausamkeit und Brutalität", sagt Janine Uhlmannsiek, Expertin für Europa und Zentralasien bei Amnesty International in Deutschland. "Russische Truppen haben unbewaffnete Menschen willkürlich erschossen, eine Frau wurde mit vorgehaltener Waffe mehrfach vergewaltigt, nachdem die Soldaten ihren Mann getötet hatten."

"Alle Belege sprechen dafür, dass wir es hier mit Kriegsverbrechen zu tun haben", sagt Uhlmannsiek. "Die internationale Gemeinschaft steht in der Pflicht, alles zu tun, damit die Verantwortlichen für diese Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden – auch die Personen ganz oben in der Befehlskette."

 

Hier nachfolgend die Übersetzung der englischen Pressemitteilung:

Mitarbeitende des Krisenreaktionsteams von Amnesty International haben mehr als 20 Personen aus Dörfern und Städten in der Nähe von Kiew befragt. Mehrere dieser Personen haben die entsetzlichen Gewalttaten russischer Streitkräfte selbst miterlebt oder unmittelbar Kenntnis davon erlangt. 

Die Befragten berichteten wiederholt über Einschüchterungen, rechtswidrige Gewalt und willkürliche Tötungen unbewaffneter Zivilpersonen durch russische Streitkräfte in der Region Kiew.

"In den vergangenen Wochen haben wir verschiedene Beweise zusammengetragen, die belegen, dass die russischen Streitkräfte außergerichtliche Hinrichtungen und rechtswidrige Tötungen begangen haben. Diese müssen als Kriegsverbrechen untersucht werden", erklärt Agnès Callamard, internationale Generalsekretärin von Amnesty International.

Berichten zufolge werden Zivilpersonen in der Ukraine auf entsetzlich grausame und brutale Weise in ihren Häusern oder auf der Straße getötet.

Vorsätzliche Tötungen von Zivilpersonen sind Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen. Die Todesfälle müssen gründlich untersucht und die dafür Verantwortlichen strafrechtlich verfolgt werden, und das über die gesamte Befehlskette."

Bisher hat Amnesty International Beweise zusammengetragen, die belegen, dass Zivilpersonen in Charkiw und in der Oblast Sumy durch willkürliche Angriffe getötet wurden. Außerdem wurde ein Luftangriff dokumentiert, bei dem Zivilist_innen in Tschernihiw getötet wurden, als sie für Lebensmittel anstanden. Amnesty International kann zudem belegen, dass die Zivilbevölkerung in Charkiw, Isjum und Mariupol in einem Belagerungszustand lebt.

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"Sie haben ihm in den Kopf geschossen"

Eine 46-jährige Frau aus Bohdaniwka (Bogdanowka) berichtete, dass russische Streitkräfte am 7. oder 8. März in ihr Dorf vorgedrungen seien und ihre Panzer auf der Straße geparkt hätten.

Am Abend des 9. März hörte die Frau, die mit ihrem Mann, ihrer zehnjährigen Tochter und ihrer Schwiegermutter unter einem Dach lebte, wie durch die Fenster im Erdgeschoss Schüsse fielen. Sie und ihr Mann riefen, dass sie Zivilist_innen und unbewaffnet seien. Als sie die Treppe herunterkamen, wurden die Eheleute und ihre Tochter von zwei russischen Soldaten in einen Heizungsraum gestoßen.

Sie berichtete Amnesty International folgendes: "Sie haben uns hineingeschubst und die Tür zugeschlagen. Nur eine Minute später öffneten sie die Tür wieder und fragten meinen Mann, ob er Zigaretten habe. Er sagte nein, und dass er schon seit einigen Wochen nicht mehr geraucht hätte. Daraufhin schoss ihm einer der Soldaten in den rechten Arm. Der andere meint darauf, "Mach ihn fertig", und sie schossen ihm in den Kopf. 

Er war nicht sofort tot. Von 21:30 Uhr bis 4 Uhr morgens hat er noch geatmet, war aber nicht mehr bei Bewusstsein. Ich habe ihn angefleht, dass er seinen Finger bewegen solle, wenn er mich hören könne. Er hat seinen Finger nicht bewegt, aber ich habe seine Hand auf mein Knie gelegt und sie gedrückt. Er hat stark geblutet. Bei seinem letzten Atemzug habe ich mich zu meiner Tochter gedreht und gesagt: ,Ich glaube, Papa ist gestorben.'"

Ein Nachbar wurde Zeuge, wie russische Soldaten in der Nacht in das Haus der Frau einbrachen, und bestätigte, den Leichnam ihres Mannes in der Ecke des Heizungsraums liegen gesehen zu haben. Die Frau und ihr Kind konnten noch am selben Tag aus Bohdaniwka fliehen. Ihre 81-jährige Schwiegermutter mussten sie wegen ihrer körperlichen Einschränkungen zurücklassen.

