18. September 2018

Und was hat das mit mir zu tun?

Zehn Gründe, warum dir die Menschenrechte nicht egal sein können
Kinder schauen sich die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte als XXL Aufsteller an.

Die XXL-Skulptur der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte war 2018 und 2019 an 350 Tagen in 25 Orten in Deutschland zu sehen (hier Krefeld im Juli 2018).

Immer wieder wird uns die Frage gestellt, ob es überhaupt Sinn macht, sich für Menschenrechte zu engagieren. Man könne doch auch mal ein Auge zudrücken. Das sei doch Aufgabe der Politik. Es gäbe doch wichtigere Probleme… Wir sehen das anders. In diesem Text setzen wir uns mit zehn Klischees und Missverständnissen auseinander, die uns bei unserer Arbeit immer wieder begegnen. 

Die Vereinten Nationen legten am 10. Dezember 1948 erstmals fest, dass alle Menschen auf diesem Planeten dieselben Rechte haben. Die "Allgemeine Erklärung der Menschenrechte" war und ist noch immer revolutionär, weil in ihren 30 Artikeln die Grundlage für ein friedliches und faires Zusammenleben aller festgelegt wird. Wir finden: Hierfür lohnt es sich unbedingt einzustehen – gerade hier und heute.

1. "Warum muss man sich denn heute überhaupt noch für die Menschenrechte einsetzen?"

Viele Staaten haben die Menschenrechte nach dem zweiten Weltkrieg zwar sehr gefördert, aber sie wurden nicht von heute auf morgen verwirklicht: So bestand zum Beispiel in den USA die die Trennung zwischen schwarzen und weißen Menschen in den USA, Frankreich schlug den Aufstand in Algerien nieder und in Deutschland wurden Homosexuelle als Kriminelle behandelt. 

Und es gab auch immer wieder Rückschritte, zum Beispiel die Wiedereinführung der Folter durch die USA nach dem 11. September 2001 oder die Verhaftungen tausender Unschuldiger nach dem Putschversuch in der Türkei seit Juli 2016. Dazu kommen neue Probleme. Geheimdienste überwachen heute Millionen Menschen gleichzeitig und greifen damit tief in unsere Privatsphäre ein, weil es die Technologie möglich macht. 

Unsere Menschenrechte müssen also immer aufs Neue beschützt, verteidigt und von den Regierungen eingefordert werden, damit wir weiter in einer freien Gesellschaft leben können. 

2. "Für mein Leben spielen die Menschenrechte keine Rolle."

Wir nutzen unsere Menschenrechte in unserem Alltag so selbstverständlich, dass wir häufig gar nicht mehr wahrnehmen, dass wir sie haben. Wenn du auf sie verzichten müsstest, würdest du das sehr schnell merken. Du könntest deine Meinung nicht mehr offen sagen. Es gäbe keine Vielfalt an spannenden Filmen, Zeitungen, Computerspielen und Büchern, unter denen du wählen könntest, denn alles wäre zensiert. 

Wenn du die Regierung kritisieren würdest, müsstest du schlimme Konsequenzen fürchten. Wenn du unfair behandelt werden würdest, könntest du dich nicht vor Gericht dagegen wehren. Du dürftest nicht heiraten, wen du möchtest, oder dürftest für deinen Urlaub nicht einfach mal so das Land verlassen.

Porträt von einer Frau in Jeans und weißer Bluse

Es ist ein Grundbedürfnis von uns allen, als Mensch akzeptiert, respektiert und gesehen zu werden. Was Diskriminierung im Endeffekt macht, ist, dass es den Leuten das Gefühl gibt, nicht gleichwertig zu sein.

Wana
Limar
Moderatorin und Videoproduzentin

3. "In Deutschland ist doch alles in Ordnung."

In Deutschland haben wir schon vieles erreicht. Das Grundgesetz entstand kurz nach der Verabschiedung der "Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte" und war stark von dieser beeinflusst. In unserer Verfassung sind nicht nur die Würde des Menschen, sondern auch unsere grundlegenden Rechte wie die Religionsfreiheit, die Meinungsfreiheit oder das Diskriminierungsverbot festgeschrieben. 

Das ist natürlich gut, aber es bedeutet nicht, dass deswegen alles in Ordnung ist. In der Praxis werden die Menschenrechte auch bei uns viel zu oft verletzt. Zum Beispiel, wenn wir massenhaft staatlich überwacht werden, Polizeigewalt nicht angemessen untersucht wird oder Frauen für dieselbe Arbeit weniger Geld bekommen als Männer. Ganz zu schweigen davon, dass Menschen, die einer nichtchristlichen Religion angehören oder nicht "typisch deutsch" aussehen, bei uns täglich Rassismus erfahren. 

