Schwerpunkte 05. April 2022

Die besonderen Herausforderungen für Menschenrechtsarbeit in Äthiopien

Im Gespräch mit dem EHRCO
Dan Yirga, ein Mann in grauem Anzug und Krawatte steht in einem Büro, hinter ihm arbeitet jemand an einem PC, dahinter Bücherregale.

Dan Yirga, Geschäftsführender Direktor des Äthiopischen Menschenrechtsrates (EHRCO).

Amnesty International Deutschland: Was ist der Ethiopian Human Rights Council (EHRCO) und wie arbeitet die Organisation?

Dan Yirga, Geschäftsführender Direktor des EHRCO: Der Ethiopian Human Rights Council ist eine nichtstaatliche Mitgliederorganisation, die 1991 in Äthiopien gegründet wurde, um die Rechtsstaatlichkeit, den Demokratisierungsprozess und die Achtung der Menschenrechte in Äthiopien zu fördern. Diese Ziele sind unmittelbar miteinander verbunden. Unsere Arbeit basiert auf verschiedene Methoden und Aktivitäten wie Recherche, Dokumentation und Lobbyarbeit, aber auch Rechtsberatung für die Opfer von Menschenrechtsverletzungen. Wir führen außerdem Prozessbeobachtung vor Gericht durch und bieten Menschenrechtstrainings an.

Unsere wichtigste Arbeit besteht aber zweifellos in der Recherche, Dokumentation und Veröffentlichung von Menschenrechtsverletzungen. Der EHCRO betreibt neun Niederlassungen im ganzen Land und in allen Büros – inklusive unserem Hauptstandort – werden Menschen beraten, die Opfer von Menschenrechtsverletzungen wurden. Wir hören ihnen zu, stellen Fragen und sammeln Informationen. Der zweite Schwerpunkt liegt in der Recherche vor Ort: Unsere Menschenrechtsexpert_innen gehen an die Orte, an denen mutmaßlich Menschenrechtsverletzungen begangen wurden und sprechen mit Betroffenen. Mit Menschen, die beispielsweise gefoltert, willkürlich inhaftiert oder von Behörden gewaltsam vertrieben wurden.

Wir führen, wenn möglich, das Interview direkt vor Ort durch, fragen nach dem Namen, dem Alter, mutmaßlichen Täter_innen oder Zeug_innen. All dies dient dazu, den Fall glaubwürdig und nachvollziehbar zu machen. Nicht immer treffen wir Menschen, die uns Auskunft geben können – wir dokumentieren dennoch soviel wie möglich. Handelt es sich um eine Zwangsräumung, wo der Schaden offensichtlich ist, ist dies auch nachträglich möglich, zum Beispiel mit Fotos und Videos. Geht es um tätliche Gewalt oder sogar Tötungen, verlangen wir Einsicht in ärztliche Atteste und befragen, wenn vorhanden, Zeug_innen. Diese Aussagen und Informationen stellen wir den Angaben der mutmaßlich Verantwortlichen gegenüber.

Gibt es ein konkretes Beispiel, das zeigt, wie Sie mit Ihrer Arbeit Menschen helfen konnten?

Es gibt kleine Erfolge: Wegen unserer Berichte und unserer Lobby-Arbeit wurden Gefangene in den Verwaltungsregionen Oromia und SNNPR (Region der südlichen Nationen, Nationalitäten und Völker) aus der Haft entlassen – darunter mehrere Mitglieder der Partei OFC (Oromo Federalist Congress) im Jahr 2021. Ein anderes Beispiel betrifft Zwangsräumungen, die in der Oromia-Region im Jahr 2014 angeordnet wurden. Lokale Behörden gaben den betroffenen Menschen die Anweisung, das Gebiet zu verlassen. Wir wurden aktiv, sammelten Beweise und nahmen Kontakt zu Personen vor Ort auf. Sie konnten uns dabei unterstützen, auf die Behörden Einfluss zu nehmen. Wir schrieben Briefe an die verantwortlichen Behörden, auch auf Bundesebene. Wegen unseres Engagements wurde die Zwangsräumung schließlich gestoppt. Aufgrund solcher Bemühungen gibt es einige Fälle, die man als Erfolg bezeichnen könnte. 

