Amnesty Journal Aserbaidschan 23. Mai 2017

Immer auf die Presse

Demonstration nach dem Mord von Miroslava Breach in Ciudad Juárez, Mexiko, März 2017

Demonstration nach dem Mord von Miroslava Breach in Ciudad Juárez, Mexiko, März 2017

Weltweit wird die Meinungs- und Pressefreiheit infrage gestellt – von Mexiko bis Bangladesch. Staatliche Autoritäten, Paramilitärs und konservative Kleriker gehen gegen kritische Journalisten vor.

Von Anton Landgraf

Dafür, dass du ein Großmaul bist", stand auf dem Zettel, den die Mörder von Miroslava Breach am Tatort zurückließen. Die Journalistin wurde morgens, als sie gerade einen ihrer Söhne zur Schule bringen wollte, vor ihrem Haus erschossen. In der Zeitung Norte aus Ciudad Juárez hatte die 54-jährige Reporterin zuvor über den Einfluss der Drogenmafia im mexikanischen Bundesstaat Chihuahua geschrieben. Als Korrespondentin der landesweiten Tageszeitung La Jornada hatte sie unter anderem die Untätigkeit der Behörden, Verflechtungen zwischen Politik und Verbrechen und die zahlreichen Menschenrechtsverletzungen angeprangert.

Als Reaktion auf die Ermordung der Journalistin am 23. März stellte der Chefredakteur von Norte die Zeitung ein. Auf der Titelseite veröffentlichte Oscar Cantú Murguía einen Abschiedsbrief an die Leser mit dem Titel "Adiós!". Der Tod seiner Kollegin habe ihn darüber nachdenken lassen, unter welchen Umständen Journalisten arbeiten. "Es gibt weder die Garantien noch die Sicherheit, um kritischen Journalismus zu machen, ­einen Journalismus, der ein Gegengewicht bildet", schrieb er. "Alles hat seinen Preis, aber wenn dieser das Leben ist, bin ich nicht bereit, dass noch einer meiner Kollegen ihn bezahlt."

Mexiko gilt als aufstrebendes Schwellenland und ist weltweit beliebt als Industriestandort. Zahlreiche US-amerikanische und europäische Firmen lassen dort ihre Produkte fertigen. Doch während große wirtschaftliche Fortschritte zu verzeichnen sind, fällt das Land weit hinter international gültige Menschenrechtsstandards zurück. Besonders drastisch zeigt sich diese Entwicklung bei der Meinungs- und Pressefreiheit: In keinem anderen Land der westlichen Hemisphäre leben Journalisten so gefährlich, in keinem anderen werden so viele Medienschaffende getötet.

Miroslava Breach war bereits die dritte Journalistin, die allein im März in Mexiko ermordet worden ist; auf sieben weitere wurden Anschläge verübt. Und Mitte Mai kam es zu zwei weiteren Morden an einem Tag. Sieben Medienschaffende verloren bereits seit Anfang des Jahres ihr Leben, elf im vergangenen. Seit dem Jahr 2000 waren es insgesamt 104; 25 weitere gelten als "verschwunden".

Angesichts der Gewaltserie spricht Amnesty International von einer "Jagdsaison" auf Journalisten. Mexiko gleiche einer Verbotszone für Medienmitarbeiter, die den Mut hätten, über Themen wie organisierte Kriminalität und Komplizenschaft der Machthaber zu berichten, sagt Erika Guevara-Rosas, Amerika-Direktorin von Amnesty: "In Mexiko ist ein Krieg gegen Journalisten im Gange." Das Land habe sich in eine "No-go-Zone für alle entwickelt, die mutig genug sind, über die wachsende Macht des organisierten Verbrechens und die Absprachen dieser Gruppen mit den Behörden zu berichten".

Der mexikanische Präsident Enrique Peña Nieto versicherte der US-Nichtregierungsorganisation Committee to Protect Journalists (CPJ) zwar im Mai, dass die Behörden alles unternehmen würden, um die Verbrechen aufzuklären. Doch von den Hunderten Fällen schwerwiegender Schikanen, Anschläge oder Morde an Journalisten, die den Bundesbehörden in den vergangenen sechs Jahren gemeldet wurden, sind lediglich in zwei Fällen Tatverdächtige verurteilt worden. Auch die Mörder von Miroslava ­Breach sind noch auf freiem Fuß.

