Amnesty Journal Belarus 21. Mai 2014

"Es könnte Blut fließen"

Seit zwei Jahrzehnten regiert Alexander Lukaschenko die osteuropäische Republik Belarus (Weißrussland) mit ­eiserner Hand. Der im Exil lebende Journalist Aliaksandr Atroshchankau spricht im Interview über seine Zeit im KGB-Gefängnis, ­seine Angst vor einem Bürgerkrieg und die Gleichgültigkeit des Westens.

Es gibt eine Diktatur im Herzen Europas. Doch die meisten ­Europäer interessiert das kaum. Warum schenkt man Belarus so wenig Aufmerksamkeit?
Diese Frage müssen Sie sich selbst stellen. Vermutlich fühlen sich die meisten Europäer wohl, solange sie einen guten Job haben, shoppen können und einmal im Jahr in den Urlaub fliegen. Wen interessiert da schon die Diktatur in Belarus? Doch die Europäer schaden sich selbst, wenn sie vor Lukaschenkos Regime die Augen verschließen.

Warum?
Schurken wie Gaddafi oder Chavez waren Lukaschenkos Kumpel. Heute ist Syriens Diktator Assad sein Busenfreund. Wer glaubt, dass sich diese Typen darüber austauschen, wie man am besten Tulpen pflanzt, der liegt falsch. Sie diskutieren über Waffengeschäfte, Drogenschmuggel und Menschenhandel.

Ist es möglich, dass sich das Regime von innen modernisiert?
Nein, warum sollte sich das Regime wandeln? Die Machthaber sitzen an den Fleischtöpfen. Und ihre Gedanken kreisen nur darum, wie sie dort bleiben können. Es muss einen radikalen Wandel geben. Ich sage nicht unbedingt, dass Gewalt zum Einsatz kommen muss. Aber dieses Regime muss weg.

Hatte Lukaschenko nicht lange Zeit die Mehrheit des Volkes hinter sich?
Ja, als Lukaschenko im Jahr 1994 zum Präsidenten gewählt wurde, war er in der Tat der Kandidat des Volkes. Offiziell stimmten 80 Prozent für ihn. Doch wer genau hinsah, konnte damals schon erkennen, dass Lukaschenko ein Mann der Vergangenheit war. Er ist mit seiner ganzen Denkweise in der Sow­jet-Ära steckengeblieben. Aber es stimmt: Das Volk unterstützte ihn. Und er nutzte das Vertrauen der Menschen aus, um Schritt für Schritt eine Diktatur zu errichten.

Bevor Sie ins polnische Exil gingen, haben Sie in Ihrer Heimat für einen demokratischen Wandel gekämpft. Was hat Sie in die Politik geführt?
Ich wollte nicht politisch aktiv werden, sondern musste. Die große Politik war mir eigentlich immer suspekt. Aber die Ereignisse ließen mir keine Wahl. Im Jahr 1999 ließ das Regime mehrere Oppositionelle entführen und ermorden. Das war einer der größten Wendepunkte meines Lebens. Plötzlich wurde mir klar: In Belarus ist es unmöglich, politisch neutral zu bleiben.

Es gibt einen zweiten Wendepunkt in Ihrem Leben, nämlich den 19. Dezember 2010. Was geschah an diesem Tag?
Ja, der 19. Dezember 2010 – das war einer der traurigsten Tage in der Geschichte meines Landes. Es war der Tag der Präsidentschaftswahl. Die Gesellschaft war tief gespalten: Lukaschenko hatte noch immer viele Bürger hinter sich. Aber die Zahl der Regimegegner wuchs. Die Herrscherclique reagierte panisch: Das Regime fälschte die Wahlen, knüppelte Demonstranten nieder und nahm die Wortführer der Opposition fest. Sieben der neun Präsidentschaftskandidaten landeten hinter Gittern – bevor überhaupt die Stimmen ausgezählt worden waren.

Sie waren damals Pressesprecher von Andrei Sannikau, dem wichtigsten Oppositionskandidaten. Auch er landete in der Wahlnacht im Gefängnis.
Ja, unser gesamtes Wahlkampfteam wurde festgenommen. Die Polizei warf alle meine Vorgesetzten ins Gefängnis. Ich habe in dieser Nacht eine steile Karriere hingelegt: Am Abend war ich noch ein kleiner Pressesprecher und am nächsten Morgen plötzlich der Chef des Wahlkampfteams.

