Amnesty Journal Mexiko 27. Januar 2017

Abwarten und Schutz bieten

Abwarten und Schutz bieten

Amnesty Journal Feb/März 2017

Donald Trump hat angekündigt, sogenannten Zufluchtsstädten, die irregulär Eingewanderte beherbergen, die Bundesmittel zu streichen. Bürgermeister in Kalifornien rechnen mit Einbußen in Milliardenhöhe – die nicht zuletzt für soziale Projekte fehlen werden.

Von Arndt Peltner

Am Abend des 1. Juli 2015 schlendert Kathryn Steinle mit ihrem Vater den Embarcadero entlang, eine der beliebtesten Touristenattraktionen San Franciscos. Die beiden gehen vorbei am berühmten "Ferry Building" und dann hinaus auf den Pier 14, von wo man einen wunderbaren Ausblick auf die Bay-Bridge, Treasure Island und Downtown San Francisco hat. Plötzlich fallen drei Schüsse, eine der Kugeln ist ein Querschläger und trifft die junge Frau hinten am Hals. Kathryn Steinle stirbt kurz darauf in einem Krankenhaus, ihre Halsschlagader ist verletzt worden.

Der Täter war Juan Francisco Lopez-Sanchez, ein mehrfach vorbestrafter Mexikaner, der zuvor bereits fünfmal nach Mexiko abgeschoben worden war – doch immer wieder zurückkam. Die Waffe hatte er zuvor in San Francisco aus dem Privatwagen eines Beamten gestohlen. Mit dieser schoss er anschließend am Pier 14 um sich. Eigentlich hätte der 45-Jährige nach einer Drogenstraftat zum sechsten Mal nach Mexiko ausgewiesen werden sollen. Doch die Polizei San Franciscos überstellte ihn nicht an die zuständige Einwanderungsbehörde "Immigration and Customs Enforcement" (ICE), sondern entließ ihn aus der Haft, nachdem ein Richter die Anklage wegen Marihuana-Besitzes fallen gelassen hatte. Der Grund: Die Stadtväter erklärten San Francisco bereits 1989 zur "Sanctuary City", einer Zufluchtsstadt für irregulär ins Land gekommene Einwanderer. Zehn Jahre zuvor hatte Los Angeles seine Polizeibeamten angewiesen, bei Kontrollen und Festnahmen nicht nach Aufenthaltspapieren zu fragen.

364 Bezirke, darunter 39 Städte, sind diesem Schritt inzwischen gefolgt und haben sich den Status von Zufluchtsstädten gegeben – darunter auch Miami und New York. Doch die rechtliche Lage ist nicht überall gleich: In San Francisco und anderen Städten, die ihre Schutzaufgabe sehr umfassend auslegen, ist es lokalen Polizeieinheiten untersagt, mit der Einwanderungsbehörde ICE zusammenzuarbeiten. Die Beamten sind angehalten, die vom ICE ausgestellten Anfragen zur Inhaftierung von Straffälligen zu ignorieren – und bei Festnahmen nicht nach Einwanderungsdokumenten zu fragen. In vielen anderen Kommunen bedeutet "Sanctuary City" hingegen in erster Linie, irregulär Eingewanderten den Zugang zu Sozialprogrammen zu ermöglichen und ihren Kindern den Schulbesuch.

Am Tag des Todes von Kathryn Steinle begann in den USA der lange Präsidentenwahlkampf, die ersten Fernsehdebatten der Republikaner standen an. Zwei Wochen zuvor hatte Donald Trump seine Kandidatur erklärt und gleich mit markigen Sprüchen auf sich aufmerksam gemacht: "Wenn Mexiko seine Leute schickt, schicken sie nicht ihre besten", sagte er vor laufenden Kameras. "Sie schicken Leute, die eine Menge Probleme haben, und sie bringen diese Probleme zu uns. Sie bringen Drogen. Sie bringen Verbrechen. Sie sind Vergewaltiger. Und manche, nehme ich an, sind gute Leute."