4. "Die 'Allgemeine Erklärung der Menschenrechte' hilft mir nicht, sie ist doch nur ein Stück Papier."

Dieses "Stück Papier" war ein Meilenstein, denn nun konnte niemand mehr an der Gleichheit aller Menschen rütteln. Auf das Dokument von 1948 folgten verbindliche Menschenrechtspakte der Vereinten Nationen, an die sich viele Staaten – darunter auch Deutschland – halten müssen. 

In Europa gibt es mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte sogar ein eigenes Gericht, vor dem du deine Rechte einklagen kannst. Im November 2017 bekamen zum Beispiel zwei deutsche Fußballfans Recht, die gegen Deutschland geklagt hatten. Sie sagten, die Polizei in München habe sie nach einem Spiel grundlos attackiert und die deutschen Behörden hätten diesen Vorwurf nicht ausreichend geprüft. 

Porträtfoto von einem Mann in weißem Hemd und grauer Hose

Das Unrecht, das irgendwo auf der Welt einem Menschen widerfährt, empfinde ich als Unrecht, das mir widerfährt. Ich wehre mich entschieden dagegen, den Einsatz für die Menschenrechte als lächerliches Gutmenschentum abzutun. Unser Grundgesetz, Artikel 1, verpflichtet uns dazu, Menschenrechte weltweit zu vertreten.

 

Gerhart
Baum
Rechtsanwalt und Bundesinnenminister a.D.

5. "Was geht mich das an, wenn in einem fernen Land Menschenrechte verletzt werden?"

Unsere Telefone, Klamotten und Lebensmittel kommen aus allen Teilen der Erde. Oft werden diese Dinge von Menschen hergestellt, die wie Sklaven leben müssen. Im Kongo arbeiten schon Kinder ab sieben Jahren unter schlimmsten Bedingungen in Minen, um Kobalt zu gewinnen. Diesen Rohstoff brauchen Firmen wie Apple, BMW oder Volkswagen für die Batterien unserer Smartphones und Autos. 

Wir sind durch unsichtbare Ketten mit dem Schicksal vieler Menschen verbunden – ob wir wollen oder nicht. Am Ende entscheidest auch du mit deinem Kauf, ob du die Art und Weise wie sie behandelt werden, zulässt. 

Hinzu kommt: Akzeptieren wir Menschenrechtsverletzungen in einem Land, fühlen sich auch andere Staaten nicht mehr an ihre Verpflichtungen gebunden. So werden Menschenrechte schleichend ausgehöhlt, irgendwann auch bei uns. Und: Wenn die Menschenrechte in mehr Ländern geachtet würden, wären weitaus weniger Menschen gezwungen, zu fliehen.

    

6. "Wir können doch nicht Menschen in anderen Ländern vorschreiben, wie sie zu leben haben."

Oft hören wir, dass Menschenrechte ein "westliches Konzept" seien und deswegen nur bei uns funktionierten. Doch das stimmt nicht. Die Idee von Menschenrechten ist schon lange global. In der Arbeitsgruppe, die die "Allgemeine Erklärung der Menschenrechte" entwarf, waren alle Regionen der Welt vertreten. Manche europäischen Länder und die USA waren bei den Beratungen anfangs eher zögerlich, dagegen haben zum Beispiel Abgesandte aus Chile, Pakistan oder Saudi-Arabien für einen mutigen Entwurf gekämpft. 

Das gemeinsame Ziel dieser Arbeitsgruppe war es, jedem Menschen auf der Erde dieselben Rechte zu geben. Schließlich nahm die Generalversammlung der Vereinten Nationen ihren Entwurf 1948 ohne Gegenstimme an. Die Kritik, die Menschenrechte seien eine Erfindung "des Westens", kommt übrigens häufig von Regierungen, denen es nicht passt, dass alle Menschen in ihrem Land Freiheiten und Schutzrechte haben.



7. "Mir ist Sicherheit aber wichtiger als Menschenrechte."