Die traurige Regel ist allerdings, dass die äthiopische Regierung sich nicht um die Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen kümmert. Unsere Berichte werden von den Behörden meist als Affront aufgefasst. Wir werden beschuldigt auf der Seite des "Westens" oder der "Neoliberalisten" zu sein und werden diffamiert oder beschimpft.

Mit welchen Themen beschäftigt sich der EHRCO derzeit?

Sehr akut sind im Moment außergerichtliche Tötungen aufgrund des Krieges zwischen der TPLF (Volksbefreiungsfront von Tigray) und der Zentralregierung sowie den Regionen Amhara und Afar. Nach unseren jüngsten Recherchen sind in diesem Konflikt bisher mehr als 1000 Menschen getötet worden. Frauen wurden Opfer von Massenvergewaltigungen, es kam zu Plünderungen und Zerstörung von privatem und öffentlichem Eigentum. Diese Informationen haben wir in einem vorläufigen Bericht am 30. Dezember 2021 veröffentlicht. Wir beobachten außerdem die Situation der zahlreichen Binnenvertriebenen im Land. Darüberhinaus arbeiten wir zu Menschenrechtsverletzungen, die sich im Rahmen der jüngsten Wahlen im Juni 2021 ereignet haben sowie zu willkürlichen Inhaftierungen, Tötungen, Menschenrechtsverletzungen an Frauen.

Wie wirkt sich der Tigray-Konflikt auf die Menschenrechtssituation in Äthiopien aus?

Menschen, die von dem Konflikt betroffen sind, verlieren ihr Recht, in Frieden leben zu können. Das ist sehr besorgniserregend und traurig. Die Bevölkerung in der Region Tigray und in einigen Teilen von Afar und Amhara haben keinen Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, zu einer angemessenen Gesundheitsversorgung oder zum Internet. Es ist eine schreckliche Situation, die wir erleben, aber die Zentralregierung und die "Volksbefreiungsfront von Tigray" (TPLF) stehen sich weiterhin feindlich gegenüber. Die Nachrichtensender verbreiten Propaganda, ermuntern die Menschen dazu, in den Krieg zu ziehen. Auch für Menschenrechtsverteidiger_innen ist die Situation brisant. Kritisiert man die Regierung oder ruft zum Frieden auf, wird dies so interpretiert, als wäre man gegen das eigene Land oder für die gegnerische Seite. Zudem nutzt die Regierung den derzeitigen Ausnahmezustand, um verschiedene repressive Maßnahmen, wie willkürliche Verhaftungen, zu rechtfertigen.

Jeder Mensch hat eine eigene Stimme, und diese Stimme muss gehört werden.

Dan
Yirga
Geschäftsführender Direktor des EHRCO

Ein Büro des EHRCO in Mekele in der Region Tigray musste geschlossen werden. Was ist passiert?

Unser Büro in Mekele wurde schon vor Beginn des Krieges geschlossen, weil wir keine Mitarbeiter_innen finden konnten, die in diesem schwierigen Umfeld arbeiten wollten – durch Einschüchterungsversuche der Behörden oder Androhungen von Verhaftungen. Aufgrund dieser angespannten Situation hinterließ unser letzter Mitarbeiter schließlich das Büro sehr kurzfristig, ohne uns zu benachrichtigen. Die Büroausstattung wurde gestohlen. Sobald es die Situation erlaubt, müssen wir unser Büro in Mekele wieder öffnen, um Menschenrechtsverletzungen in der Region Tigray besser untersuchen zu können.

Sie sagten, dass der EHCRO die "Stimme der Stimmlosen" ist. Was meinen Sie damit?

In Äthiopien werden verschiedene Stimmen aus der Bevölkerung durch die Regierung und durch Politiker_innen unterdrückt. Diese Stimmen erhalten nicht die Aufmerksamkeit, die sie verdienen. Jeder Mensch hat eine eigene Stimme, und diese Stimme muss gehört werden. Der EHRCO ist schon seit 30 Jahren eine Stimme für die Stimmlosen. In all diesen Jahren haben wir zur Unterstützung für die Opfer von Menschenrechtsverletzungen aufgerufen, wir haben für unschuldig Inhaftierte gekämpft. Für diejenigen, deren Eigentum willkürlich zerstört wurde. Wir waren auch eine Stimme für Frauen, für Menschen mit Behinderungen und für Kinder, deren Stimmen kaum Aufmerksamkeit bekommen. Ich würde behaupten, der EHRCO ist die erste und einzige Organisation, die diesen Stimmen Gehör und Aufmerksamkeit schenkt – insbesondere in Bezug auf die Meinungsfreiheit und das Recht auf Leben. Und wir sind fest entschlossen, das auch in Zukunft zu tun.