Abschottung statt Legalisierung

Der Tod einer jungen Amerikanerin durch die Schüsse eines ins Drogenmilieu verstrickten Mexikaners kam Trump da gerade recht. Umgehend twitterte er der Familie sein Beileid und behauptete, der Mord an ihrer Tochter hätte verhindert werden können, wenn San Francisco sich nicht zur Zufluchtsstadt erklärt hätte. Er kündigte deshalb an: "Wir werden den 'Sanctuary Cities', die für so viele sinnlose Tote verantwortlich sind, ein Ende bereiten. Keine finanziellen Mittel mehr für sie", sagte er auf einer Wahlveranstaltung im Sommer 2015 unter dem Jubel seiner Anhänger.

Eine Forderung, die sich im Oktober 2016 auch in Trumps Aktionsplan für die ersten hundert Tage im Weißen Haus wiederfand, seinem "Vertrag mit dem amerikanischen Wähler": Bereits an seinem ersten Arbeitstag werde er die Streichung sämtlicher Bundesmittel für die Zufluchtsstädte anordnen, heißt es dort unter Punkt drei, "um die Sicherheit und die ­Herrschaft des Gesetzes wiederherzustellen".

Noch ist offen, ob der 45. Präsident der USA seinen im Wahlkampf angekündigten Kurs gegen die Zufluchtsstädte auch im Amt durchsetzen kann. Doch die aggressive Rhetorik lässt Schlimmes befürchten: Von zwei bis drei Millionen "kriminellen Ausländern", die ausgewiesen werden müssten, sprach er auf Veranstaltungen – obwohl etwa das "Migration Policy Institute" nur gut 820.000 Menschen unter dieser Kategorie führt. Doch mit seinen rassistischen und xenophoben Äußerungen hatte er Erfolg – auch rechtsextreme und offen fremdenfeindliche Gruppierungen wie der Ku-Klux-Klan sehen in dem 70-jährigen Milliardär ihren Kandidaten. Endlich werde ausgesprochen, was das weiße Amerika schon lange verlange, lautet die einhellige Meinung in vielen rechten Internetforen.

Der Status nicht legalisierter Einwanderer, vor allem aus Mexiko, ist eines der großen politischen Themen in den USA und hat noch in jedem Wahlkampf für Zündstoff gesorgt. Dabei ist ihre Anzahl relativ klein: So geht das renommierte "Pew Research Center" von 11,1 Millionen Menschen ohne Papiere aus – das sind lediglich 3,5 Prozent der Gesamtbevölkerung. Zwei Drittel leben bereits seit mehr als einem Jahrzehnt in den USA, warten aber immer noch auf ihre Legalisierung. Knapp sechs Millionen irregulär Eingewanderte sind Mexikaner. Fast zwei Drittel der Einwanderer leben in Texas, Florida, New York, New Jersey und Illinois und Kalifornien. Allein im "Golden State" leben 2,3 Millionen Einwanderer ohne Papiere, davon 71 Prozent Mexikaner.

Abschottung statt Legalisierung lautet die Devise, die den politischen Umgang mit den Einwanderern in den USA prägt. Bereits 2006 verabschiedete Präsident George W. Bush den sogenannten "Secure Fence Act", der den Bau eines fünf Meter hohen Doppelzauns auf einer Länge von 1.100 Kilometern an der Grenze zu Mexiko genehmigte. "Dieses Gesetz hilft, das amerikanische Volk zu schützen", sagte Bush bei der Unterzeichnung. "Dieses Gesetz wird unsere Grenzen sicherer machen. Es ist ein wichtiger Schritt hin zu einer Einwanderungsreform."

Trumps Mauer

Doch auch mehr als ein Jahrzehnt später versuchen Monat für Monat Tausende Menschen aus Mexiko, Guatemala, El Salvador und Honduras in die USA einzureisen. Weil sich der Zaun nicht über die gesamten 3.200 Kilometer Grenze erstreckt, gelingt es Schleppern weiterhin, Immigranten ins Land zu bringen. Jahr für Jahr werden an der Grenze zu Mexiko aber auch Tausende Menschen von der Grenzpolizei aufgegriffen. Trump war das während des Wahlkampfes jedoch nicht genug: Eine Mauer, hoch, schön und undurchlässig wie die in Berlin oder in China müsse errichtet werden, verlangte er. "Wir werden anfangen zu bauen", sagte er wenige Tage vor seinem Amtsantritt. "Auf irgendeine Art und Weise wird uns Mexiko für die Kosten der Mauer entschädigen. Sei es über eine Steuer oder eine Zahlung."

