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Israelische Kriegsdienstverweigerin: "Durch den Militärdienst würde ich einen Kreislauf des Blutvergießens unterstützen"
Die israelische Kriegsdienstverweigerin Sofia Orr bei einer Veranstaltung von "Israelis für Frieden" bei Amnesty International in Berlin im November 2024
© Amnesty International
Fast alle jungen Menschen in Israel sind dazu verpflichtet, einen Wehrdienst zu leisten, Verweigerer*innen drohen Haftstrafen. Die 19-jährige Sofia Orr verweigerte Anfang des Jahres und verbrachte 85 Tage in einem Militärgefängnis. In diesem Interview erzählt von der Militarisierung der israelischen Gesellschaft und ihren Beweggründen, sich dagegenzustellen.
Sofia Orr ist eine israelische Kriegsdienstverweigerin und hilft zusammen mit der Organisation Mesarvot anderen jungen Israelis, den Militärdienst zu verweigern. Sie studiert Politikwissenschaft an der Universität in Tel Aviv.
Interview: Hannah El-Hitami
Hannah El-Hitami: Mit was für einem Bild der israelischen Armee und des Wehrdienstes sind Sie aufgewachsen?
Sofia Orr: Wir sind in Israel jeden Tag vom Militär umgeben. Wenn ich morgens im Zug zur Universität sitze, trägt die Hälfte der Passagiere Uniformen und Waffen, im Vorlesungssaal genauso. Lernt man jemanden kennen, beginnt das Gespräch oft mit der Frage: Was hast du beim Militär gemacht? Der Wehrdienst ist für die große Mehrheit der Israelis verpflichtend und somit die einzige Gemeinsamkeit, die fast alle Israelis haben. Soldat*in zu sein gilt als ehrenwert. Je mehr Beteiligung an Kampfhandlungen, desto größer die soziale Anerkennung. An den Gedenktagen für den Holocaust und für die gefallenen Soldaten wird uns in der Schule vermittelt: Dieser Soldat ist für dich gestorben, um dich zu beschützen. Er ist ein Held, dem du Ehre erweisen musst, indem auch du zur Armee gehst. Für mich war es nie naheliegend, dass ich einen Toten ehre, indem ich selbst töte.
Wie sehen Sie die israelische Armee?
Für mich ist sie Teil einer Besatzung und begeht Kriegsverbrechen. Sie heißt "Israeli Defense Forces", verteidigt aber niemanden. Stattdessen ist sie eine Besatzungs- und Angriffsarmee. Als sie am 7. Oktober 2023 die Gelegenheit gehabt hätte, ihre Bürger*innen zu schützen, hat sie es nicht getan. Sie war damit beschäftigt, die Besatzung in der Westbank aufrechtzuerhalten. Ich habe entschieden, dass ich niemals Teil eines solchen Systems sein könnte.
Soldaten der israelischen Armee im Norden des Gazastreifens am 15. Dezember 2023
© 2023 Getty Images
Wann haben Sie das erste Mal darüber nachgedacht, den Wehrdienst zu verweigern?
Ich habe das Glück in einer linken Familie aufgewachsen zu sein, wo wir viel über Politik gesprochen haben. Die zentralen Werte, die meine Eltern mir vermittelten, waren Gleichheit, kritisches Denken, Empathie und Problemlösung durch Dialog statt Gewalt. Mit 14 Jahren habe ich mich gefragt: Wenn ich dem Militär diene, wem oder was diene ich dann eigentlich? Wer sind die Menschen an der Macht, die vom Militär profitieren? Ich informierte mich darüber, was die Armee tut und was das für ein Ort ist, an dem ich lebe. Ich verstand, dass ich durch meinen Militärdienst einen Kreislauf des Blutvergießens unterstützen würde; dass ich Teil eines Systems wäre, das Millionen von Palästinenser*innen unterdrückt. Ich kam zu dem Schluss, dass ich nicht nur nicht teilnehmen, sondern mich aktiv dagegenstellen muss. Mit 15 Jahren entschied ich, meine Stimme zu nutzen, um für eine gerechte, friedliche Lösung zu werben. Vor allem nach dem 7. Oktober sah ich keine andere Möglichkeit. Im Februar 2024 war der Termin für meine Einberufung. Ich ging hin und verweigerte.