Zuallererst: Sicherheit und Menschenrechte sind gar kein Gegensatz – auch wenn dies oft behauptet wird, um Eingriffe in unsere Freiheiten zu rechtfertigen. Menschenrechte schaffen vielmehr Sicherheit: Sie sorgen für "geordnete Verhältnisse", in denen du deine Freiheiten ausleben kannst. Sie schützen dich davor, dass der Staat, in dem du lebst, dich willkürlich verhaftet, überwacht oder misshandelt. Und sie sorgen dafür, dass du dich vor Gericht gegen Anklagen wehren kannst – gerade in unsicheren Zeiten. 

Die Missachtung der Menschenrechte durch die USA und andere westliche Staaten nach dem 11. September 2001 hat die Welt leider nicht zu einem sichereren Ort gemacht. In Guantánamo und Abu-Ghraib wurden die Inhaftierten im Namen der Sicherheit gefoltert und gedemütigt, darunter viele Menschen, die nichts verbrochen hatten. Auch rechtswidrige Drohneneinsätze der USA in Pakistan haben den Hass auf "den Westen" nur größer gemacht und gewaltbereite islamistische Bewegungen gestärkt.

Porträtfoto eines Mannes mit Brille in Jeansweste, grauem Hemd und graugrüner Hose

Dass es Länder gibt, die finanziell in der Lage sind zu helfen, aber Menschen nicht die Möglichkeit geben zu überleben, ist vielleicht das Unmenschlichste überhaupt.

 

Samy
Deluxe
Musiker 

8. "Menschenrechte hin oder her - wir können doch nicht alle Flüchtlinge aufnehmen."

Das verlangt auch niemand. Es geht aber darum, dass alle Flüchtlinge Menschen sind und sie die gleichen Menschenrechte haben wie du und ich. Dazu gehört das Recht, an einem sicheren Ort Asyl zu suchen. Dass Kriege und Diktaturen Menschen dazu zwingen, ihre Heimat zu verlassen, kennen wir aus der eigenen Geschichte nur zu gut. Genau deswegen wurde in der "Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte" das Asylrecht verankert. Vielleicht müssen auch du oder deine Kinder es eines Tages in Anspruch nehmen. 

Und was in den aktuellen Debatten häufig untergeht: 2017 hielten sich von weltweit 68,5 Millionen Flüchtlingen nur gut zwei Prozent in Deutschland auf. Die große Mehrheit von ihnen lebt als Binnenvertriebene in ihrem Herkunftsland oder in Nachbarregionen. Wir helfen also sowieso nur einem Bruchteil derer, die in Not sind.

9. "Mir ist es egal, dass meine Daten gesammelt werden, ich habe nichts zu verbergen." 

Auch wenn 1948 noch niemand ahnte, dass wir heute dauerhaft online sind: Der Schutz unserer Privatsphäre war von Anfang als Menschenrecht verankert. 

Wenn uns beim Chatten mit dem Smartphone jemand zu nah über die Schulter schaut, empfinden wir das ganz klar als übergriffig, aber dass Firmen und Staaten uns stärker ausspähen als jemals zuvor, ist uns oft gar nicht richtig bewusst. Wir lassen zu, dass fast alle unserer täglichen Schritte detailliert verfolgt werden. 

Mehrere neue Polizeigesetze in Bayern und anderen Bundesländern machen es leicht, dich ohne Anlass zu überwachen. Mit wem du telefonierst, welche Seiten du im Internet besuchst – das kann schon reichen, dich für die Polizei verdächtig zu machen. Es ist also wichtig, für dein Recht auf Privatsphäre zu kämpfen.



10. "Die Politik macht doch sowieso, was sie will. Es bringt nichts, sich für Menschenrechte einzusetzen." 

Klar, es gibt viele deprimierende Nachrichten. Doch durch Zuschauen und Abwenden wird es sicher nicht besser. Die Menschenrechte sind unser Mittel, um der Willkür der Mächtigen Grenzen zu setzen. Es gibt unzählige Beispiele von mutigen Menschen, die sich auf die Menschenrechte berufen haben und die Welt durch ihr Engagement verändert haben. Gerade weil sie sich nicht gerecht behandelt sahen von denen, die sie regierten. 

Die Schwarze Amerikanerin Rosa Parks weigerte sich 1955 zum Beispiel, ihren Platz im Bus für Weiße zu räumen. Das war der Beginn einer Protestwelle, die die "Rassentrennung" in den USA beendete. In der DDR gingen die Menschen friedlich auf die Straße und begruben eine Diktatur. Und auch heute kämpfen viele, viele Einzelpersonen und Organisationen auf der Straße und in Gerichtssälen erfolgreich dafür, dass sich die Menschenrechte immer wieder durchsetzen.

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