Amnesty Journal 10. Januar 2025

Mit dem Deutschlandticket in den Untergrund

Ein Schriftsteller steht bei einer Lesung in einer Aula oder einem Hörsaal vor seinem sitzenden Publikum. Er trägt ein Jacket und hält ein Mikro in der Hand.

Der Autor Dirk Reinhardt stellt sich den kritischen Fragen seines jungen Publikums. 

Kleben, Hacken, Fliehen: In seinen Büchern erkundet der Jugendbuchautor Dirk Reinhardt die Potenziale von Protest.

Von Lena Reich

Emma Larsen ist verzweifelt. Die Studentin will nicht länger zusehen, wie Konzerne und Politik die Zukunft der Welt zugrunde richten. Mitten in der Nacht besteigt sie den Messeturm in Frankfurt, auf dessen Spitze sie ein Transparent der Umweltschutzorganisation No Alternative platziert. Sie wird damit schlagartig berühmt. Dann geht sie in den Untergrund.

Der Jugendbuchautor Dirk Reinhardt hat seinen neuen Roman "No Alternative" einem brisanten Thema gewidmet: dem von Teilen der Politik und Medien sogenannten Klimaterrorismus. Mit dem Begriff, der 2022 zum "Unwort des Jahres" gekürt wurde, ist ziviler Ungehorsam von Klimaaktivist*innen gemeint: von Klebeblockaden auf Straßen über Protestcamps gegen Waldrodungen bis hin zu ­Attacken auf Kunstgemälde. In "No ­Alternative" radikalisiert sich die junge Frau, die nicht nur früh ihren Vater ver­loren hat, sondern auch ihren besten Freund. Er starb bei einer Aktion gegen ­einen Pharmakonzern, der mit Tierver­suchen Profit macht. Zum zweiten Mal bricht für Emma eine Welt zusammen.

Junge Leute in Extremsituationen

Reinhardt zeichnet seine Protagonistin mit Empathie und Charme. Auf Grundlage sorgfältig recherchierter Fakten erzählt er die Geschichte dramaturgisch so geschickt, dass die Leser*innen dranbleiben. "Meine Figuren sind junge Leute, die aus Extremsituationen kommen, aus Armut, zerrütteten Familienverhältnissen und politischen Problemlagen, mit denen sie umzugehen haben", sagt Reinhardt. "Wenn du mit Leuten sprichst, die zur ­Hacker*innen- oder Aktivist*innen-Szene gehören, haben die häufig genau solche Besonderheiten zu berichten."

Als die Welt in den Corona-Lockdown ging, begann sich der 61-Jährige mit Aktivist*innen der "Letzten Generation" zu treffen, die sich im Berliner Spreebogen mehr als sechs Wochen lang im Hungerstreik befanden. Ihre gar nicht so radikalen Forderungen: Ein Tempolimit auf ­Autobahnen, ein Deutschlandticket für 9 Euro, sofortiger Kohleausstieg.

Vier Jahre später sitzt Reinhard nur wenige hundert Meter entfernt im Bundestag, wo er auf Einladung der Berliner Literaturinitiative, der Grünenfraktion und der SPD-Fraktion mit Schulklassen diskutiert. In seinen Händen hält er das fertige Buch, dessen Sonnencover an die Do-it-yourself-Ästhetik früherer Anti-Atomplakate erinnert, und spricht mit rund 70 Gymnasiast*innen aus Berlin über die Entstehung des Buchs und dessen Hauptfigur Emma, die einen Brandanschlag auf parkende Geländewagen verübt und dann den Verkehr auf dem Frankfurter Flughafen lahmlegt. Auch wenn die Augen des jungen Publikums an diesem Montagmorgen müde wirken – die 15- bis 17-Jährigen hören Reinhardt aufmerksam zu und fordern ihn zur Diskussion heraus: über das Ende des Verbrennermotors, das Greenwashing internationaler Konzerne, den CO2-Ausstoß Chinas. Geduldig macht Reinhardt seinen Standpunkt deutlich und ­erinnert daran, dass er kein politischer Sachbuchautor ist, sondern seinem Pub­likum ein literarisches Angebot macht. "Junge Leute haben sehr starke Antennen für Anmaßungen. Nicht selten empfinden sie etwas als Übergriff oder fühlen sich gegängelt", sagt er.