Es war ein Wahlkampf, wie ihn die USA noch nicht erlebt ­haben: Trump präsentierte sich als Außenseiter, als ­Law-and-Order-Kandidat, der mit den "Illegalen" und den "Kriminellen" aufräumen werde. Er formulierte und unterschrieb sogar einen vermeintlichen Vertrag mit den amerikanischen Wählern, der zahlreiche Versprechen enthielt, die er in den ersten hundert Tagen seiner Amtszeit durchzusetzen beabsichtige. Dass für vieles davon gar nicht der Präsident, sondern der Kongress zuständig ist – darunter auch die Streichung von Bundesmitteln für Zufluchtsstädte – störte ihn nicht.

Trump verfügt jedoch in Senat und Repräsentantenhaus über wichtige Verbündete. Im Januar brachte der republikanische Abgeordnete Lou Barletta den "Mobilizing Against Sanctuary Cities Act" im Kongress ein – ein alter Gesetzesentwurf, für den er 2011 und 2015 keine Mehrheiten erzielen konnte. Doch der politische Wind hat sich seitdem gedreht, sodass Barletta sein Ziel erreichen könnte, sämtliche Finanzhilfen an die betroffenen Kommunen, Bezirke und Bundesstaaten für ein Jahr aussetzen zu lassen.

"Zu viele Bürgermeister und Stadtverwaltungen glauben, über dem Gesetz zu stehen und damit ihre Ideologie über die Sicherheit ihrer Bürger setzen zu können", begründete er seinen Vorstoß. "Dieses Gesetz wird diese Praxis beenden, indem den Zufluchtsstädten verdeutlicht wird: Wenn ihr euch weigert, mit den Einwanderungsbehörden zusammenzuarbeiten, verliert ihr eure öffentlichen Bundesgelder."

Dutzende Kommunen bereiten sich bereits auf die Einschnitte vor, die mit der Amtsübernahme Trumps drohen. Wa­shington D.C. wäre davon am stärksten betroffen, die amerikanische Hauptstadt hängt am finanziellen Tropf des Kongresses. Für San Francisco würde ein Stopp des Geldflusses einen Einschnitt von zehn Prozent des Haushalts bedeuten – rund eine Milliarde Dollar. Bürgermeister Ed Lee versicherte nach der Wahl Trumps, dennoch seiner Linie treu zu bleiben: "Wir waren schon immer und werden auch weiterhin ein Zufluchtsort sein, eine Stadt, die Schutz bietet, eine Stadt der Liebe." San Franciscos Rechtsdezernent prüft bereits rechtliche Schritte, falls die Trump-Administration ihre Androhung wahr machen sollte. Die Stadt ist bereit, bis vor den Obersten Gerichtshof zu ziehen, um dort klären zu lassen, welche Rechte Städte, Bundesstaaten und die Bundesregierung haben.

Gelassen ins Ungewisse

Auf der anderen Seite der San Francisco Bay, in Oakland, will man sich ebenfalls nicht dem Druck aus Washington beugen. Rund 52 Millionen Dollar an Bundeshilfen erhält die Stadt im Jahr. Das sind vier Prozent des städtischen Haushalts und bedeutet viel Geld für die hochverschuldete Kommune. Doch auch dort zeigt man sich kämpferisch.

Bürgermeisterin Libby Schaaf, die im Wahlkampf erklärte, der gefährlichste Ort der USA sei Trumps Mundwerk, sagte nach dem Sieg des Republikaners: "Die Wahl Donald Trumps fühlt sich für mich an wie ein Angriff auf alles, an das ich glaube und für das Oakland steht." Die Stadtverwaltung werde deshalb weiterhin alles tun, um die Bewohner zu beschützen und "unsere progressiven Werte" zu verteidigen. "Wir sind stolz darauf, eine Zufluchtsstadt zu sein" und Menschen ohne Papiere vor "ungerechten Einwanderungsgesetzen" in Schutz zu nehmen.