Wenn auch nur für kurze Zeit …
Ja, es dauerte nicht lange, bis sie auch mich abholten. Ich wollte am Morgen nach der Wahl eilig eine Pressekonferenz organisieren, als Sicherheitskräfte die Tür meiner Wohnung eintraten. Die Beamten fesselten mich, stülpten mir einen Sack über den Kopf und verprügelten mich. Dann verschleppten sie mich in ein Kerkerloch des Geheimdienstes KGB. Drei Monate verbrachte ich dort ohne Kontakt zur Außenwelt.

Wie wurden Sie behandelt?
Wir wurden gefoltert – psychologisch und körperlich. Der KGB hat über Jahrzehnte seine Methoden perfektioniert, um Menschen in den Wahnsinn zu treiben. Sie wollten falsche Geständnisse erpressen und uns dazu nötigen, für den Staatsapparat als Agenten zu arbeiten.

Was warf man Ihnen offiziell vor?
Sie behaupteten, ich hätte Straßenschlachten organisiert, bei denen Schusswaffen zum Einsatz kamen. Das ist natürlich Unsinn. Die Beamten sagten mir: "Wenn du Glück hast, verschwindest du für lange Zeit im Knast. Wenn du Pech hast, ­werden wir dich erschießen!" Nach drei Monaten wurde ich in einem Schauprozess zu vier Jahren Haft verurteilt.

Ein halbes Jahr später entließ man Sie vorzeitig aus dem Gefängnis. Warum?
Weil die internationale Gemeinschaft Druck ausgeübt hatte. Das würde ich gerne auch allen auf den Weg geben, die sich bei Amnesty engagieren: Der Einsatz lohnt sich!

Sie leben nun im Exil in Polen. Warum haben Sie Ihre Heimat verlassen?
Als ich aus dem Gefängnis kam, habe ich mein Land nicht mehr wiedererkannt. Es ist überhaupt kein politisches Enga­gement mehr möglich, jede Opposition wird im Keim erstickt. Eine Situation wie in der Ukraine, wo die Bürger für ihre Rechte auf die Straße gingen, wäre in Belarus unmöglich. In meiner Heimat haben die Menschen schon Angst, festgenommen zu werden, wenn sie in ihrer eigenen Wohnung zu laut über Politik diskutieren. Mein Land ist auf dem Weg zum Totalitarismus.

Wie sollte sich der Westen verhalten? Fordern Sie schärfere Sanktionen gegen Belarus?
Ja, definitiv. Der Westen sollte alles unternehmen, um Lukaschenkos Regime zu schwächen. Nur so kann eine Katastrophe verhindert werden. Ich habe Angst, dass sich in meiner Heimat irgendwann Szenen wie in Syrien abspielen könnten, wo der Bürgerkrieg ein ganzes Land mit Blut überschwemmt. Lukaschenko unterdrückt nicht nur die Opposition, sondern das ganze Volk. Das kann nicht lange gut gehen. Es könnte viel Blut fließen. Dabei ist doch bereits genug Blut geflossen.

Kann es denn überhaupt einen friedlichen Wandel geben? ­Lukaschenko wird wohl kaum freiwillig abtreten.
Nein, aber Lukaschenko ist ja nur der Kopf des Systems. Hinter ihm stehen Oligarchen, die permanent gefüttert werden wollen. Lukaschenko geht allmählich das Geld aus. Wenn er kein Geld mehr hat, werden sich die Oligarchen von ihm abwenden. Und dann bricht die gesamte Maschinerie in sich zusammen.

Was können gewöhnliche Europäer tun, um den Belarussen zu helfen?
Sie können Ihre Politiker zu Rede stellen. Fragen Sie den Parlamentsabgeordneten ihres Wahlkreises, warum Lukaschenko für den Westen akzeptabel ist. Warum kaufen wir sein Erdöl? Warum bezahlen wir seine Polizeikräfte? Warum geben wir einem Diktator Finanzspritzen, damit er weiter an der Macht bleiben kann? Im Westen herrscht Demokratie, und die Politiker müssen sich vor ihren Wählern verantworten.

Fragen: Ramin M. Nowzad

Aliaksandr Atroshchankau
Weil er ein Abzeichen der oppositionellen Jugendorganisation "Subr" trug, wurde er 2001 erstmals festgenommen. Seither kämpft der Journalist Aliaksandr Atroshchankau für einen demokratischen Wandel in seiner Heimat Belarus.

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