Gemeinsam die Stimme erheben

Seit mehr als zehn Jahren gehört der promovierte Historiker zu den spannendsten Jugendbuchautoren der Gegenwart. Mehrere seiner Coming-of-Age-Geschichten, die er mit drängenden Fragen der Gegenwart verbindet, wurden für den Jugendbuchpreis nominiert.

In einem seiner ersten Romane, "Edelweißpiraten" von 2012, verlässt ein 14-Jähriger die Hitlerjugend, um sich einer Clique anzuschließen, die zuerst unpolitisch ist, dann mit riskanten Aktionen gegen die Nazis und für die Freiheit kämpft.

Auch die vier Jugendlichen aus "Digital Storm", die sich online beim Computerspielen kennenlernen und sich in die Netzwerke zweier US-Konzerne einhacken, als sie von Menschenrechtsverletzungen in der Demokratischen Republik Kongo erfahren, sind Verfechter der Freiheit und wollen die Wahrheit ans Licht bringen. Und die fünf Teenager, die in "Train Kids" auf Zugdächern quer durch Mexiko fahren, um in die USA zu gelangen, fordern ihr Recht auf ein sicheres Aufwachsen ein. Sie wollen zu ihren Eltern, die in den USA als Hausangestellte oder Erntehelfer arbeiten.

Recherche vor Ort

Vier Wochen lang reiste Reinhardt 2012 durch Mexiko, traf in Herbergen und an Bahnstrecken jugendliche Migrant*innen aus Guatemala, El Salvador und Honduras, die ihm ihre Geschichten erzählten. Sie reisen illegal in die USA ein, um der Armut und Kriminalität in ihrer Heimat zu entfliehen. Wegen der vielen Straßenkontrollen bleibt ihnen als einziger Fluchtweg die Reise auf den Dächern der Güterzüge. Den wenigsten gelingt die Flucht beim ersten Mal. Reinhardt erinnert sich: "Meine Gesprächspartner*innen waren häufig schon zum elften oder zwölften Mal unterwegs, kannten also die Fluchtrouten sehr genau und haben mir die Erlebnisse detailliert beschrieben. Sie waren angetan von der Aussicht, dass ihre Geschichten vielleicht zur Grund­lage eines Romans werden." 

Mit "Train Kids" gab Reinhardt jenen eine Stimme, die sonst nicht gehört werden. Mehr als 60.000 geflohene Menschen gelten in Mexiko als verschollen. Obwohl das Buch bereits vor mehr als zehn Jahren erschien, ist das Thema immer noch aktuell.

"Train Kids" ist Schullektüre

Während "Train Kids" in sechs Sprachen übersetzt wurde und sogar zur Schullektüre gehört, steht "No Alternative" noch am Anfang. Es erschien im August, doch inzwischen gibt es bereits eine zweite Auflage. Die Jugendlichen sind fasziniert von der im Buch beschriebenen Protestkultur – sich in Gruppen zusammenschließen und gemeinsam die Stimme erheben. In der Öffentlichkeit werden Klimaproteste häufig kriminalisiert und als "Klima-RAF" diskreditiert. Weil der Strafbestand "Bildung einer kriminellen Vereinigung" genutzt wird, um gegen friedliche Proteste vorzugehen, fordert Amnesty International mit der Kampagne "Protect the Protest" eine Reform des Paragrafen 129 im Strafgesetzbuch. Die Justiz soll künftig Klima­proteste im Rahmen von Meinungs- und Versammlungsfreiheit beurteilen.