Diese Straflosigkeit, die aus einer unheilvollen Allianz aus Korruption, Verbrechen und Politik resultiert, verwandelt die Presse- und Meinungsfreiheit in eine Fiktion – selbst wenn sie auf dem Papier und in zahlreichen Regierungserklärungen immer wieder garantiert wird.

Mexiko ist jedoch kein Einzelfall. Wie stark die freie Meinungsäußerung weltweit unter Druck steht, zeigt sich daran, dass sie auch dort, wo sie bislang als selbstverständlich galt, immer mehr in Zweifel gezogen wird. US-Präsident Donald Trump bezeichnete Medien, die kritisch über ihn berichteten, unlängst als "Feinde des amerikanischen Volkes". Ein Ausspruch, der an die dunkelsten Zeiten des vergangenen Jahrhunderts erinnert. Seine Verunglimpfung unliebsamer Presseberichte als "Fake News" werde mittlerweile auch von repressiven Regierungen, etwa in der Türkei, China oder Syrien, übernommen, kritisierte das CPJ im Mai. Massive Einschränkungen der Berichterstattung seien an der Tagesordnung.

Bereits unter Trumps Vorgänger Barack Obama waren die US-Behörden aggressiv gegen sogenannte Whistleblower und vermeintliche Informanten vorgegangen. Die USA verfügt dennoch über eine starke und selbstbewusste Presse, die sich gegen Angriffe wehren kann. "Die Alternative zur Wahrheit ist die Lüge", kommentierte die New York Times lakonisch die bewusste Irreführung der Öffentlichkeit mit "alternativen Fakten".

Schwieriger gestaltet sich die Lage in einigen europäischen Ländern. So versucht die polnische Regierung seit fast zwei Jahren, das öffentlich-rechtliche Fernsehen unter ihre Kontrolle zu bringen. Mehr als 220 Journalisten wurden seit dem Machtwechsel im Herbst 2015 entlassen, zur Kündigung gezwungen oder auf weniger einflussreiche Posten versetzt. Die Regierungspartei PiS will private Medien "repolonisieren".

Regierungskritische Zeitungen stehen unter Druck, seit staatliche Firmen dort keine Anzeigen mehr schalten, wie Reporter ohne Grenzen (ROG) kritisiert. "Besonders erschreckend ist, dass auch Demokratien immer stärker unabhängige Medien und Journalisten einschränken, anstatt die Pressefreiheit als Grundwert hochzuhalten", sagt Vorstandssprecher Michael Rediske. Insgesamt hat sich in knapp zwei Dritteln der von ROG untersuchten Länder die Situation der Pressefreiheit verschlechtert. Sind es in Mexiko Drogenkartelle und korrupte Beamte, die gegen Journalisten und Online-Aktivisten vorgehen, so leiden Kolleginnen und Kollegen in anderen Ländern unter Kriegen oder der Gewalt extremistischer Gruppen.

In Bangladesch sind säkulare Blogger und Aktivisten, die ihr Recht auf freie Meinungsäußerung ausüben, besonders gefährdet. Im August 2015 stürmte eine Gruppe bewaffneter Männer die Wohnung des Bloggers und Aktivisten Niloy Neel und tötete ihn auf brutale Weise. Er hatte immer wieder kritisch über religiösen Fundamentalismus und Extremismus geschrieben und sich auf digitalen Plattformen wie Mukto Mona (Freier Geist) für Menschenrechte eingesetzt. Seit 2013 sind in Bangladesch sieben Aktivisten getötet worden, nur weil sie sich friedlich zu Themen wie Frauenrechte, Demokratie, Säkularismus oder Schutz religiöser Minderheiten geäußert hatten.

Die Regierung zieht daraus jedoch keine Konsequenzen: Weder wurden die Morde offiziell verurteilt noch Verantwortliche strafrechtlich belangt. Statt sich auf die Seite der Opfer zu stellen, bezichtigt man diese der "Verletzung religiöser Gefühle". Nach dem Mord an einem homosexuellen Journalisten warf Premierministerin Sheikh Hasina diesem die Verbreitung von Pornografie vor und sprach verharmlosend von "Zwischenfällen nach Veröffentlichungen anstößiger Dinge".

