Afghanistan: Vier Jahre Rechtswillkür und Straflosigkeit
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Seit ihrer Machtübernahme im August 2021 haben die Taliban das bestehende Rechtssystem in Afghanistan ausgehebelt und durch eine religiös geprägte Ordnung ersetzt. Willkürliche Urteile, fehlende Transparenz und öffentliche Folter und Hinrichtungen sind seither an der Tagesordnung. Dass Deutschland Menschen nach Afghanistan abschiebt und Aufnahmezusagen nicht einhält, ist rechtswidrig.
"Nach vier Jahren Taliban herrscht ein repressives Rechtssystem, das sich nicht nur weit von internationalen Menschenrechtsstandards entfernt, sondern auch fast zwei Jahrzehnte Fortschritt zunichte gemacht hat. Niemand ist in diesem System, das einzig auf Angst und Unterdrückung setzt, sicher. Jeder Person kann hier Folter drohen. Deswegen muss Deutschland sofort unterlassen, nach Afghanistan abzuschieben und so das Völkerrecht zu brechen. Außerdem muss die Bundesregierung dringend ihr Versprechen einhalten und alle Afghan*innen, die bereits eine Aufnahmezusage für Deutschland haben, auch einreisen lassen", sagt Theresa Bergmann, Asien-Expertin bei Amnesty International in Deutschland.
Gerichtsverfahren finden in Afghanistan oft unter Ausschluss der Öffentlichkeit und ohne unabhängige Kontrolle statt. Es gibt keine richterliche Unabhängigkeit, keine fairen Verfahren und keinen Zugang zu unabhängigen Rechtsbeiständen. Entscheidungen werden weder dokumentiert noch begründet. Menschen werden ohne Haftbefehl verhaftet, ohne Prozess festgehalten oder verschwinden einfach.
Urteile ohne fairen Prozess oder rechtliche Überprüfung führen regelmäßig zu menschenrechtswidrigen Strafen – darunter Auspeitschungen und andere Formen von Folter und Misshandlung sowie Hinrichtungen auf öffentlichen Plätzen oder in Sportstadien. Institutionen, die einst dem Schutz der Rechte von Frauen dienten – wie Familiengerichte, Jugendgerichtseinheiten und Strukturen zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen – wurden aufgelöst. Frauen ist somit der Zugang zu Gerechtigkeit und effektiven Rechtsmitteln nahezu vollends verwehrt.
Trotz dieser dramatischen Menschenrechtslage schiebt Deutschland aktuell nach Afghanistan ab. Nach Medienberichten wurden auch Personen abgeschoben, die sich in Psychiatrien in Betreuung befanden. Diesen Menschen drohen, unabhängig davon, ob sie in Deutschland strafrechtlich verurteilt wurden oder nicht, in Afghanistan schwere Menschenrechtsverletzungen. Nicht ohne Grund hat der Internationale Strafgerichtshof im Juli diesen Jahres Haftbefehle gegen führende Taliban-Mitglieder wegen mutmaßlicher Verbrechen gegen die Menschlichkeit erlassen.
Auch beim Bundesaufnahmeprogramm für Afghanistan (BAP) und den weiteren Aufnahmeprogrammen für schutzsuchende Afghan*innen wird die Bundesregierung ihrer menschenrechtlichen Verantwortung nicht gerecht. Nach dem Stopp des BAPs und aller weiteren freiwilligen Aufnahmeprogramme werden afghanische Menschenrechtsverteidiger*innen, Frauenrechtler*innen und weitere gefährdete Personengruppen, denen Deutschland bereits eine Aufnahmezusage erteilt hatte, von der Bundesregierung im Stich gelassen. 2.300 von ihnen – der Großteil Frauen und Kinder – warten nun im pakistanischen Islamabad auf die Ausreise und sind täglich gefährdet, von den pakistanischen Behörden in Abschiebehaft genommen zu werden.
"Diesen Menschen wurde versprochen, dass sie in Deutschland Schutz finden könnten. Im Falle einer Abschiebung nach Afghanistan drohen ihnen Folter, Misshandlung, willkürliche Festnahmen und Inhaftierung", sagt Theresa Bergmann. "Innenminister Dobrindt und Außenminister Wadephul müssen dafür sorgen, dass alle Afghan*innen mit Aufnahmezusage für Deutschland umgehend mit Visa ausgestattet werden und schnellstmöglich einreisen können. Dass die Bundesregierung endlich handeln muss und sie sich andernfalls rechtswidrig verhält, haben mittlerweile mehrere Gerichte festgestellt."
Amnesty International ruft Deutschland und die internationale Gemeinschaft auf, diplomatischen Druck auf die Taliban auszuüben und sich entschieden für die Rückkehr zu Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten in Afghanistan einzusetzen. Berichte darüber, dass Deutschland zwei Taliban-Entsandte als Konsularbeamte empfängt, stehen dem diametral entgegen.