Die Wucht, mit der gegen Klimaaktivist*innen vorgegangen wird, überrascht Reinhardt nicht. "Sie stellen unser Gesellschafts- und Lebensmodell infrage. Weil wir uns sonst nicht klar machen, worauf unser Wohlstand beruht: auf billigen Arbeitskräften und Rohstoffen, auf der Ausbeutung des Menschen und der Natur." Der Autor bleibt aber optimistisch, was die gesellschaftliche Akzeptanz des Klimaschutzes angeht. In einer Demokratie, sagt er, dauerten die bürokratischen Prozesse lange, es dauere manchmal eine ­gefühlte Ewigkeit, bis etwas wirklich ­entschieden sei. "Aber dann steht es."

Lena Reich ist freie Journalistin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

Dirk Reinhardt: No Alternative. Gerstenberg, Hildesheim 2024, 320 Seiten, 20 Euro.

WEITERE BUCHEMPFEHLUNGEN

"Verrückte" und ihre Rechte

von Maik Söhler

"Es gibt wohl kaum eine andere Minderheit, der man durch die Naturwissenschaft gerechtfertigt alle möglichen Menschenrechte aberkennt, ohne dass sich die Öffentlichkeit empört." Die Journalistin Lea De Gregorio wählt in ihrem Sachbuch "Unter Verrückten sagt man du" drastische Worte, um auf Missstände in manch psychiatrischer Einrichtung und manch therapeutischer Praxis hinzuweisen.

Die Autorin kennt beides aus eigener Erfahrung, weil sie sich in persönlichen Krisen freiwillig in eine Klinik einliefern ließ und dort ebenso freiwillig blieb. Sie schildert, "wie paternalistisch das therapeutische und psychiatrische System" sein kann, wie "Zwang, Isolation, Fixierungen, Androhung körperlicher Gewalt" Rechte gefährden und was dies bewirkt: "Die Psychiatrie kann dafür sorgen, dass man sich abhängig fühlt, hilfsbedürftig, minderwertig, klein. Sie nimmt einem die Würde."

Solche Sätze klingen nach Aktivismus, und doch sind sie es nicht. De Gregorio, die den Begriff "verrückt" positiv deutet und auch selbst verwendet, ist eine sehr reflektierte Autorin; ihr Buch ist voller Verweise auf Philosophie, Literatur, Gesellschafts- und Naturwissenschaften. Sie stellt eigene biografische Passagen stets in den Kontext von Kultur- und Gesellschaftsgeschichte: "Weil der Erfinder des Jazz Buddy Bolden mit Schizophrenie diagnostiziert wurde und er wohl wegen dieser 'Krankheit' so viel improvisierte, könnte man sagen, dass es ohne die Schizophrenie den Jazz vielleicht nicht gäbe."

Andere Teile des Buchs untersuchen die systematische Ermordung als "irre" oder "krank" markierter Menschen im Nationalsozialismus. Lea De Gregorio, die zuerst als Volontärin und bis zum Frühjahr 2022 als Redakteurin beim Amnesty Journal arbeitete, sieht in der weltweiten Menschenrechtsbewegung eine selbstverständliche Bündnispartner*in für all jene, die für einen besseren Umgang mit "Verrückten" streiten.

Lea De Gregorio: Unter Verrückten sagt man du. Suhrkamp, Berlin 2024, 297 Seiten, 20 Euro.

Die Frau im Lieferwagen

von Nina Apin

Ein Sommertag auf dem sogenannten ­Polenmarkt im brandenburgischen Hohenwutzen. Tâm und ihr Bruder Dennis kaufen ein Kochbeil für das Restaurant ­ihrer Eltern und für sich Metal-Shirts und Rollerskates. Bei ihren ersten Fahrversuchen sorgt Tâm für einen dicken Kratzer in einem schwarzen Lieferwagen. Darin sitzt eine junge Vietnamesin, offenbar eingesperrt, die kein Deutsch spricht und nicht weiß, wo sie sich befindet. ­Hastig kauft sie den Geschwistern das ­Hackebeil ab.