Egal was passiert, wir werden die Menschenrechte weiter verteidigen – koste es, was es wolle.

Dan
Yirga
Geschäftsführender Direktor des EHRCO

Wie frei kann man heutzutage in Äthiopien die eigene Meinung äußern?

Erst im Februar 2022 wurden einige Medienschaffende, die die Regierung kritisierten, festgenommen. Diese und andere Journalist_innen sind nicht im Gefängnis, weil sie ein Verbrechen begangen haben, sondern weil sie ihre Stimme und ihr Recht auf freie Meinungsäußerung genutzt haben. Die Regierung beschuldigt sie, gegen den Frieden und die Stabilität des Staates vorzugehen. Es ist besorgniserregend und alarmierend, wenn wir Journalist_innen im Gefängnis sehen. Dies zeigt auch, wie riskant die Situation für Menschenrechtsverteidiger_innen ist. Egal was passiert, wir werden die Menschenrechte weiter verteidigen – koste es, was es wolle.

Welchen Herausforderungen oder Bedrohungen sind Sie und Ihre Mitarbeiter_innen aufgrund Ihrer Arbeit ausgesetzt?

Die erste Schwierigkeit ist systematisch und hängt mit dem Ausnahmezustand im Land zusammen. Für die Zivilgesellschaft und die Medien wird damit vorab klargestellt: Verhaltet euch vorsichtig. Ganz konkret erleben wir, dass Sicherheitsbehörden uns und unsere Aktivitäten genau beobachten und im Blick haben. Die Situation ist so gefährlich, dass wir nicht frei berichten können. Wir müssen unsere Berichte selbstzensieren.  Wenn etwas veröffentlicht wird, muss stets darauf geachtet werden, dass die Regierung nicht kritisiert wird.

Hat sich diese Situation in den letzten Monaten verschärft?

Ja, das würde ich sagen. Die Regierung vertritt die Meinung, diesen Krieg gewonnen und die TPLF zurückgedrängt zu haben. Und sie werden gegen jeden vorgehen, der dies anzweifelt. Das hören wir in allen Medien, alles ist politisiert.

Wie gehen Sie und Ihre Mitarbeiter_innen mit dieser Bedrohung und der unsicheren Situation um?

Wir absolvieren verschiedene Arten von Sicherheitsschulungen innerhalb und außerhalb Äthiopiens. Zum Beispiel zu den Themen digitale Sicherheit und der Frage, wie man sich im Rahmen der Arbeit nicht zu sehr gefährdet. Wir haben eine Sicherheitsrichtlinie, nach der wir handeln, und führen regelmäßig Schulungen für unsere Mitarbeiter_innen durch. Wir sind bemüht, uns nicht in zu große Gefahr zu begeben.

Äthiopien braucht unnachgiebige, unabhängige und mutige Menschenrechtsverteidiger_innen, und ich möchte einer von ihnen sein. Das ist eine Arbeit, der sich nur sehr wenige Menschen widmen, die aber getan werden muss.

Dan
Yirga
Geschäftsführender Direktor des EHRCO

Trotz der schwierigen Situation unterstützen Menschen in Äthiopien den EHRCO weiterhin.