Wie genau lief das ab?
Der Prozess beginnt schon früher. Mit etwa 16 Jahren bekommt man seinen Musterungsbescheid und muss medizinische Tests durchlaufen. Einige Leute lassen sich unter gesundheitlichen Vorwänden ausmustern. Ich wusste bereits, dass ich öffentlich verweigern würde. Ich machte also alle Tests und erhielt meinen Einberufungstermin. Am 25. Februar diesen Jahres ging ich zum Einberufungszentrum in Tel Hashomer und teilte mit, dass ich verweigere. Sie waren verwirrt und schickten mich von einer Person zur nächsten. Ich erklärte immer wieder, dass ich nicht einer Armee dienen werde, die eine Besatzung betreibt, einen Krieg führt und Millionen Menschen verletzt. Eine hochrangige Offizierin sagte mir, dass das illegal sei und schickte mich in eine Zelle, um auf meinen Gerichtsprozess zu warten. Der Prozess vor dem Militärgericht dauerte etwa fünf Minuten. So läuft es bei fast allen ab, die verweigern. Ich wurde zu zwanzig Tagen Haft verurteilt und sofort inhaftiert. Zwanzig Tage später wurde ich freigelassen und wieder zum Militär einberufen. Ich musste nochmal verweigern. Ich wurde erneut zu zwanzig Tagen Haft verurteilt, kam wieder raus, verweigerte ein drittes Mal, und wurde zu 45 Tagen Haft verurteilt. Sie könnten einen ewig dort behalten. Es ist nur die Frage, wer zuerst aufgibt. Als ich das dritte Mal entlassen wurde, erhielt ich endlich meine Befreiung vom Wehrdienst.
Mit welcher Begründung?
Auf dem Dokument steht "Sonderentscheidung". Ich habe sie von einem speziellen Komitee für Wehrdienstverweigerung bekommen. Es ist sehr schwer da ranzukommen und ein längerer Prozess. Man kann eine Befreiung wegen allgemeinem Pazifismus, aber nicht wegen politischer Opposition zur israelischen Besatzung bekommen. Ich hatte Glück, dass sie mich befreit haben.
Wieder auf der Flucht: Palästinensische Schutzsuchende nach einem Angriff der israelischen Streitkräfte auf das Flüchtlingslager in Al-Mawasi nahe Rafah im Gazastreifen (28. Mai 2024).
© Ali Jadallah/Anadolu via Getty Images
Sie haben 85 Tage in einem Militärgefängnis verbracht. Wie war diese Erfahrung für Sie?
Ich habe von Nahem gesehen, wie das Militär Menschen behandelt. Die meisten Gefangenen sind keine richtigen Straftäter*innen. Sie sind desertiert oder nicht zur Einberufung aufgetaucht. Viele kommen aus schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen oder haben psychische oder körperliche Probleme. Es gibt Frauen, die desertiert sind, weil sie auf ihrem Stützpunkt sexuell belästigt wurden und keine Unterstützung bekommen haben. Eine Mitgefangene war klaustrophobisch und hatte regelmäßig Panikattacken, bei denen sie ohnmächtig wurde. Die Lösung der Aufseher*innen war, ihr einen Helm aufzusetzen. Sie konnte also weiterhin ohnmächtig werden, aber zumindest nicht ihren Schädel brechen. So funktioniert die Armee: Sie behandelt Menschen mit Problemen als Probleme. Die jahrelange Entmenschlichung der Palästinenser*innen ist durchgesickert und führt inzwischen auch zur Entmenschlichung der eigenen Leute. Natürlich darf man nicht vergessen, dass diese Haftbedingungen viel besser sind als die von palästinensischen Gefangenen.