Das Bild zeigt einen Mann und eine Frau, die ihren Arm auf die Schulter des Mannes legt, sie stehen vor mehrere Bäumen, lächeln in die Kamera

Valeryi und Nataliya Tkachova wurden am 3. März 2022 in der ukrainischen Stadt Vorzel von russischen Soldaten getötet (Archivfoto).

"Mein Vater hatte sechs große Löcher im Rücken"

Am 3. März befand sich die 18-jährige Kateryna Tkachova aus dem Dorf Vorzel mit ihren Eltern zuhause, als mehrere Panzer mit einem "Z" – dem Buchstaben, mit dem die russischen Streitkräfte seit der Invasion in der Ukraine ihre Fahrzeuge kennzeichnen – ihre Straße entlangfuhren.

Ihre Mutter Nataliya und ihr Vater Valeryi verließen den Keller, in dem sie sich versteckt hatten, um auf die Straße zu gehen. Kateryna sagten sie, sie solle bleiben, wo sie sei. Kurz darauf hörte Kateryna Schüsse.

Sie berichtete Amnesty International folgendes: "Als die Panzer vorbeigefahren waren, bin ich über den Zaun zum Nachbarhaus rüber. Ich wollte nachschauen, ob sie noch leben. Als ich über den Zaun schaute, sah ich meine Mutter auf dem Rücken am Straßenrand liegen, während mein Vater mit dem Gesicht nach unten auf der anderen Straßenseite lag. Sein Mantel hatte große Löcher. Am nächsten Tag bin ich zu ihnen gegangen. Mein Vater hatte sechs große Löcher im Rücken, meine Mutter ein kleineres Loch der Brust."

Kateryna Tkachova sagte, ihre Eltern hätten Zivilkleidung getragen und seien unbewaffnet gewesen. Am 10. März sorgte ein Freiwilliger, der bei den Evakuierungen der Gebiete um Kiew half, dafür, dass Kateryna das Dorf Vorzel verlassen konnte. Wie er Amnesty International sagte, hatte er die Leichname von Katerynas Eltern auf der Straße nahe ihrem Haus liegen sehen. In einem von Amnesty International überprüften Video ist zu sehen, wie die beiden die Namen von Katerynas Eltern mit dem jeweiligen Geburts- und Todesdatum auf ein Stück Pappe schreiben und dieses neben den mit Laken bedeckten Leichnamen platzieren.

"Sie haben sofort geschossen, als sie uns bemerkt haben"

Taras Kuzmak lieferte in den ersten Tagen der russischen Besatzung in der Stadt Hostomel mit dem Auto Lebensmittel und Medikamente an Zivilpersonen aus, die in Luftschutzkellern saßen.

Am 3. März um 13:30 Uhr wurde der Wagen, in dem er sich mit dem Bürgermeister der Stadt, Yuryi Prylypko, und zwei weiteren Männern befand, aus der Richtung eines großen Wohngebäudes beschossen, das russische Streitkräfte besetzt hatten. Die Männer versuchten, sich aus dem Auto zu retten, doch einer von ihnen, Ivan Zorya, wurde sofort getötet, während Yuryi Prylypko mit Schussverletzungen zu Boden fiel. Taras Kuzmak und der andere Überlebende hielten sich stundenlang hinter einem Bagger versteckt, während der Beschuss weiterging.

Das Bild zeigt einen Mann mit kurzen Haaren und blauem Sakko an einen Schreibtisch sitzend

Yuryi Prylypko, Bürgermeister der ukrainischen Stadt Hostomel, wurde am 3. März 2022 von russischen Soldaten getötet (Archivfoto).

Taras Kuzmak berichtete Amnesty International Folgendes: "Sie haben sofort geschossen, als sie uns bemerkt haben, ohne Vorwarnung. Ich konnte nur den Bürgermeister [Prylypko] hören. Ich wusste, dass er verletzt war, aber nicht, ob die Verletzungen tödlich waren. Ich habe ihm nur gesagt, dass er still liegen bleiben und sich nicht bewegen sollte ... Gegen 15 Uhr haben sie erneut auf uns geschossen, und etwa eine halbe Stunde später habe ich bemerkt, dass er kein Lebenszeichen mehr von sich gab. Es gibt ein Atmen, wie es nur jemand hat, der bald stirbt, der letzte Atemzug. Ivan Zorya wurde der Kopf abgetrennt, sie müssen etwas Großkalibriges verwendet haben."

Zwei andere Personen aus Hostomel berichteten Amnesty International, den Leichnam von Yuryi Prylypko in der Nähe einer Kirche gesehen zu haben, als dort einige Tage später ein improvisiertes Begräbnis für ihn abgehalten wurde. Weitere Bewohner_innen bestätigten, dass Yuryi Prylypko in den Tagen vor seinem Tod in der Stadt Lebensmittel und Medikamente ausgeliefert habe, und das stets in einem zivilen Fahrzeug.