Der EHRCO ist eine von Mitgliedern getragene Organisation. Wir haben Freiwillige und Unterstützer_innen fast im ganzen Land. Die genaue Anzahl ist zwar von Region zu Region unterschiedlich, aber  alle sind zur Stelle, wenn wir Hilfe benötigen. Derzeit arbeiten wir daran, die Arbeit in unserer Organisation noch systematischer zu machen, auch in der Hoffnung, die Zusammenarbeit mit anderen nationalen, regionalen und internationalen Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty, Freedom House, DefendDefenders und vielen anderen Menschenrechtsorganisationen auszubauen. Wir sind mit ihnen in Kontakt, und wenn uns etwas passieren sollte, werden sie ihre Stimme für uns erheben und sich für uns einsetzen. Darüber hinaus sind wir Mitglied verschiedener regionaler und internationaler Menschenrechtsinstitutionen wie der Afrikanischen Kommission der Menschenrechte und der Rechte der Völker, der Fédération internationale des ligues des droits de l’Homme (FIDH) und der Weltorganisation gegen Folter (OMCT).

Was motiviert Sie, weiterhin diese Arbeit zu machen?

Bei dieser Frage denke ich als erstes an den 2020 verstorbenen Gründer unserer Organisation, Mesfine Woldemariam. Sein beispielhafter Einsatz für die Achtung der Menschenrechte, der Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Meinungsfreiheit in Äthiopien, motiviert mich immer wieder.

Äthiopien braucht unnachgiebige, unabhängige und mutige Menschenrechtsverteidiger_innen, und ich möchte einer von ihnen sein. Das ist eine Arbeit, der sich nur sehr wenige Menschen widmen, die aber getan werden muss. Die Menschenrechtssituation in Äthiopien ist sehr fragil, Tag für Tag kommen wir in Kontakt mit vielen Menschenrechtsverletzungen. Und es muss noch viel für den Schutz, die Achtung und die Förderung der Menschenrechte getan werden. Die Regierung in Äthiopien ist in der Pflicht, für eine Verbesserung der Menschenrechte zu sorgen.

Als Mensch fühle ich mich erst, wenn ich meine Stimme für Menschlichkeit und Menschenrechte einsetzen kann. Das motiviert mich. In unseren Büros empfangen wir verzweifelte und hilflose Menschen. Wir nehmen ihre Beschwerden entgegen, und versuchen ihnen, so gut wie möglich zu helfen. Wir bestärken sie darin, dass die Grausamkeiten, die sie erleben mussten, nicht normal, nicht natürlich und auch nicht legal sind. Abgesehen von ihrer Moschee oder Kirche, in der sie Unterstützung finden, sind wir Menschenrechtsverteidiger_innen oft ihre einzige Hoffnung.

Ich arbeite schon seit 14 Jahren für den EHRCO und habe mich in der ganzen Zeit für die Verteidigung und Förderung der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit eingesetzt. Diese Arbeit ist meine Leidenschaft, sie macht mich glücklich und stolz. Ich bin Rechtsanwalt und könnte damit in anderen Bereichen mehr Geld verdienen, aber das will ich nicht. Was mich glücklich macht, was mich immer wieder motiviert, ist die Verteidigung der Menschenrechte, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit in Äthiopien.

Ein wichtiges Jahr war deshalb 2005. Damals wurden Wahlen in Äthiopien abgehalten, im Anschluss daran brach Gewalt aus. Der EHRCO veröffentlichte wenig später einen Bericht, in dem das Fehlverhalten der Regierung gegenüber unschuldigen Zivilist_innen kritisiert wurde. Der Bericht wies außerdem auf Äthiopiens menschenrechtliche Verpflichtungen hin, denn das Land hat viele Menschenrechtskonventionen unterzeichnet. Darunter die Afrikanische Charta der Menschenrechte und der Rechte der Völker, die internationale Konvention über bürgerliche und politische Rechte, kulturelle und soziale Rechte, die Anti-Folter-Konvention, die UN-Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW). Es war eine gute rechtliche Analyse, in der die Namen der Menschen erwähnt wurden, die bei dieser Gewalt nach den Wahlen getötet wurden. Erst in diesem Moment wurde mir klar, dass eine Organisation in Äthiopien existiert, die sich dieser Brutalität und diesen Übergriffen mutig entgegenstellt! Ich habe mich sofort beim EHRCO gemeldet und beantragt, Mitglied zu werden. Seitdem bin ich für den EHRCO tätig, ich setze mich weiterhin für die Menschenrechte und die Förderung der Demokratie ein und das werde ich auch Zukunft tun – egal, wie die Situation sein mag.

 

Interview: Ralf Rebmann im Januar 2022

Weitere Artikel