Wenig später in einer Plattenbausiedlung in Berlin-Lichtenberg. Alex, ein Junge aus Tâms Nachbarschaft, spielt Detektiv und verfolgt mit einer Drohne einen Lieferwagen, aus dem Gegenstände von einer Brücke geworfen werden. Im Gebüsch findet er ein Hochzeitsfoto – und einen sauber abgetrennten Finger …

Vor der Hochhauskulisse Lichtenbergs entspinnt sich ein Kriminalfall, der Tâm, Dennis, Alex und die Thaiboxerin Marina in die Szene der organisierten Kriminalität führt: Die Frau aus dem Lieferwagen heißt Hoa Binh, Menschenhändler haben sie nach Deutschland verschleppt.

Der Autor und Zeichner Mikael Ross greift in seinem Comic "Der verkehrte Himmel" Themen wie Menschenhandel und Zwangsprostitution, Teenagerliebe und die Abnabelung der zweiten Generation von ihren Einwanderereltern auf. ­Seinem rasanten Actionplot verleiht er mit harten Schwarz-Weiß-Kontrasten einen düsteren Anstrich. Aber es gibt auch zarte und lustige Szenen, mangahaft überzeichnet oder rosa koloriert – etwa Alex’ Freundschaft zur trinkenden Jutta, die in einem Schrebergarten lebt. Oder die starken Bande zwischen den Geschwistern, die daheim zu den Ahnen ­beten und sich um Mamas Phôsuppe streiten. "Der verkehrte Himmel" bietet kein Happy End, aber einen spannenden Einblick in die vietnamesische Community Berlins und ihre Probleme mit organisierter Kriminalität.

Mikael Ross: Der verkehrte ­Himmel. Avant Verlag, Berlin 2024, 344 Seiten, 28 Euro.

Ein dickes Versprechen

von Marlene Zöhrer

Freiheit ist nicht nur ein großes Wort mit vielen Dimensionen, sie ist vor allem ein Recht von unschätzbarem Wert. Die Berliner Illustratorin und Autorin Sybille Hein nähert sich dem, was Freiheit für jede und jeden Einzelnen sowie für die Gesellschaft bedeutet, verspielt und mit comichaftem Strich: "Freiheit spürst du am Boden mit weichem Gras unterm Po", heißt es auf der ersten Doppelseite des Sachbilderbuchs. Das Bild zeigt ein Kind, das unter einem Birnbaum liegt und mit zufriedenem Gesichtsausdruck in den Himmel blickt. Freiheit ist das wohlige Gefühl von Leichtigkeit. Freiheit ist aber auch "ein ganz dickes Versprechen: "Sei, wer auch immer du sein willst!" Sie ist "überall, auch an Orten, an denen sie verboten ist". Und obwohl Freiheit eigentlich "für alle umsonst" ist, "zahlen manche Menschen einen hohen Preis dafür".

Die anfängliche Leichtigkeit ist nun verschwunden, die sommerlich warmen Farben sind einem trüben Grau gewichen. Zwei mit Schlagstöcken bewaffnete Männer führen eine Frau mit Kopftuch ab, die gemeinsam mit drei anderen Personen demonstriert hat: Sie halten am Bildrand noch ihre Transparente hoch. Ein dritter Uniformierter hält den drei Verbliebenen die ausgestreckte Hand entgegen und signalisiert "Stopp!", während ihm der Hund der Abgeführten ans Bein pinkelt. Hier wird Freiheit offensichtlich eingeschränkt. Die Demonstrantin wird festgenommen und den drei anderen das Recht verwehrt, ihre Meinung zu äußern. Aber ist Meinungsfreiheit nicht ein Menschenrecht?

Im Zusammenspiel aus knappen ­Sätzen und Bildern, die dank Heins Zeichenstil und witziger Bildideen nie hoffnungslos wirken, wird klar, was Freiheit bedeutet und warum sie so wichtig ist. Ein kluges und engagiertes Sachbilderbuch, das unzählige Gesprächsanlässe bietet und das alle, ganz unabhängig vom Alter, lesen sollten.

Sybille Hein: Freiheit … du große Wundertüte! Fischer Sauerländer, Frankfurt am Main 2024, 48 Seiten,  15,90 Euro, ab 4 Jahren.

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