Die größte Gruppe irregulär Eingewanderter lebt in Los Angeles. Mehr als eine Million der gut elf Millionen landesweit sollen sich nach Untersuchungen des "Migration Policy Institute" im Großraum rund um die Metropole am Pazifischen Ozean integriert haben, wo mehr Menschen spanisch als englisch sprechen. Bürgermeister Eric Garcetti trifft sich regelmäßig mit Vertretern von Flüchtlings- und Einwanderergruppen, um sie zu ­beruhigen. "Wir kooperieren mit den Bundeseinwanderungs­behörden, wenn es um Kriminelle in unserer Mitte geht, die ausgewiesen werden sollen", stellt er klar.

"Dennoch sind wir eine offene Stadt, in der unsere Polizeieinheiten nicht herumlaufen und Leute nach ihren Aufenthaltspapieren fragen, und das sollten sie auch nicht tun." Als "Sanctuary City" freilich will Garcetti Los Angeles nicht bezeichnen. Dieser Begriff sei "unklar" und gebe ein falsches Bild der Realität wieder, sagt der Bürgermeister.

Los Angeles erhält 507 Millionen Dollar aus Bundesmitteln im Jahr, davon sind 127 Millionen Dollar für die Polizeibehörden vorgesehen. Aus dem Umfeld des neuen Präsidenten war bereits zu hören, dass man möglicherweise gezielt für die Polizei bestimmte Gelder streichen werde, schließlich verweigerten diese ja die Zusammenarbeit mit den Bundesbehörden.

In den Städten und Gemeinden, die es ablehnen, die Daten von Einwanderern an die Bundesbehörden zu melden, herrscht derzeit große Ungewissheit – und Wut. Der Bürgermeister Santa Fes, Javier Gonzales, verweist darauf, dass mit den 6,2 Millionen Dollar, die jährlich aus Washington überwiesen würden, die Mahlzeiten in städtischen Seniorenheimen, Kleinstkredite für junge Familien beim Häuserkauf und der regionale Flughafen unterstützt würden. Sollte der Präsident eine Politik durchsetzen, die "Senioren und Eigenheimkäufern schadet und so Zwist und Angst in unserer Gemeinde sät, dann werden wir dafür planen und uns darauf einstellen", sagt Gonzales.

Doch trotz aller Unsicherheit gibt es auch Stimmen, die ­gelassen auf Trumps Einzug ins Weiße Haus blicken. Einer von ihnen ist Bill Ong Hing, Rechtsprofessor an der Universität von San Francisco. Man müsse abwarten, wie ernst die neue Administration den Kampf um die Zufluchtsstädte wirklich nehme. Sicher sei nur, dass vieles "vor Gericht enden" werde. Hinzu komme, dass das Justizministerium zwar einzelne Polizeiprojekte bezuschusse, die gezielt gegen irregulär ins Land gelangte Immigranten gerichtet seien. Diese könnte die Trump-Administration ohne weiteres kürzen oder ganz streichen. Doch bei einer Höhe von landesweit 600 Millionen Dollar wäre das ein Tropfen auf den heißen Stein und würde kaum Wellen schlagen. Auch ­einige Bürgermeister, darunter die von Baltimore, Long Beach, Mesa und Springfield, haben in einer gemeinsamen Erklärung betont, dass sie erst einmal abwarten wollten, welche konkreten Pläne Trump künftig verfolgen werde.

Vielen Kindern der irregulär Eingewanderten freilich hilft das nicht weiter. Nach Einschätzung von Shanthi Gonzales vom Schuldezernat in Oakland haben immer mehr Schülerinnen und Schüler Angst davor, zur Schule zu gehen, weil sie fürchten, dass ihre Eltern zu Hause festgenommen und in Abschiebehaft gesteckt würden. Sie selbst seien zwar in den USA geboren und somit Amerikaner, aber ihre Eltern hätten keine Papiere. Lehrer hätten ihr berichtet, "dass sie nach dem Wahltag die erschütterndsten Gespräche ihrer Karriere mit Schülern führten". ­Gonzales hat deshalb durchgesetzt, dass ihr Schulbezirk ein ­Zufluchtsort für Immigranten und Muslime sein wird. "Wenn Schüler Angst haben, können sie nicht lernen", sagt sie zur ­Begründung. Auch andere Schulen in kalifornischen Städten ­haben sich diesem Schritt bereits angeschlossen.

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Dieser Artikel ist in der Ausgabe Februar 2017 des Amnesty Journals erschienen.

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