Vergewaltigungen und rechtswidrige Tötungen

Amnesty International hat drei weitere Berichte über rechtswidrige Tötungen von Zivilpersonen erhalten, darunter auch von der Überlebenden einer Vergewaltigung, deren Ehemann von russischen Streitkräften außergerichtlich hingerichtet wurde. 

Eine Frau aus einem Dorf östlich von Kiew erzählte Amnesty International, dass am 9. März zwei russische Soldaten in ihr Haus eingedrungen seien, ihren Ehemann getötet und sie selbst mehrfach mit vorgehaltener Waffe vergewaltigt hätten, während sich ihr minderjähriger Sohn in einem Heizungsraum in der Nähe versteckt hielt. Die Frau konnte mit ihrem Sohn aus dem Dorf in von der Ukraine kontrolliertes Gebiet fliehen.

Milena, eine 24-jährige Frau aus Butscha, berichtete Amnesty International, dass sie den Leichnam einer Frau aus ihrer Straße vor ihrem Haus liegend gesehen habe. Die Mutter der Frau erzählte Milena, dass ihre Tochter in den ersten Tagen der Invasion erschossen wurde, als sie über den Zaun auf ein russisches Militärfahrzeug schaute. Das Crisis Evidence Lab von Amnesty International hat Videoaufnahmen verifiziert, auf denen das flache Grab, in dem der Leichnam der Frau lag, zu sehen ist.  

Volodymyr Zakhliupanyy und seine Frau sind an den ersten Tagen der Invasion aus der Stadt Hostomel geflohen, während ihr Sohn Serhiy (39) bleiben wollte.

Anfangs telefonierten sie täglich, und Serhiy berichtete von schweren Kämpfen in der Stadt. Am 4. März konnte Volodymyr Zakhliupanyy seinen Sohn nicht mehr erreichen. Freund_innen, die ebenfalls in Hostomel geblieben waren, versuchten daraufhin, Serhiy in dem Gebäude zu finden, in dessen Keller er Schutz gesucht hatte.

Volodymyr Zakhliupanyy berichtete Amnesty International Folgendes: "Als sie die Nachbarn fragten, sagten diese, dass mein Sohn am 13. März von den Russen [aus dem Keller] mitgenommen worden sei. Als sie daraufhin nach Serhiy suchten, fanden sie ihn hinter den Garagen des Gebäudes ... Sie sagten, man habe ihm in den Kopf geschossen."

Leben unter russischer Besatzung

Von Amnesty International befragte Personen gaben an, seit Beginn der Invasion keinen Zugang mehr zu Strom, Wasser und Gas zu haben. Auch Lebensmittel stünden nur noch sehr begrenzt zur Verfügung. Die Mobilfunkverbindung sei schlecht, und einige der Befragten erzählten, russische Soldaten hätten Mobiltelefone beschlagnahmt oder zerstört oder Bewohner_innen, die ein Mobiltelefon bei sich geführt hätten, mit Gewalt gedroht.

Gewaltandrohungen und Einschüchterungen seien ebenfalls an der Tagesordnung. Ein Mann in Hostomel berichtete, er habe gesehen, wie Menschen in einem Schlafsaal, in dem sie vor den Bombenangriffen Schutz suchten, gezwungen wurde, sich nach draußen zu begeben, wo russische Militärangehörige sofort Schüsse über ihre Köpfe hinweg abfeuerten und sie zwangen, sich zu Boden zu werfen. Zwei Männer aus Butscha gaben außerdem an, bei dem Versuch, Nahrungsmittel aus einem zerstörten Lebensmittelgeschäft in der Nähe ihres Hauses zu retten, regelmäßig von Scharfschützen beschossen worden zu sein.

"Angesichts dieser entsetzlichen Berichte über das Leben unter russischer Besatzung müssen die betroffenen Personen in der Ukraine wissen, dass die internationale Gemeinschaft fest entschlossen ist, die Verantwortlichen für ihr Leid zur Rechenschaft zu ziehen", erklärt Agnès Callamard.

Kriegsverbrechen und andere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht

Die willkürliche Tötung von Zivilpersonen, Vergewaltigungen, Folter und die unmenschliche Behandlung von Kriegsgefangenen stellen Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen dar. Alle, die unmittelbar an Kriegsverbrechen beteiligt waren, müssen dafür strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden. Nach dem Grundsatz der Befehlsverantwortung müssen aber auch Vorgesetzte, darunter Befehlshaber_innen oder auch zivile Führungskräfte wie Minister_innen und Staatsoberhäupter, die von Kriegsverbrechen ihrer Streitkräfte wussten oder darüber hätten Bescheid wissen müssen, aber keinen Versuch unternahmen, diese zu stoppen oder die Verantwortlichen zu bestrafen, ebenfalls strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden.  

Amnesty International dokumentiert Menschenrechtsverletzungen und Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht im Rahmen des Krieges in der Ukraine. Alle bisherigen Veröffentlichungen von Amnesty International zu diesem Thema, darunter aktuelle Meldungen, Briefings und Untersuchungen, sind hier verfügbar (auf Englisch).

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