Protestaktion in Jerusalem gegen die Wehrdienstpflicht in Israel (Archivaufnahme)
© IMAGO / ZUMA Press Wire
Sie engagieren sich bei Mesarvot, einer Organisation, die israelische Kriegsdienstverweigerer*innen unterstützt. Wie hat Mesarvot Sie begleitet?
Am Tag meiner Verweigerung war eine kleine Gruppe von Demonstrierenden dabei. Wir organisieren für jede Person, die verweigert und ins Gefängnis kommt, eine Demonstration. In den Medien sprechen wir uns gegen Militarismus und Besatzung aus. Außerdem unterstützt unsere Anwältin Wehrdienstverweigerer*innen juristisch. Und wir helfen Leuten, die verweigern wollen, aber keinen Rückhalt in ihrem sozialen Umfeld haben.
Wie hat Ihr soziales Umfeld auf Ihre Verweigerung reagiert?
Meine Eltern unterstützen mich. Meine Familie und Freund*innen demonstrierten vor dem Gefängnis. Aber außerhalb meines engen Freundes- und Familienkreises habe ich andere Reaktionen bekommen.
Welche?
Leute sagen, ich sei naiv zu glauben, dass wir Frieden mit Palästinenser*innen haben können. Ich finde, das stimmt überhaupt nicht. Der Versuch, eine Zukunft auf Gewalt aufzubauen, wird niemals produktiv sein. Es gibt keine militärische Lösung für ein politisches und humanitäres Problem. Israel hat die Verantwortung, eine gerechte und friedliche Lösung voranzutreiben, weil es die viel stärkere Seite in diesem Konflikt ist. Manchmal sagen Leute, ich sei undankbar, weil meine Freund*innen zur Armee gehen und ihr Leben für diese Sache geben, während ich verweigere. Extremere Leute nennen mich eine Verräterin. Ich denke, dass ich mit meiner Position mehr zur Sicherheit der israelischen Bevölkerung beitrage, als wenn ich zur Armee gehen und die Gewaltspirale weiter eskalieren würde. Meine Entscheidung ist vor allem moralisch, aber sie ist auch pragmatisch.
Schaffen Sie es, Menschen in Israel von Ihren Ansichten zu überzeugen?
Das braucht Zeit. Die israelische Gesellschaft ist sehr militarisiert, rassistisch, nationalistisch und paranoid. Sie denken, alle seien gegen uns und wollen uns töten. Das zu durchbrechen ist sehr schwierig. Wenn ich mit Israelis spreche, versuche ich zu erklären, dass die Militarisierung auch ihnen schadet. Ich versuche die Menschlichkeit von Palästinenser*innen aufzuzeigen. Manchmal machen diese Gespräche einen Unterschied. Ich bin aber davon überzeugt, dass die israelische und die palästinensische Gesellschaft sich erst dann wirklich verändern können, wenn die realen Lebensbedingungen sich ändern – wenn die Gewalt weniger und eine neue Zukunft vorstellbar wird. Dieser Prozess könnte Jahre dauern und wird nicht aus Israel selbst kommen. Die israelische Gesellschaft und Regierung bewegen sich immer weiter in Richtung Faschismus. Wir tun unser Bestes, das aufzuhalten, aber wir schaffen es nicht allein. Wir brauchen internationalen Druck, jetzt nach den US-Wahlen vor allem aus Deutschland und Europa. Sie müssen aufhören, die israelische Regierung und das Militär bedingungslos zu unterstützen.
Hat Ihre Generation einen anderen Blick auf den Konflikt als vorherige?
Die jüngeren Leute in Israel sind rechter als die älteren. Sie kennen keine andere Realität als die aktuelle. Sie werden einer Gehirnwäsche unterzogen, um sich der Armee anzuschließen. Der Durchschnittsisraeli sieht nur das Narrativ in den Mainstream-Medien. Dort wird Israel als Opfer dargestellt, jede Kritik als antisemitisch bezeichnet. Wenn man mit diesem Narrativ aufwächst, kann es sehr schwer sein auszubrechen. Andererseits gibt es auch eine positive Entwicklung: dieses Jahr haben viel mehr Menschen den Wehrdienst verweigert als in den Jahren davor.