Andere Aktivisten, die bei der Polizei um Schutz nachsuchten, wurden abgewiesen. Auch Niloy Neel hatte wenige Tage vor seinem Tod um Schutz gebeten, ohne dass die Sicherheitskräfte darauf reagierten. Wegen der anhaltenden Gewalt üben sich viele Journalisten und Aktivisten in Selbstzensur oder verlassen Bangladesch, um sich in Sicherheit zu bringen.

In anderen Ländern sind die Methoden, mit denen Behörden gegen Blogger und Betreiber oppositioneller Webseiten vorgehen, zwar subtiler, aber nicht weniger effektiv: In Aserbaidschan etwa berichten Menschenrechtsaktivisten und Journalisten seit Langem von Hacker-Angriffen und sogenannten Spear-Phishing-Attacken. Mehr als ein Jahr lang wurden gezielt ausgewählten Menschenrechtsaktivisten, Journalistinnen und Dissidenten per E-Mail und auf Facebook arglistig sensible Daten entlockt, wie Amnesty International in einem im März veröffentlichten Bericht aufzeigt.

Dokumentiert werden darin unter anderem die Vorkommnisse um die Webseite Anonymous Azerbaijan und den Online-Nachrichtendienst Kanal 13, deren interne Kommunikation nach einem Angriff ausspioniert wurde. "Die schaurige Vorstellung, dass alle Onlineaktivitäten überwacht werden, hat unter den aserbaidschanischen Aktivistinnen und Aktivisten zu großem Unbehagen geführt, das nicht nur ihre lebenswichtige Arbeit untergräbt, sondern auch sehr negative Auswirkungen auf ihren Alltag hat", sagt Denis Krivosheev, stellvertretender Direktor für Europa und Zentralasien von Amnesty International.

In manchen Fällen sind die Methoden, um unbequeme Meinungen zu überwachen, noch erfinderischer. So kontaktierte eine Person namens Sefaena Malik im vergangenen Jahr Journalisten, Menschenrechtler und Gewerkschafter aus dem Nahen Osten per E-Mail oder auf Netzwerken. Sie gab sich als Aktivistin aus, die Hilfe bei einer wichtigen Recherche über Menschenhandel suche.

Tatsächlich war Malik eine erfundene Person, der über gekaperte Accounts eine Vita verliehen wurde. Sie sollte die angegriffenen Personen dazu verleiten, ihre Zugangsdaten zu Google, Facebook, Twitter und LinkedIn zu offenbaren. Über die erbeuteten Daten kamen die Angreifer an sensible Informationen über die Netzwerke der Opfer oder konnten sich als diese ausgeben, um an weitere Informationen zu gelangen.

Amnesty vermutet dahinter eine gezielte Phishing-Kampagne gegen Personen, die sich für Menschenrechte und bessere Arbeitsbedingungen in Katar sowie für nepalesische Arbeitsmigranten in dem Golfstaat einsetzen. Es liegen zwar keine Beweise vor, dass die katarischen oder nepalesischen Behörden hinter dieser Aktion stecken. Doch könnten dafür Gruppen verantwortlich sein, die den Regierungen der beiden Staaten zumindest nahestehen. Darauf deuteten IP-Adressen von Angreifern hin, die sich in gekaperte Gmail-Accounts eingeloggt haben. Angelehnt an die arabische Bedeutung des Wortes "Malik" (König) taufte Amnesty die Kampagne "Operation Kingphish".

Die Folgen dieses Vorgehens sind weitreichend: Wie können Journalisten ihren Quellen künftig glaubhaft versichern, dass Informationen vertraulich behandelt werden? Gerade in Ländern, in denen die Regierungen mögliche Kritiker obsessiv überwachen, ist eine gesicherte Kommunikation kaum mehr zu gewährleisten. Ohne glaubwürdigen Quellenschutz jedoch kann kein investigativer Journalismus betrieben werden. Dabei ist dieser untrennbar verbunden mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung, das erst in langen leidvollen Auseinandersetzungen durchgesetzt werden konnte.

"Jeder hat das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung", heißt es in Artikel 19 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen aus dem Jahr 1948. Dieses Recht gilt universell, unabhängig von Geschlecht, ethnischer Herkunft, Religion oder sozialem Status. Heute müssen sich viele Gesellschaften erneut die Frage stellen: Wie viel ist uns dieses Recht noch wert?

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Dieser Artikel ist in der Ausgabe Juni/Juli 2017 des Amnesty Journals erschienen.

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